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›Wunderbar‹ ist das richtige Wort für Sir Rupert. Er wird bald achtzig und sein Geist ist so frisch wie eh' und je. Er spricht und bewegt sich langsam, sagt, daß er angestrengter Arbeit nicht mehr fähig sei und leicht ermüde, aber er folgt jedem Gespräch mit unverminderter Auffassungskraft und äußert seine Gedanken offen und klar. Auf seinem Schreibtische befanden sich Zeichnungen, Photographien und ein Gipsabguß eines Gorillafußes; irgend ein Amerikaner hatte verkehrtes Zeug darüber veröffentlicht, welche Rolle die große Zehe, das heißt der Daumen am Fuße des Affen beim Gehen spiele, und Sir Rupert hatte ihn geduldig, ohne Hast und gründlich widerlegt. Nun erforscht er bedächtig, wie eine besondere Art von Werkzeug mit spitz zulaufendem Ende in der Steinzeit verwendet worden ist; in seinem Zimmer lagen zahlreiche Proben davon umher.

Er sieht besser aus als vor zwei Jahren, da ich ihm das letzte Mal begegnete. Damals schien er mir sehr abgemagert, sein Gesicht war runzelig geworden und zeigte die Blässe des Alters; dieses Mal war ich entweder auf seine veränderte Erscheinung vorbereitet, oder er hat an Farbe und Körperfülle gewonnen. Er verzehrte ein tüchtiges Mittagbrot; er nährt sich durchaus noch nicht ausschließlich von leicht verdaulichem Brei und begleitete mich trotz des nassen Wetters ohne Mantel vor die Haustür, um mir freundlich lächelnd nachzuwinken.

Fröhliche Kraft und eine feine Vornehmheit zeichnen ihn aus. Der Besuch bei ihm war mir ein Trost, denn er zumindest ist trotz des Alters keine armselige Gestalt in Filzpantoffeln, erfüllt von Egoismus und Neid auf die Jugend.

Ich erzählte ihm von dem Buche, das ich schreiben will, und er gestand mir, daß er sich einst mit ähnlichen Plänen getragen habe. Es wurde nichts aus ihnen, weil schnabel- und kielförmige Steinwerkzeuge und ähnliche Rätsel ihn mehr interessieren als seine eigene Person. Es ist merkwürdig, wie völlig anders als ich er sich zu einer Autobiographie stellt. Er hat gar keinen Sinn für Metaphysik; er zweifelt nicht an der Realität unserer Welt, dieser Welt der Zeit und des Raumes, und befaßt sich weder mit Grübeleien über seine Identität noch mit der Betrachtung irgend eines außerhalb des Bereiches der Wissenschaft gelegenen Systems; sogar für die neuesten Analysen der modernen Physik hat er nur Geringschätzung übrig. Die Geschichte, die er schreiben wollte, wäre ein Tatsachenbericht geworden; sie hätte einen kräftigen Knaben geschildert, der erfüllt war von sachlicher Wißbegier und fasziniert von der Entdeckung seltsamer Säugetierknochen, und hätte berichtet, wie dieser Junge, von emsigem Sammeln ausgehend, sich dem systematischen Studium der Geologie und Morphologie widmete und schließlich als ein tüchtiger Forscher die ganze Kraft seiner Mannesjahre darauf verwandte, Material zu sammeln, Schlüsse zu ziehen, Tatsachen festzustellen und falsche Behauptungen zu widerlegen. Ich habe vor Jahren mit Sir Rupert gemeinsam am Probleme der Knochen- und Feuersteinfraktur gearbeitet und empfinde seither große Zuneigung für ihn; er erbat damals bei der optischen Untersuchung des Feuersteines unter Druck meine Mithilfe; und er erscheint mir bis auf den heutigen Tag in vielerlei Hinsicht als der größte Wissenschaftler, dem ich jemals begegnet bin, der größte und dabei schlichteste. Er ist so einfach in seinem Wesen wie irgend ein schönes Tier, das unter günstigen Bedingungen zu voller Entwicklung gelangt ist.

Meine eigene wissenschaftliche Arbeit ist mir ein Maß für die seine. Neben ihm fühle ich mich nur als Ausflügler in die Welt der Wissenschaft, in der er als Fürst wohnt. Ich bin nicht – und war niemals – einfach wie er. Gleich ihm wurde auch ich im Knabenalter von staunender Wißbegier erfaßt. Doch reizten nicht so sehr die Fossilien meine Einbildungskraft, als vielmehr das Rätsel der doppelten Brechung und die damals noch geltende Ansicht von den ›Formen‹ der Atome und Moleküle. Ich habe ganz anständige Arbeit geleistet. Andere sind den Weg, den ich erschloß, weitergegangen; es war ein guter Weg. Ich aber war nicht mit ganzem Herzen bei der Sache. Und schließlich habe ich die Wissenschaft völlig aufgegeben, wie ich noch näher auseinanderzusetzen haben werde. Heute bin ich Industrieller und gelte als reicher Mann. Ich bin einer der aktiven Direktoren der Firma Romer, Steinhart, Crest & Co. und überdies an den meisten ihr angegliederten Unternehmungen beteiligt. Ich habe eine beträchtliche Anzahl von Patenten inne und ziehe Nutzen aus Geheimverfahren, die ich als eine Schädigung der Wissenschaft erkennen muß. Das Wesen der Wissenschaft ist offene Darlegung. Während des Krieges war ich ein sogenannter Sachverständiger und nachher beging ich die Dummheit, in der Politik herumzustümpern. Ich bildete mir ein, es müsse nun ein neues und größeres Zeitalter anbrechen; ich hielt den Krieg für einen Lehrer der Menschheit. Das ist er wohl auch, aber die Lehren, die er erteilt hat, werden nur sehr langsam verdaut. Ich habe in dem Bemühen, meine Auffassung davon auszudrücken und zu verwirklichen, allerlei Experimente in dieser und jener Richtung gemacht. Den Frauen habe ich beträchtlichen Einfluß auf mein Leben eingeräumt. Ich war von heftigem Verlangen nach Besitz, Unabhängigkeit und Macht erfüllt, und nach allerlei Erlebnissen, die ich wohl besser vermieden hätte. Sir Rupert hingegen fuhr in größter Bescheidenheit und Hingabe fort, der Wahrheit durch jene Arbeit zu dienen, zu der er sich berufen fühlte.

Ich glaube nicht, daß es in seinem Leben jemals große innere Konflikte gegeben hat. Ganz früh und ohne irgend welchen Vorbehalt beschloß er, sich der Naturwissenschaft zu widmen. Diesem Entschlusse mußte sich alles andere anpassen. Äußere Umstände ebneten ihm den Weg; Professor Huxley war ein oft gesehener Gast in seinem Elternhause und Charles Darwin kannte und liebte den Knaben. Naturforscher zu werden, bedeutete damals ein gewagtes Abenteuer; die Wissenschaft hatte Tradition und Dogma angegriffen, und der Kampf, der sich daraufhin in den Gemütern der Menschen entspann, war dramatisch bewegt. Heute genießen wir die Freiheit des Denkens, die damals erobert wurde. Er heiratete nicht, und wenn er auch, wie ich vermute, keinen übermäßig keuschen Lebenswandel geführt hat, so bin ich doch überzeugt, daß jenes Gemisch von sexuellem Verlangen und Sehnsucht nach einer geliebten Gefährtin, das mir so viele Nöte bereitete, für ihn nur wenig bedeutet hat. Noch hat sich jemals, über die aufrechte und unentwegte Hingabe an das ihm angeborene Wahrheitsgefühl hinaus, irgend ein religiöser Trieb in ihm entfaltet. In aller Aufrichtigkeit machte er sich an die Arbeit, die vor ihm lag, und lebte dabei behaglich und glücklich und ohne im geringsten das Gefühl zu haben, daß er ein Opfer bringe. Und er hat Prächtiges geleistet, hat ein tüchtiges und umfassendes Stück Arbeit getan, und diese Arbeit hat sich stets strenge innerhalb der Grenzen einer klaren Erkenntnis der Dinge gehalten. Er weiß das Problem so gut zu stellen, weil ihm die Lösung alles gilt. Ehe ich heute zu ihm ging, hatte ich, seine Wesensart für den Augenblick außer acht lassend, daran gedacht, ihm meine Ansicht von der nur bedingten Realität des Lebens darzulegen, um sie mit ihm zu diskutieren. Doch könnte man solch einen Gedankenaustausch ebenso gut mit einem nachdenklichen Löwen im Tiergarten pflegen.

Wir sprachen von dem und jenem, und zwischendurch kam er immer wieder auf seinen amerikanischen Professor zu reden. »Wissen Sie,« hob er an, sobald sich eine Pause in unserem Gespräch ergab, »wenn einer, um einen Streit herbeizuführen, die Photographie absichtlich zu fälschen bemüht gewesen wäre, dann hätte er bei der Aufnahme des Fußes nicht besser zu Werke gehen können als der Bursche. Wenn er nämlich die Photographie überhaupt gemacht hat. Was ich bezweifle. Er spricht sich darüber nicht aus. Der Fall kann auch ganz anders liegen. Möglicherweise hat er die Photographie irgendwo gesehen und bei ihrer Betrachtung eine falsche Vorstellung gewonnen. Das wäre dann nicht so schlimm. In diesem Falle wäre er nur unüberlegt und eigensinnig. Er wollte gern eine originelle Ansicht entwickeln, und die Photographie schien geeignet, sie plausibel zu machen. Während der Abguß, den ich hier habe, dem Fuße eines lebenden Gorillas abgenommen ist, hält sich seine Skizze an eine Photographie zweifelhaften Ursprungs, an die Photographie eines Fußes, der meiner Ansicht nach in das Reich der Phantasie gehört ... Sonderbar ... Und dabei legt er einen verwunderlichen Übereifer an den Tag ...«

»Diese Amerikaner lassen die Zeitungen zu nahe an sich herankommen. Der Geist der Überschriften fährt in sie. Sie möchten in aller Eile erstaunliche Entdeckungen machen, bemerkenswerte Neuerer werden ...«

»Das geht aber nicht ...«

»Ich fürchte, die Verhältnisse da drüben sind recht übel. Es ist mir nicht ganz klar, in welchem Milieu der Biologe einer amerikanischen Universität zum Beispiel arbeitet. Die Leute scheinen mir unruhigen Geistes und dabei unglaublich abhängig vom Urteil der Allgemeinheit. Diese Amerikaner – –«

Sir Rupert machte eine Pause, und der Ausdruck seines Gesichtes wurde sehr ernst. » Diese Amerikaner bedienen sich der Interviewers, um der Welt das Ergebnis ihrer Arbeit mitzuteilen!« sagte er. »Der Interviewer spricht an ihrer statt zur Öffentlichkeit, das Zeug, das so ein Zeitungskerl schreibt, ist ihnen wichtig. Sie haben offenbar kein Gefühl für exakte Feststellung ... Jener Professor will Einzelheiten, die gegen ihn sprechen, nicht zugeben. Er scheint sich davor zu fürchten ... Als ob er dabei etwas verlieren könnte ...«

»Und trotzdem, müssen Sie wissen, sind diese Leute sehr voreilig, wenn es gilt, jemanden anzugreifen ...«

»Nun ja, er hat, was geschehen ist, sich selbst zuzuschreiben.«

Er dachte eine Weile nach, tätschelte den Gipsabdruck, der neben ihm auf dem Tische stand, und betrachtete ihn mit wohlwollendem Ausdruck. Er hatte ihn aus dem Studierzimmer ins Eßzimmer mitgenommen. Er besitzt nämlich die reizende Gewohnheit, die Werkzeuge und Knochen, die ihn gerade besonders interessieren, dauernd mit sich herumzutragen. Einmal soll er einen polierten Rhinozeros-Knochen, von dem er sich nicht trennen konnte, in eine große Abendgesellschaft mitgebracht und neben seinen Teller gelegt haben, ganz wie ein Kind, das irgend ein besonders geliebtes, neues Spielzeug unbedingt bei den Mahlzeiten auf dem Eßtisch liegen haben muß.

Schließlich riß er sich von dem Gipsabguß los und gedachte seiner Pflichten als Gastgeber.

»Schmeckt Ihnen dieser Château Margaux? 1917. Ein gutes Jahr das, 1917.«


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