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Drittes Buch.
Die Geschichte der Clissolds.
Das Wesen Dickons

1

Mein Bruder Dickon war meinem Vater äußerlich sehr ähnlich, doch hatte er einen stärkeren Charakter. Seine Phantasie war ebenso kühn, seine Selbstbeherrschung aber größer. Wir beide waren in höherem Maße rechtschaffen; unser Gewissen war wachsamer, das Gefühl für eingegangene Verpflichtungen war lebendiger in uns und ließ uns nicht leicht los. Die Biederkeit eines Ahnen muß in meinem Vater geschlummert haben. Wir schlugen beide hauptsächlich dem Vater nach, physisch aber glich Dickon ihm mehr als ich. Er war der hübschere von uns beiden, hatte unseres Vaters rötliches Haar und kraftvollen Körperbau; bei mir hingegen hatte sich der dunklere Typus unserer Mutter mit der Clissold'schen Blondheit vermengt.

Dickon bekannte sich, wie schon erzählt, zum Individualismus, doch ist er stets ein sehr geselliger Individualist gewesen; ich war von allem Anfang an ein ungeselliger Sozialist, geneigt, allein oder mit nur einem Gefährten zu gehen. Clara sagte einmal, daß Dickon etwas von einem Hunde, ich hingegen etwas Katzenhaftes hätte, und ich glaube, daß damit ein wesentlicher Unterschied zwischen uns recht gut zum Ausdrucke kommt. Dickons rosige Haut wird beim kleinsten Sonnenstrahl sommersprossig, und er hat Vaters vollblütige Kraft zu ansehnlicher Körperfülle entwickelt. Er ist heute noch ein schöner, stattlicher Mann.

Im vorigen Buche habe ich den Bericht über Dickon und mich bis in die späten Achtzigerjahre hinein geführt, die Zeit, da wir auf sehr ungleiche Art in den Kensington Schools studierten und unseren Angriff auf die Welt erwogen. Dann wandte ich mich Marx und der Wirtschaftsgeschichte der Welt zu. Ich verließ Dickon mit unbestimmten Zielen.

Er blieb nicht mehr lange im Zweifel darüber, was er beginnen sollte. Eines Abends saßen wir in einer Ausstellung, ›Inventions Exhibition‹ genannt, beobachteten die Menge der Vorübergehenden und lauschten einer Musikkapelle, die im Scheine feenhafter Lichtguirlanden spielte – die Lichter waren kleine Öllämpchen, und auf dem Rasenplatze uns gegenüber flackerten ihrer noch mehr, blaue, rote und orangefarbene. Da erfuhr ich, daß Dickon ein bestimmtes Ziel gefunden hatte. Was er mir darlegte, sollte der Feldzugsplan seines Lebens werden, doch glaube ich, daß er selbst sich erst an jenem Tage, wenige Stunden vor unserem Gespräch darüber klar geworden war.

Jene ›Inventions Exhibition‹, das heißt Ausstellung der Erfindungen, gehörte in eine Reihe regelmäßig stattfindender Ausstellungen. Es gab alljährlich Ausstellungen für Gesundheitspflege, Fischerei und anderes mehr, die allesamt auf einer großen Fläche unbebauten Landes in South Kensington abgehalten wurden. Heute wird der größte Teil dieses Geländes von dem ›Imperial Institute‹, dem ›Kensington Museum‹ und Gebäuden eingenommen, die zur Londoner Universität gehören, in jenen Tagen aber erstreckten sich die erwähnten Ausstellungen von der Exhibition Road bis zur ›Albert Hall‹, welche, gewissermaßen in das Schaugepränge miteinbezogen, dessen Abschluß bildete. Das ganze Gelände, wohl gesäubert und mit Beeten von Geranien und Kalzeolarien bepflanzt, wurde abends illuminiert. Eine Reihe schöner Sommernächte hatte die ›Inventions Exhibition‹ begünstigt.

Es wäre interessant, heute die Pläne und Kataloge jener Ausstellung von Erfindungen durchzusehen – wahrscheinlich ist kaum ein Exemplar mehr erhalten. Weder das Zweirad noch das Automobil waren damals aufgetaucht; die Gaslampe behauptete sich noch hoffnungsvoll gegen die gefährliche Unzuverlässigkeit des elektrischen Lichtes, und Grammophone, Kinos und drahtlose Telegraphie hatten eben erst im Schoße der Zeit zu keimen begonnen. Die Keime waren da, doch noch nicht so weit gediehen, daß sie in einer Ausstellung hätten gezeigt werden können. Große Anziehungskraft besaßen einige Omnibusse, die durch komprimierte Luft getrieben wurden und in einem umfriedeten Raume schwerfällig umherrollten. Sie waren die einzigen Vorboten des Automobils in der Ausstellung. Ich erinnere mich, daß Dickon im Laufe unserer Besichtigung Zweifel äußerte, ob elektrische Zugkraft jemals mehr als eine wissenschaftliche Spielerei sein würde. Es könnte schon etwas daraus werden, meinte er, doch würde sich die Sache wohl niemals rentieren.

Gleichwohl hatte, was zu sehen war, unsere Phantasie beträchtlich angeregt, und als wir am Abend nach einem bescheidenen Essen dem Spiele der Musikkapelle lauschten, waren wir beide viel geneigter denn am frühen Nachmittage, als wir uns durch die Drehkreuze gedrängt hatten, an große Veränderungen während unserer Lebzeiten zu glauben. Unser Gespräch stockte; wir rauchten ungewohnte Zigaretten, die Dickon mit Hilfe einer kleinen Maschine für die besondere Gelegenheit verfertigt hatte.

»Es hat keinen Zweck, Dinge zu erfinden, wenn man die Leute nicht dazu bringt, davon Gebrauch zu machen«, sagte Dickon aus tiefem Nachdenken emportauchend.

»Nein«, sagte ich, nicht ahnend, worauf er abzielte.

»In keiner Sache steckt Geld, solange man den Leuten nicht davon erzählt hat.«

»Vom Geld?«

»Nein,« kam es verächtlich, »von der Sache.«

Ich merkte, daß er sein Lieblingsthema »Wie kommt man zu Geld?« angeschlagen hatte. »Gewiß, die neuen Dinge müssen Absatz finden«, sagte ich.

»Stimmt. Man muß den Leuten klar machen, daß sie sie benötigen.«

Eine Pause.

»Reklame«, sagte Dickon. »Die Reklame steckt noch in den Kinderschuhen. Billy! – es ist mir klar. So werde ich zu Geld kommen. Durch Reklamemachen.«

In der Ferne spielte die Musikkapelle eben eine Walzermelodie; ihr Rhythmus klingt mir noch im Ohr: Tra-la-la la tam, tam, tam tam. Tra-la-la la tam tam, tam tam. Tra-la-la la tam tam, tam tam. Tra-la-la la tam tam, tam tam. Will da meine Phantasie eine Lücke ausfüllen oder waren es wirklich die ›Donauwellen‹? Die Spaziergänger gingen im Takte an uns vorüber, geheimnisvoll anzusehen, denn die feenhafte Beleuchtung ließ ihre Gesichter nicht klar erkennen.

Mit sachlichem Ernst begann die Stimme an meiner Seite die unklare und häßliche Reklame der damaligen Zeit zu schildern und auf ihre Mängel und Entwicklungsmöglichkeiten hinzuweisen. Nun verstand ich, warum mein Bruder den ganzen Nachmittag hindurch so schweigsam und in Gedanken verloren gewesen war. Er hatte alle Ankündigungen, die es in der Ausstellung gab, gelesen, über sie nachgedacht und erkannt, wie wenig mannigfach, wie roh und schablonenhaft sie waren und wie schlecht sie dazu taugten, den Verkauf neuer Erfindungen zu fördern. Der Gedanke an unausgenützte Möglichkeiten in greifbarer Nähe hatte ihn zuerst verstummen gemacht, nun trieb er ihn zum Sprechen. Er begann von Reklame zu reden, und wenn ich mich recht erinnere, redete er die folgenden Wochen und Monate unaufhörlich davon.

An jenem Abend hielt er mir einen Vortrag darüber, wie die damaligen Annoncen waren und wie sie hätten sein sollen. Er sprach mit der einem älteren Bruder geziemenden Bestimmtheit und im Tonfall eines Verweises, als wäre ich irgendwie an den Unterlassungssünden der Geschäftswelt mitschuldig. Ich sagte wenig, und was ich äußerte, wurde abgelehnt oder verachtungsvoll niedergeredet. Ich suchte, so gut ich konnte, nach Entschuldigungen für rückständige und ungeschickte Inserenten und wurde ob ihrer Fehler tüchtig gescholten.

Ich kann mich kaum mehr an den eigentlichen Inhalt, wohl aber an den Ton seines Redestroms erinnern. Nach einer Weile erhoben wir uns von unseren Sitzen und schlenderten umher, indes Dickon immer noch Für und Wider erwog; wir schritten durch die mehr oder weniger verlassenen Ausstellungspavillons; er hielt mich unbarmherzig vor wortlos ausgestellten Gegenständen fest und legte mir dar, wie wenig nachhaltig der Eindruck sein werde, den sie erweckt hatten. Er fand kein Ende, sondern redete immer noch, während wir nach Schluß der Ausstellung inmitten anderer verspäteter Besucher durch einen mit Ziegeln gepflasterten Tunnel, in dem unsere Schritte widerhallten, der Stadtbahnstation zustrebten.

»Schau dir das Zeug an!« schrie er immer wieder. »Schau dir dieses blödsinnige Zeug an! Was nützt es, so etwas herzukleben?«

Ich entsinne mich deutlich meines gequälten Protestes: »Zum Teufel! Ich habe es nicht hergeklebt!«

Das machte ihm aber nicht den geringsten Eindruck.

Daheim blieb er trotz des beginnenden Morgengrauens aufrecht im Bette sitzen. »Reklame, Billy«, sagte er. »Reklame! Mag die Montanakademie zugrunde gehen, niederbrennen, zusammenstürzen wie die Mauern von Jericho. Billy, ich höre es ordentlich, wie mich die leeren Planken rufen, die Zeitschriften nach mir stöhnen, und ich komme. Ich komme.«

»Hör endlich auf, Dickon! Gute Nacht!« sagte ich und zog die Bettdecke über die Ohren.

Er gab das Studium an der Montanakademie in kürzester Frist auf, beendete nicht einmal das Semester; und einige Wochen hindurch teilte er seine Tage ziemlich gleichmäßig zwischen ein intensives Studium der Methoden des Reklamewesens und Spaziergänge durch Kensington Gardens, während welcher er über den Gang seiner Aktion brütete. Dann unternahm er den ersten entscheidenden Schritt: nach sorgfältiger Prüfung des in Rede stehenden Spezialgebietes begab er sich zu einer Uhrmacher-Firma in Cornhill und setzte den Inhabern auseinander, daß sie sowohl in West-end als auch in verschiedenen äußeren Bezirken, unter den Angestellten der City und in East-end lange nicht genug verkauften, und was seiner Meinung nach unternommen werden könnte, um den Absatz zu heben. Er hatte Skizzen sämtlicher Annoncen der Firma mitgebracht und wies sehr höflich und deutlich darauf hin, wie schablonenhaft ihr Text und wie mechanisch ihre Verteilung sei. Er überzeugte seine Hörer davon, daß einerseits Annoncen nutzlos verschwendet, weil von niemandem beachtet werden, und andererseits leere Flächen ungenützt blieben; und schließlich wurde ihm gestattet, einen Plan für ein besser durchdachtes Verfahren zu entwerfen. Bis dahin hatte die Firma sozusagen automatisch Reklame gemacht. Dickons Entwurf wurde angenommen und hatte Erfolg, und sein Lebensweg lag frei vor ihm.


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