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Diese Nachkriegs-Reden gehören aber, wie gesagt, nicht hieher. Ich werde später noch einmal auf die Periode des Wiederaufbaues zurückkommen. Wenn auch damals in Wirklichkeit nichts neu aufgebaut wurde, so erfuhren doch wir eine innerliche Wandlung, und unser Gedankenaustausch nach Beendigung des Krieges bildet ein besonderes Kapitel unserer Geschichte. Bevor ich zu schildern fortfahre, wie der Krieg unser Denken über die Welt und das Dasein aufrüttelte, löste und anregte, muß ich von Dickons Heirat und von erheblichen Unterschieden in unserer Lebensführung erzählen. Als ich dreiundzwanzig Jahre alt war, zwangen mich gewisse Umstände, die Laufbahn rein wissenschaftlicher Forschung, die mir bestimmt zu sein schien, aufzugeben. Ich wurde Beamter und späterhin Direktor der Firma Romer, Steinhart, Crest und Co., verließ London, um in Downs-Peabody seßhaft zu werden, und befaßte mich in zunehmendem Maße mit den umfangreichen industriellen Unternehmungen, die die größere Hälfte meines Lebens ausgefüllt haben. Diese hatten wenig oder gar nichts mit Reklame zu tun. Sie brachten mich mit Leuten zusammen, deren Welt eine ganz andere war als die Dickons; sie führten mich oft und mitunter für längere Zeit ins Ausland, wodurch ich bis zu einem gewissen Ausmaße Kosmopolit geworden bin.

Dickon blieb durchaus Engländer. Nach seiner Heirat wohnte er einige Jahre hindurch in Cromwell Road, dann kaufte er Lambs Court bei Dorking und wurde ein angesehener Mann im Kreise der wohlhabenden Landhausbesitzer von Surrey. Ich selbst heiratete nur kurze Zeit später als er, doch während die Ehe sein Dasein festigte, warf sie meine Lebenspläne über den Haufen. Meine Heirat war ein Fehlgriff. Ich werde an richtiger Stelle mehr davon erzählen. Eine gewisse Verbitterung in mir dürfte mehrere Jahre hindurch dazu beigetragen haben, daß ich Dickon und seine Familie seltener besuchte, als ich es unter anderen Umständen wohl getan hätte. Seine Ehe verlief gut, ostentativ gut, könnte man sagen. Eine Zeit lang hegte ich den – wie ich heute glaube – ungerechten Verdacht, daß er die Schuld an dem häßlichen Wirrsal, in das ich geraten war, mir selbst beimaß.

Es bestand, wie gesagt, ein ostentativ gutes Zusammenleben zwischen Dickon und seiner Frau. Doch ob man seine Ehe als eine vollkommene bezeichnen kann, weiß ich nicht. Ich bezweifle, daß es eine vollkommene Ehe gibt. Sie mag vereinzelt vorkommen – als ein Zufall. Ich empfand meiner Schwägerin gegenüber etwas wie lauernde Verwunderung, und konnte dieses Gefühl niemals völlig loswerden; es besteht bis auf den heutigen Tag in mir. Sie hatte etwas ungewöhnlich Edles in ihrem Wesen, zugleich aber etwas Kühles und Zurückhaltendes. Auch Dickons Beziehung zu ihr ist mir bis heute nicht ganz klar. Ihm war Zurückhaltung so durchaus fremd. Er hielt treu zu ihr – mühelos, aus freiem, frohem Herzen; und sie hielt ergeben zu ihm. Doch wie die beiden im Innersten ihres Wesens zu einander standen, das weiß ich nicht. Ich kann es mir nicht vorstellen. War die Zärtlichkeit und die immer wache Rücksichtnahme, die sie ihm gegenüber an den Tag legte, Liebe? Zu Anfang gewiß. Seiner unbegrenzten Verehrung für sie, seinem Stolz, sie zu besitzen, und seiner seltenen, aber heftigen Zärtlichkeit war etwas wie Groll beigemengt. Gelang es ihm immer, diesen Groll in ihrer Gegenwart zu unterdrücken? Ich weiß es nicht. Ich will erzählen, was ich weiß, was ich sah, was ich folgerte, und den Rest dem Leser überlassen. Ohne Zweifel gibt es in der Beziehung zwischen den beiden vieles, was außerhalb des Bereichs meines Fühlens und meiner Erfahrung liegt.

Sie war ein sehr zartes Geschöpf mit feinen Gesichtszügen; wenn auch zierlich in ihrem Körperbau, hatte sie doch durchaus nichts Zwerghaftes an sich. Sie sah viel schwächlicher aus, als sie in Wirklichkeit war. Als ich ihr das erstemal begegnete, war sie ein wenig gezwungen und gekünstelt in ihrem Gehaben, weil sie sich so tapfer vorgenommen hatte, nicht schüchtern zu sein. Ich sah sie erst etwa einen Monat, ehe Dickon sie heiratete; der Tag der Hochzeit war damals schon festgesetzt. Dickon hatte sie in Bloomsbury kennengelernt und dürfte längere Zeit mit einer Art Scheu in sich gekämpft haben, bis er mir endlich von ihr erzählte und sie mir vorführte. Sie kam unter dem Schutze einer Kusine, die ich ganz vergessen habe, zu einer Teegesellschaft in Dickons Wohnung, und ich erlebte das ungewohnte Schauspiel, Dickon, meinen rauhen und selbstsicheren Bruder, in einem Zustande großer Befangenheit zu sehen. Er bot Tee an, reichte Kuchen herum, fragte mich ( mich!), ob ich Zucker nähme, und suchte aus meinem Gesichte ein Urteil zu lesen.

Sie schien mir klein, nicht besonders gut angezogen und sehr zurückhaltend. Das war mein Eindruck von ihr. Wir sprachen über Bilder, von denen weder sie noch ich damals viel verstand, und über Musik. In Lambs Court gibt es eine Photographie von ihr aus jenen frühen Tagen. Man mußte damals bei einer photographischen Aufnahme einige Sekunden hindurch ganz still sitzen, und sah daher, wenn das Bild scharf geriet, wie eine Wachspuppe aus. Sie hatte es fertiggebracht, ganz still zu sitzen. Wie ungewohnt ist unseren Augen heute die Kleidung der späten Victorianischen Zeit! Sie hat auf jener Photographie einen Kragen an ihrem Kleide, der ihr bis an die kleinen Ohren reicht, und große Puffärmel, und ihre Gestalt ist in einen Schnürleib gepreßt.

Ich weiß heute nichts mehr von den Einzelheiten jener Begegnung, doch erinnere ich mich, daß sich Dickon nachher an Hyde Park Corner von mir verabschiedete. »Du kannst nicht gleich sehen, was an ihr ist, alter Junge«, sagte er zum dritten- oder viertenmal. Obwohl ich nicht mit einem Wort verraten hatte, daß ich sie nicht vom ersten Augenblick an für die beste und begehrenswerteste Schwägerin der Welt gehalten hätte. Ich hatte kaum irgend etwas gesagt. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte.

Auf dem Weg nach Hyde Park Corner hatte er mir von ihr erzählt. Sie war die Tochter eines Arztes in Bloomsbury, eines sehr fähigen praktischen Arztes der gesamten Heilkunde. Sein Kompagnon Brakespear hatte ihn mit ihr bekannt gemacht. Sie hatte einige Prüfungen abgelegt – ich weiß nicht mehr, in welchen Fächern, doch waren es recht schwere Prüfungen gewesen. Sie zeichnete sehr schön. Sie verstand etwas von Musik und sprach außerordentlich gut französisch und deutsch. Sie war ein einziges Kind, was, wie ich glaube, das Insichgekehrtsein ihres Wesens erklärt; die Bloßstellungen, Kritiken, Vorwürfe und Vertraulichkeiten, die das Leben einer kinderreichen Familie mit sich bringt, waren ihr fremd.

Sie las und studierte, wie ich später entdeckte, aber sie war nicht gewohnt zu sprechen. Mitunter beobachtete ich sie, wenn sie Dickons Reden lauschte, und verglich sie in Gedanken mit einem Wanderer, der am Ufer eines angeschwollenen Flusses auf eine Fähre wartet – ruhig wartet, da der Tag schön und angenehm ist, und der überdies gar nicht ernstlich die Absicht hat, den Strom zu überqueren. Sie war in der ihr eigenen stillen Art in Dickon verliebt und ihm ergeben. Auch er war in sie verliebt, dabei aber, wie mir schien, ein klein wenig enttäuscht, daß sie im Zusammensein mit mir so gar nicht aus sich heraus ging. Er versuchte während meiner ersten Begegnungen mit ihr ein- oder zweimal, sie aus ihrer Zurückhaltung zu reißen, doch sie hatte eine feine, kaum merkliche Art, sein Bemühen zu vereiteln. Es war unterhaltsam, Dickon an einem Artikel interessiert zu sehen, der sich nicht ins rechte Licht rücken lassen wollte. Er wäre ein überwältigender Impresario für eine glänzende Frau gewesen.

Nach der vierten oder fünften Begegnung begann ich sie etwas weniger farblos zu finden, und bei der Hochzeit hatte ich das Gefühl, daß sie außerordentlich hübsch auszusehen vermochte, wenn sie nur wollte, diese Fähigkeit aber bisher vor mir und der Welt im allgemeinen aus irgend einem geheimen Grunde verborgen hatte.

Trotzdem sah ich noch immer nicht ein, warum mein lebhafter und freimütiger Dickon gerade sie hatte heiraten müssen. Ich sah nicht ein, warum just er unter allen Menschen mit der verkörperten Zurückhaltung vereinigt sein sollte.

Es war eine sehr schöne Hochzeit, und auch der Haushalt, den das junge Paar in der Cromwell Road gründete, hatte einen sehr achtbaren Anstrich. Es sollte eine Zeit kommen, da ich große Stücke auf Minnies Geschmack hielt, die Einrichtung ihres ersten Heims aber bekundete noch nichts von ihrer wählerischen Persönlichkeit. Vielleicht war ihre Eigenart noch nicht ganz erwacht. Auch vermute ich, daß Dickon beim Einkauf der Möbel hastig gewesen war und ihr keine Zeit zum Überlegen gelassen hatte. Das Haus sei ›durchaus und hoffnungslos banal‹, erklärte meine Gattin, dieses störende Intermezzo in meinem Leben, bei ihrem Antrittsbesuche.

Ich heiratete, wie ich später erzählen will, ungefähr eineinhalb Jahre nach Dickon, und meine Eheschließung überraschte ihn ebenso sehr wie mich die seine. Ich hielt Clara sogar noch länger vor Dickon geheim, als er seinerzeit Minnie vor mir. Vielleicht fühlte ich, was seine Ansicht über die Familie Allbut sein würde. Erst wenige Wochen vor unserer Hochzeit führte ich Dickon und Minnie meine Braut vor. Wir machten einen Besuch bei Minnie. Ich ging in etwas gereizter Stimmung hin, weil Clara es für passend befunden hatte, ihren Anzug aus dem Kleiderschrank einer Tante zu vervollständigen, und plötzlich weit mehr von einer Dame von Welt und weit weniger von einer armen Kunstjüngerin an sich hatte, als es sich für die künftige Ehefrau eines unbemittelten Wissenschaftlers ziemte.

Schon bei dieser ersten Begegnung flammte zwischen Minnie und Clara eine im Wesen der beiden begründete Gegnerschaft auf. Clara war ein überschwengliches Geschöpf, besonders Fremden gegenüber. Sie überfiel Minnie mit Geschrei und Umarmungen. »Welch eine reizende kleine Frau Sie sind!« sagte sie.

Ich hatte bereits zu vergessen begonnen, daß Minnie klein war; ich sah, wie sie sich mit leisem Widerwillen gegen diese vorschnelle Vertraulichkeit wehrte. Clara rühmte ihre Kleidung – sie entsprach durchaus der landläufigen Mode der Zeit –, erklärte sie als einen Triumph auserlesenen Geschmacks und wandte sich, als sie Minnies Ablehnung dunkel fühlte, in ebenso enthusiastischer Betrachtung dem Haus und der Einrichtung zu. »Famose Sachen habt ihr!« rief sie aus. »Wo habt ihr das alles her?«

»Dickon und ich gingen zu Maple«, sagte Minnie, indem sie ihre streng im spätvictorianischen Stile gehaltenen Möbel einen Augenblick lang musterte, als ob sie sie eben zum ersten Male sähe.

Clara suchte nach einem Stück, das als ungewöhnlich hätte gelten können. Da sie keines fand, ergriff sie ein Buch.

»Sie lesen auch George Meredith!« rief sie.

»Hier ist Dickon!« sagte Minnie erleichtert, als die Türe sich öffnete ...

Mit Dickons Eintritt kam mir der zusammengestückte Aufputz Claras noch stärker als bisher zum Bewußtsein. Nun war die Reihe an mir, auf ein unausgesprochenes Urteil zu lauern. Claras Art Männern gegenüber war mitunter allzu vertraulich ...

Es war kein angenehmer Besuch. Ich bemerkte, daß Dickon sich nicht für Clara erwärmen konnte. Minnie schien dem Gespräch absichtlich einen kühlen Ton zu geben. Wir gingen, Clara in heller Wut.

»Also das ist meine zukünftige Schwägerin!« sagte sie auf der Schwelle.

Sie hielt inne. »Vorsicht!« flüsterte sie. »Sie horcht wahrscheinlich.«

Und dann hob eine erschöpfende Zusammenfassung der Unzulänglichkeiten Minnies an. Der Kehrreim der Rede lautete, daß nichts an Minnie sei; trotzdem war offenbar sehr viel über sie zu sagen. Erstens sei sie äußerlich unscheinbar. Zweitens fischblütig. Und ihre Art, sich zu kleiden, sei provinzlerisch, unsicher, von falscher Vornehmheit. Sie sei zu schlicht angezogen gewesen. Es sei unmanierlich, sich für eine Gelegenheit wie diese zu einfach anzuziehen. Man müsse bei einem solchen Anlaß ein wenig Staat machen. Der Antrittsbesuch einer neuen Schwägerin sei ein wichtiges Ereignis und müsse als solches behandelt werden. Man sei verpflichtet, sich da ein wenig Mühe zu geben.

Die Asche unseres Wortwechsels über den entliehenen Putz glomm für einen Augenblick wieder auf.

Minnies Einrichtung und die Führung ihres Haushaltes seien ebenso unzulänglich wie ihre Kleidung und bewiesen dieselbe unhöfliche Gleichgültigkeit. Der Tee hatte Clara aus irgendeinem Grunde sehr beleidigt. Er sei ebenfalls zu einfach gewesen, erklärte sie; beim ersten Besuche einer künftigen Schwägerin müsse man mehr auftischen; jeder gebe heutzutage kleine Sandwiches, Gurken-Sandwiches, zum Beispiel. Irgend etwas Pikantes, was sich leicht ißt. Es habe knauserisch ausgesehen, daß nichts dergleichen auf den Tisch kam. Und unbeholfen. Korinthenkuchen seien lächerlich; die gehörten in die Kinderstube. (Beim Tee hatte Clara behauptet, daß sie Korinthenkuchen liebe.)

»Und die Einrichtung! Diese schwerfällige Einrichtung. Maple!« Zweifellos war ihm völlig freie Hand gelassen worden. Nichts Persönliches, nichts Charakteristisches. Wo mein Bruder sie nur kennengelernt haben mochte? Selbstverständlich müßten wir nach unserer Hochzeit eine Einladung zum Diner über uns ergehen lassen. Es werde unsere erste Abendgesellschaft sein. Wie würden wir es zwei Stunden lang dort aushalten? Worüber sollten wir sprechen? Schon bei diesem kaum vierzig Minuten währenden Besuch habe das Gespräch immer wieder gestockt und sich nur mühsam hingeschleppt.

»Na, jedenfalls werde ich für dieses Abendessen kein besonderes Kleid brauchen«, überlegte Clara.

Ich sagte sehr wenig zu diesem Wortschwall, denn es quälte mich, mein eigenes geheimes Urteil über Dickons Frau karikiert, übertrieben, anmaßend und in Ausdrücken heftiger persönlicher Gehässigkeit aus Claras Munde zu hören. »Sie ist nicht so schlimm«, sagte ich. »Und sie macht Dickon glücklich.«

»Macht sie ihn wirklich glücklich?«

»Dein Bruder«, sagte Clara, ihre Frage verfolgend, »würde niemals ein Fiasko zugeben, solange er es als einen Erfolg hinzustellen vermag. Er hat einen harten Kopf. So wie du auch. Es ist klar, daß ihr Wesen schal ist wie das Wasser einer Pfütze. Uninteressant ist sie und prosaisch. Sie lähmt ihn. Wenn sie nicht dagesessen hätte, wäre er anders gewesen ... Früher oder später wird er Seitensprünge machen. Das kannst du mir glauben, Billy. Aber er wird es niemals eingestehen.«

Ich war wütend über ihre Worte, die irgendwie doch etwas von Dickons Wesensart wiedergaben.

»Und sie ebensowenig«, fügte sie nach einer Weile, ihr Urteil abschließend, hinzu.

»Sie ebensowenig – was?«

»Sie wird es ebensowenig eingestehen.«


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