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Im Laufe der letzten drei Jahrzehnte hat sich der Umfang wirtschaftlicher Unternehmungen und Vorgänge wesentlich erweitert. Diese Veränderung ist eine der markantesten Erscheinungen im Bild der Geschichte. Sie hat eine neue Phase der menschlichen Erfahrung eingeleitet. Es ist, als ob inmitten der gewohnten Folge von Tag und Nacht ein erstaunliches, neues Gestirn zu leuchten begonnen hätte, dessen ungewohntes Licht alle sichtbaren Werte verändert, eingebildete Schatten verscheucht und Dinge geoffenbart hat, die bisher unbekannt geblieben waren. Dieser Veränderung scheint keine einfache Ursache zu Grunde zu liegen. Sie dürfte durch ein fast zufälliges Zusammentreffen günstiger Bedingungen herbeigeführt worden sein.

Triebkräfte, welche zu klassifizieren oder abzuschätzen ich nicht versuchen will, ließen den Handel und das Geschäftsleben Europas im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert einen kräftigeren Aufschwung nehmen. Schiffe stachen mit ungewohnter Kühnheit in die See, um Kontinente zu umsegeln und fremde Meere zu durchqueren, aus Amerika strömten große Mengen Silbers herbei, die Städte wuchsen rasch. Zudem setzte eine geistige Befreiung ein; die wiederentdeckte griechische Literatur löste die Fesseln der lange unterdrückten Phantasie des Menschen; die Buchdruckerkunst erleichterte und verallgemeinerte das Lesen; wie weit aber diese geistige Belebung die wirtschaftliche Entwicklung beeinflußte, läßt sich nicht feststellen. Das achtzehnte Jahrhundert setzte die expansive Bewegung fort; auf finanziellem Gebiete wurden Experimente gemacht und Neuerungen versucht; eine Flut von Erfindungen brach herein; die Kohle kam für metallurgische Zwecke in Gebrauch, was zu einer Verwendung von Eisen und Stahl in größerem Maßstabe führte; die dadurch möglich gewordenen Maschinen eröffneten der organisierten Produktion neue Wege, und der Verkehr begann in erstaunlichem Maße an Umfang und Schnelligkeit zuzunehmen, ein Fortschritt, der noch im Wachsen begriffen ist.

Die meisten dieser Neuerungen scheinen mir voneinander unabhängig zu sein. Je tiefer man in ihre Geschichte Einblick nimmt, desto geringer erscheint ihr Zusammenhang und desto weniger ist man geneigt, einfache Erklärungen für sie gelten zu lassen. Es wird zum Beispiel gewöhnlich angenommen, die Dampfmaschine, die auf den Transport und die Entwicklung der Massenproduktion einen so riesenhaften und vielfältigen Einfluß genommen hat, sei ein Produkt des wissenschaftlichen Aufschwungs. Ist sie das aber wirklich? Waren die Entdecker und Verwerter der Dampfkraft – Watt zum Beispiel, der den tanzenden Kesseldeckel beobachtete – Männer der Wissenschaft? Wurden sie von der Wissenschaft ihrer Zeit wesentlich beeinflußt? Haben sie Bacon oder der ›Royal Society‹ viel zu verdanken? Und um von einem späteren Falle zu sprechen: war der Aeroplan eine wissenschaftliche Erfindung? War er nicht vielmehr die Schöpfung einiger abseitsstehender Sonderlinge, die den Hypothesen der Mathematiker über die Eigenschaften der Luft mißtrauten und auf eigene Faust experimentierten?

Niemand kann die wirklichen Triumphe der Wissenschaft leugnen. Unbestreitbar ist die Anwendung der Elektrizität aus der wissenschaftlichen Forschung hervorgegangen, ebenso die meisten Neuerrungenschaften in der Medizin, der Metallurgie und der Chemie. Doch ist es bemerkenswert, daß der experimentierende, Neuerungen schaffende Geist der letzten drei Jahrhunderte auch außerhalb der eigentlichen Wissenschaft am Werke war, und daß der Mann der Wissenschaft, historisch betrachtet, bald auf diesem, bald auf jenem Gebiete schöpferischer Erkenntnis fortsetzend, verarbeitend, ordnend und organisatorisch gewirkt, den Anfangsuntersuchungen aber ferngestanden hat. In den letzten drei Jahrhunderten sind Erfindungen und neue Ideen rascher und üppiger emporgesprossen als Blumen im Frühling, der Wissenschaftler hat sie wohl geerntet, nicht aber in der Regel gesät. In der Psychologie beginnt er sich erst jetzt des Stoffes wirklich zu bemächtigen, und ob er auf dem Gebiete sozialer und wirtschaftlicher Beziehungen, sowie auf dem des Rechtes sich zu betätigen überhaupt schon angefangen hat, ist mir zweifelhaft. Trotzdem sind hier Wandlungen und Fortschritte zu verzeichnen, die sich mit denen der Naturwissenschaft messen können.

Wenn auch die Expansionskräfte, die das Leben des Menschen während der letzten zwei oder drei Jahrhunderte auszeichnen, meiner Meinung nach in ihrem Ursprunge vielfältig sind und jeder zusammenfassenden Erklärung trotzen, will es mir gleichwohl scheinen, daß man bei Betrachtung jenes ganzen Zeitraums doch zwei Verallgemeinerungen machen darf. Erstens: immer neue, immer wachsende Größenordnungen zeigen sich auf allen Gebieten menschlicher Tätigkeit. Mit einemmal ist die Welt verhältnismäßig viel kleiner geworden. Der Mensch hat neue Macht über die Materie errungen. Er hat riesenhafte Mengen zu handhaben gelernt und Methoden der Warenerzeugung im großen ersonnen, von denen er sich noch vor kurzem nichts hätte träumen lassen. Dies ist das eine. Und das zweite: Der Mensch beherrscht heute die Verwertung der Brennstoffe, des Windes und des Wassers zur Krafterzeugung so weit, daß ein gut Teil der Schwerarbeit, die seit dem Beginne der Zivilisation auf unwilligen Schultern gelastet hat, der Menschheit nunmehr abgenommen werden kann. Das menschliche Zusammenleben muß nicht mehr notwendigerweise vorwiegend ein verwickeltes Spiel der ›Arbeitsabwälzung auf andere‹ sein. Ich glaube, die wesentlichsten Erscheinungen der gegenwärtigen Entwicklungsphase der Gesellschaft sind dem verworrenen und meist selbstsüchtigen Streben der Menschen zuzuschreiben, sich jenen neuen Bedingungen anzupassen, deren wahre Natur sie aber noch nicht klar erkannt haben.

Dieser Wandel im wirtschaftlichen Leben samt den Störungen, die er verursachte, und den Möglichkeiten, die er bot, hob schon im achtzehnten Jahrhundert an; doch erst zur Zeit, da mein Vater heranwuchs, wurde er eine vorherrschende Tatsache im menschlichen Dasein. Mein Vater war schon auf der Welt, als die Eisenbahnspekulationen begannen. Als ich ein kleiner Junge war, erzählte er mir, er habe in dem Jahre geheiratet, in welchem die ›Great Eastern‹ vom Stapel gelassen wurde; das war das Jahr 1859. Er zeigte mir ein Bild dieses Monstrums, das in einem der Schlafzimmer von Mowbray hing. Das Schiff war ein verfrühter Riesenbau von achtzehntausend Tonnen. Ich zweifle, daß seine Maschinen ihrer Aufgabe gewachsen waren, und finanziell war es, glaube ich, ein Mißerfolg. Es überschritt damals noch die damaligen Grenzen technischer und wirtschaftlicher Möglichkeit.

Mein Großvater war Teilhaber in einer mittelgroßen Maklerfirma. So wuchs mein Vater als ein Kind des dunklen Bienenstockes, genannt die City, in den Tagen auf, da London in der Tat das Haupt und Zentrum der Geschäftsunternehmungen der Erde war. Die neue Phase der Zivilisation trat in England am frühesten in Erscheinung. England war führend auf dem Gebiete des Eisens, des Stahles, der Baumwolle, der Schafwolle, der Eisenbahnen, der Dampfschiffe und des Finanzwesens. In jenen Tagen galten die Engländer, nicht nur sich selbst, als eine alle anderen überragende Nation; es hieß, sie seien energischer und praktischer als sonst ein Volk und dabei kalt, erhaben und weise. Und die Vorsehung hatte es gut mit ihnen gemeint: Kohle und Eisen, die sie ihnen geschenkt hat, nahe beieinander gelagert, und die Insel, die sie bewohnen, mitten im geographischen Zentrum des Welthandels. Es war ihre Mission, die Entwicklung des Restes unseres Planeten zu eigenem Nutzen und Frommen mit kräftiger Hand zu leiten. Frankreich, ihren ernstesten Rivalen, erklärten sie für wankelmütig, Spanien sei, so sagten sie, durch den Katholizismus in Verfall geraten, Italien stehe unter ihrer Protektion, Rußland sei barbarisch, Deutschland mit Armut geschlagen, untauglich und in musikalische und philosophische Träumereien versunken; und Amerika galt ihnen als ein Kontinent schwankender Republiken, in denen Unternehmungen von irgendwelcher finanzieller Bedeutung unmöglich seien.

In jenen Tagen bewarben sich alle Nationen der Welt in den engen und dunklen Gassen der City um Kredite, sobald sie eine Eisenbahn oder einen Hafen bauen oder ihre Industrien, neuen Richtlinien entsprechend, reorganisieren wollten. Wollte sich eine von London fernhalten, so zogen energische junge Engländer aus, um das betreffende Projekt zu studieren und die Widerwilligen, wenn nötig, zu zwingen. Die Bewerbungen Chinas und Japans waren ungestüm. Frankreichs Unternehmungsgeist war im engen Bereich des Mittelmeeres und nahen Orients voll beschäftigt und übrigens stets zu sehr mit der Außenpolitik verquickt. Im fernen Osten begegneten die Engländer mitunter einem vereinzelten Amerikaner; denn ein geheimnisvoller Instinkt trieb die Amerikaner sehr früh über den Stillen Ozean; doch bedeuteten sie in jenen Tagen dort noch nicht viel, und überdies sollte sie alsbald der Bürgerkrieg in der Heimat festhalten. Dieser galt als das Ende aller ihrer demokratischen Hoffnungen. Nordamerika werde sich, so meinte man, gleich Südamerika spalten, da ihm das goldene Band einer Krone fehlte. Es ist belustigend, daß in den Witzblättern jener Tage John Bull als weiser alter Riese und Jonathan als dessen schlecht gekleideter und unmanierlicher Neffe figurierte. Während der Jugendtage meines Vaters vermochte weder der amerikanische noch der deutsche Unternehmungsgeist das Selbstvertrauen des emsig schaffenden London aus dem Gleichgewichte zu bringen.

Die Entwicklung der Industrie und des Bergbaues war im späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert der Hauptsache nach das Werk von Privateigentümern. Grundbesitzer schürften auf ihrem Boden nach Mineralien; Baumwollspinner kauften Maschinen, brachten Vettern und Nachbarn in wirtschaftliche Abhängigkeit und wandten sich alsbald an Findel- und Armenhäuser, um lenksame und dabei billige Arbeitskräfte zu bekommen. Es gab wohl Gesellschaften, aber sie waren zumeist nur eine Vielheit von Privateigentümern. Doch mit dem Erscheinen der Eisenbahnen, Dampfschiffe und Kraftmaschinen steigerten sich die Möglichkeiten des Umfangs geschäftlicher Unternehmungen in zunehmendem Maße. Gewöhnliche Einzelvermögen kamen nicht mehr in Betracht. Wer diesen oder jenen noch unentwickelten Wirtschaftszweig nach den neuen Richtlinien auszugestalten dachte, mußte sich mit jemandem assoziieren, der das hiezu erforderliche große Kapital kreditieren konnte. Er mußte sich an die City wenden.

Um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts waren zwei einander entgegengesetzte Typen von Exploiteuren daran, aus den neuen Expansionskräften Reichtum, Behagen und Macht zu schöpfen: der eine reorganisierte die Produktion, der andere das Kreditwesen. Die Methode des letzteren bestand darin, der neuen Industrie und dem neuen Verkehrswesen eine so schwere Zinsenlast aufzubürden, wie sie zu ertragen vermochten, – oder sich nach kurzfristiger Beteiligung mit einem Profite davonzumachen, ehe noch die Zahlungsunfähigkeit des Unternehmens offenbar wurde. Der erstgenannte Typ produzierte billig und suchte neue Kunden; der zweite sammelte die Ersparnisse der kleinen Leute, um sie in den neuen Unternehmungen zu investieren, und ließ dabei mehr oder weniger von dem Gelde in seine eigene Tasche fließen. Der Organisator beeinträchtigte und vernichtete die Freiheit des kleinen Mannes; der Finanzmann umgarnte den Organisator. Dieser Prozeß geht auch heute noch weiter: ohne bestimmtes Ziel. Die kleineren Leute, die durch die neuen, Maschinen und Kraft verwendenden Unternehmungen beiseite geschoben wurden, mußten sich schützen, so gut sie eben konnten. In der Regel wurden sie von der neuen Entwicklung überrumpelt und verarmten, ehe sie klar erkannten, was geschehen war. Uralten menschlichen Gepflogenheiten entsprechend, wurden die neuen Arbeiter so niedrig wie möglich entlohnt, und es blieb ihnen überlassen, sich, soweit sie es vermochten, über ihren kaum den Lebensunterhalt deckenden Verdienst hinaus Zuschüsse zu sichern.

Unter den ersten Opfern des neuen Großunternehmertums befanden sich die kleinen Landwirte, ferner Weber und Spinner und andere Arbeiter, die von den Fabriken erdrückt und verschlungen wurden. Die Eisenbahnen legten das vielfältige und pittoreske Leben der Landstraße lahm, sie ruinierten Wagen- und Pferdebesitzer, Pferdezüchter und Gasthöfe. Im großen und ganzen erhöhten die neuen Methoden die Produktion in starkem Maße; doch verringerten sie den Bedarf an geschulten und begabten Arbeitern, und so diente der größere Teil der vermehrten Erzeugung einem Bevölkerungszuwachse, der sich aus niedrigstehenden Individuen zusammensetzte. Überall entstanden riesige neue Städte, endlose Reihen schäbiger Straßen und Elendsquartiere, in denen der Großteil dieses Zuwachses einer individualitätlosen und uniformen Bevölkerung hauste.

Eine der Lieblingsannahmen der marxistischen Theoretiker besagt, daß seit etwa zwei Jahrhunderten eine Konzentration des Reichtums in den Händen einer erwerbsüchtigen und stetig kleiner werdenden Minderheit stattfinde. Es ist erstaunlich, wie viele Leute, die Augen im Kopfe haben, trotz Museen, alten Schlössern, Sammlungen von antiken Möbeln, trotz Gemälden und Büchern, Romanen, Theaterstücken, Briefsammlungen und Gedichten mit Widmungen, dahin gelangt sind, diese Konzentration als eine Tatsache gelten zu lassen. Am Lose der Allgemeinheit gemessen, war das Leben der Reichen und Adeligen im siebzehnten Jahrhundert ohne Zweifel verfeinerter und glänzender als heute. Mehr Raum stand ihnen zur Verfügung, sie nannten mehr Schönes ihr eigen, genossen größere Achtung und erfreuten sich einer unterwürfigeren Bedienung. Erlesene Musik, herrliche Kunst, Zierat aller Art – Drucke und Bucheinbände zum Beispiel, mit denen sich nichts Heutiges messen kann – und geistige Freiheit gab es für sie allein. Es ist albern zu behaupten, daß im Verlaufe der letzten Geschichtsperiode die Reichen reicher und die Armen ärmer geworden seien. Die gesteigerte Produktion hat andere Abflußwege genommen. Sie ist weder von den Besitzenden monopolisiert noch unter die Gesamtheit der großen Menge verteilt worden. Sie hat bloß die große Menge vergrößert. Ein blind in die Welt gesetzter Bevölkerungszuwachs hat sie aufgezehrt. Seit der Geburt meines Vaters, in der kurzen Zeitspanne von etwa drei Menschenaltern also, hat sich die Bevölkerung Englands verdoppelt. Dasselbe gilt von der Bevölkerung Deutschlands – trotz ansehnlicher Auswanderung, und neu hinzugekommene Gebiete nicht gerechnet. Seit 1850 muß sich die Bevölkerung der Erde um viele hundert Millionen vermehrt haben. Infolge des Wandels der Größenverhältnisse auf wirtschaftlichem Gebiete ist vorläufig niemand wesentlich besser oder wesentlich schlechter gestellt; es sind nur mehr Menschen auf der Welt.


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