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Ich wünschte, ich wüßte mehr von der praktischen Seite der Literatur. Ein Mann von Fach, der bereits sechs oder sieben Bücher geschrieben hat, versteht wahrscheinlich so gut, wie die Sache anzupacken ist, daß er vom ersten Wort an kraftvoll und zuversichtlich drauflos schreibt; bei ihm ist, wie Stevenson, wenn ich nicht irre, irgendwo auseinandersetzt, das Ende des Buches schon im ersten Abschnitt latent enthalten. Ich dagegen bin nun fünf Abschnitte hindurch wie die Katze um den heißen Brei herumgegangen, habe Anmerkungen zu verschiedenen Fragen gemacht, die ich später eingehender behandeln werde müssen; ob ich aber überhaupt schon irgend etwas über meine Welt gesagt habe, ist mir zweifelhaft. Ich habe anstatt dessen von meiner Kindheit erzählt und eine Charakterskizze meines Gastgebers entworfen. Ich gleiche einem, der, bevor er richtig zu schreiben anfängt, sein Löschpapier bekritzelt. Oder ich trete – unangenehmer Gedanke! – bereits in die geschwätzige Lebensphase ein.

Ich will das heute vormittag Geschriebene und die Schilderung Sir Ruperts jedenfalls aufbewahren, nunmehr aber einen neuen Anfang versuchen. Vielleicht ist es am gescheitesten, wenn ich geradewegs auf den Kern der Sache losgehe. Allerdings mag das sowohl für den Schreiber, als auch für den Leser zunächst einige Mühe bedeuten. Wie fasse ich, ganz allgemein gesagt, das Leben auf?

Metaphysisch bin ich niemals sehr weit über Schopenhauers Satz: ›Die Welt als Wille und Vorstellung‹ hinausgelangt. Das Leben bedeutet mir, gleich ihm, zumindest als er jenen Titel schrieb, ein Spektakel, eine Schaustellung, die ich durchwandere.

Liegt dem Schauspiel ein Plan zugrunde? Ist es ein Drama, das sich durch bunte Mannigfaltigkeit hindurch einem bestimmten Ende zu oder wenigstens in einer bestimmten Richtung bewegt? Auf diese Frage haben die verschiedenen Religionen, jede auf ihre Art, Antwort gegeben, und ich will sogleich feststellen, daß mich keine dieser Antworten befriedigt hat. Trotzdem enthält jede von ihnen, meinem Empfinden nach, eine halbe Wahrheit. Entweder ist dies Ganze zu kompliziert, als daß ich irgend einen Plan darin zu sehen oder denjenigen, auf welchen die Lehrer der Menschheit hinweisen, zu erkennen vermöchte; oder es ist überhaupt kein Plan vorhanden.

Ich gebe zu, daß die Szenerie überwältigenden Glanz und wunderbare Schönheit aufzuweisen hat und wohl zu entzücken vermag. Die Lichtwirkungen sind herrlich. Seit mehr als fünfzig Jahren blättere ich nun im Buche der Sonnenuntergänge und bin seiner noch niemals müde geworden. Beschaffenheit und Art der Kostüme, sowie auch Feinheit, Reiz und Humor in der Besetzung sind oft erstaunlich. Ich habe vielleicht allzu große Freude an der Lieblichkeit der Körper, in die wir gekleidet sind. Einen Plan aber, der dieses riesenhafte Schauspiel in einem einheitlichen System zusammenfaßte, kann ich nicht entdecken. Mein Geist sucht ihn und braucht ihn; doch trotz allen Suchens bleibt das Spiel zusammenhanglos.

Es gleicht den aus allen möglichen witzigen Szenen zusammengestoppelten Prunkaufführungen, die viele Theater heute darbieten und die man Revuen nennt. Manche der Bilder sowie manche der Spieler sind von greulicher Langweile, der Witz ist oft roh und gemein, mitunter nimmt das Ganze eine Wendung, die einen fast aus der Haut fahren läßt, häßliche und widerwärtige Erscheinungen betreten die Bühne, verderben einen ganzen Akt und wollen trotz deutlich kundgegebener Mißbilligung nicht wieder abgehen. Und ich befinde mich gleich einem Edelmann des Elisabethinischen Zeitalters nicht im Zuschauerraum, sondern auf der Bühne selbst; immer wieder wird der Stuhl, auf dem ich sitze, umgestoßen, ich habe auf ein unerwartetes Stichwort zu erwidern, muß mir einen Ruck geben und eine Rolle improvisieren. Und einerlei, ob ich mich passiv oder aktiv verhalte, stets befinde ich mich im Mittelpunkt des Schauspiels, dem ich beiwohne.

Die Werte in dem Spiel, die wechselnde Bedeutung und Qualität der Personen und Geschehnisse auf der Szene werden meiner Meinung nach von dreierlei Gruppen von Dingen bestimmt. Da ist erstens einmal das, wovon wir uns nähren – unsere Diät könnte man's nennen –; ich meine damit nicht nur Speise und Trank, sondern überhaupt alles das, was wir unserer Person einverleiben, was wir in genügendem oder ungenügendem Maße aufnehmen können, also etwa frische Luft oder neue Ideen. An zweiter Stelle stehen Infektionen und Schädigungen körperlicher und geistiger Natur und ihre fieberische und quälende Reizwirkung. Die dritte Gruppe ließe sich mit dem Worte Bestrahlung bezeichnen und umfaßt die Erscheinungen der Witterung, Hitze, Kälte, ferner Schall und Licht und die feineren, zauberhaften Rhythmen der Farbe und der Harmonie, die, durch Augen, Ohren und Körpersubstanz dringend, mich erheben oder niederdrücken. Diese drei Gruppen von Dingen geben meinem Leben seinen jeweiligen Charakter, sie bestimmen, ob der Grundzug meiner Rolle heftiges Begehren oder tapferer Widerstand, frohe Zuversicht, Zorn, Ruhe oder Verzweiflung ist. Und sie bestimmen überdies, ob sich die Note meines Wesens stark oder schwach, konzentriert oder zerstreut zeigt. Es scheint nichts oder nur sehr wenig in mir zu sein, was diesen Einflüssen entgegenzuwirken vermöchte. Doch offenbart sich durch all die von ihnen geschaffenen Phasen hindurch mehr oder minder stark ein zuweilen bis zu Angriffslust gesteigerter Drang nach Selbstbehauptung, dem mein armer Menschenverstand in dem Bemühen, die Dinge zu vereinfachen und gleichzeitig zu vervollständigen, Einheitlichkeit und Kontinuität unterschiebt. Das ist das Ich.

Dieser Drang ist im weiteren Sinne des Wortes sexuell: in jenem weiten Sinne der neuen Psychologie nämlich, die den Sexualtrieb mit dem Rassentrieb fast gleichstellt. Dieser Drang ist das, was Shaw ›Lebenskraft‹ und Schopenhauer ›Willen zum Leben‹ nennt. Doch konzentriert er sich um meinen Egoismus und ist von der allgemeinen Lebenskraft der Welt losgelöst. Er ist vielgestaltig; er richtet sich auf gegenwärtige und künftige Dinge, die außerhalb meiner Person liegen, er strebt nach Ausdruck, Anerkennung und Widerhall. Gelegentlich wird er in unverhüllter Deutlichkeit zu einem Schrei nach dem Weibe. Doch ist er nicht gewillt – ich spreche nur von meiner Person –, sich für längere Zeit auf eine bestimmte Frau allein zu konzentrieren. Selbst wenn der Drang – wie dies das eine oder andere Mal in meinem Leben geschehen ist – tief, engbegrenzt, unmittelbar und leidenschaftlich auf eine bestimmte Frau gerichtet war, zeigte mein Verstand die Neigung, Verallgemeinerungen zu machen, die die Intensität des Gefühles erweiterten und milderten. In jener Kraft entstand gewissermaßen die ausgleichende Tendenz, weiterreichende Verpflichtungen anzuerkennen und diese mit dem allzu engbegrenzten, intensiven Trieb zu vereinen. Diese Erweiterung hat mit den Jahren zugenommen; das Sexuelle ist zu einem allgemein Menschlichen geworden, und der Wille, mir selbst zu leben, immer mehr zu einem Willen, dem Leben zu leben.

Auf solche Weise kommt die Rolle zustande, die ich in der riesenhaften, bald erschrecklichen, bald entzückenden und erregenden, oft aber sehr mittelmäßigen oder belanglosen Revue des Daseins spiele. Dies ist die persönliche Analyse meines Lebens. Dies sind die Fäden des Gewebes, die Elemente meiner Stunden.


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