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Und nun komme ich zu dem Wurme sozusagen im Kern meines zerfallenden Sozialismus – zu Karl Marx.

Auf ihn, wenn überhaupt auf eine einzelne Person, ist die heute fast allgemein verbreitete, von Sozialisten und Nichtsozialisten gleichmäßig geteilte Überzeugung zurückzuführen, daß wir in wirtschaftlicher Hinsicht unter dem genau definierbaren Kapitalistischen Systeme leben, welches zu einem bestimmten Zeitpunkte anhob und voraussichtlich ein Ende nehmen wird, und daß die in den menschlichen Beziehungen heute herrschende Unordnung eine Krankheit ist, die beschworen und ausgetrieben werden kann. Worauf nach einer Periode der Rekonvaleszenz das tausendjährige Reich kommen werde. Mir gilt Karl Marx als die Quelle und der Anfang eines weitverbreiteten und gefährlichen Irrtums, einer seichten und verderblichen Abstraktion, unter der die Welt furchtbar gelitten hat. Seine Lehre war von einem außerordentlich ansteckenden Klassenhaß durchtränkt. Sie hat den Sozialismus vergiftet und verbittert, so daß er heute zersplittert und ohnmächtig ist und langsam und mühselig wieder zusammengesetzt, neu formuliert und rekonstruiert werden muß, indes die Zeit und das Leben an ihm vorbeigehen. Karl Marx ist mehr als sonst einer an der abscheulichen Gehässigkeit der heute üblichen sozialistischen Diskussion schuld.

Ich war voll Interesse für Marx, den Marx der prophetischen Londoner Zeit, wurde aber immer wieder durch Einzelheiten, die ich erfuhr, abgestoßen. Obwohl nur mit Theoretischem befaßt, scheint er sehr reizbar gewesen zu sein und – ähnlich wie Lenin vor der Rückkehr nach Rußland im Jahre 1917 – abseits von Bergwerken, Fabriken, Eisenbahnen und der Industrie überhaupt ein untadeliges Leben geführt zu haben. Es war weder ein sehr tätiges noch schweres Dasein; etliche Reisen nach Frankreich und Deutschland, wo er mit Anhängern zusammentraf und Organisationen besuchte, dürften seine stärksten Erlebnisse gewesen sein. Er arbeitete ziemlich regelmäßig im Lesesaal des Britischen Museums – ich habe die fixe Idee, daß man sich im Innern eines Gasometers ganz ähnlich fühlen müsse wie in diesem berühmten Lesesaal –, hielt Sonntagsversammlungen in seinem Heim in Hampstead ab und gehörte einem Klub in Soho an. Er hatte geringe Befähigung, Geld zu verdienen, ein bei wirtschaftlichen und finanziellen Fachleuten nicht ungewöhnlicher Wesenszug, und scheint sich zum Teil durch schlechtbezahlte Journalistik, hauptsächlich aber durch die Unterstützungen seines Jüngers Engels, eines Kattunhändlers aus Manchester, über Wasser gehalten zu haben. Er hatte eine ihm zärtlich ergebene Frau und einige Töchter, doch weiß man wenig über seine Familie. Marx hatte ein Leberleiden; er dürfte körperlich ungeübt, allem Sporte abgeneigt und ein starker Raucher gewesen sein, wenn man nach der Mehrzahl der langbärtigen Ausländer im Victorianischen London urteilen darf. Es war das Zeitalter großartiger Bärte, und er ließ sich einen mächtigen Rabbinerbart wachsen. Solch ein Bart muß alle körperliche Bewegung ebenso sehr behindern wie ein Kropf. Auf den Bildnissen, die wir von ihm haben, blicken die Augen mit einer etwas ängstlichen Anmaßung über den riesigen Bart hinweg. Darunter ergänzt man sich die Schöße eines Gehrockes, Hosen und Zugstiefel. Es heißt, er sei in Fragen der persönlichen Loyalität und der Priorität empfindlich gewesen, was oft mehr eine Folge sitzender Lebensweise als ein Charakterfehler ist. Der ›fertige‹ Teil seines umfangreichen Werkes ›Das Kapital‹ ist etliche Male wieder umgearbeitet worden und liest sich infolge der allzu sorgfältigen und pedantischen Ausführung recht schwer. Wenn man genauer zusieht, hebt Marx viele seiner Verallgemeinerungen selbst wieder auf, doch dehnt er solche verspätete Einsicht nirgends auf seine Lehre im allgemeinen aus.

Der Dialektik Hegels folgend, war er kaum bemüht, sich zu selbständigem Denken durchzuringen. Er bestand in seinen Studententagen innerliche Kämpfe um die Lehre Hegels, schrieb in Briefen viel und erregt über sie, wurde ihr abtrünnig und bekehrte sich schließlich aufs neue zu ihr. Gleich Proudhon war er bemüht, ihre geistigen Kunststücke auf die Idee des Sozialismus anzuwenden. Schon als Schuljunge neigte er zu Widersetzlichkeit. Die Ungerechtigkeiten des menschlichen Lebens erfüllten ihn, davon bin ich überzeugt, mit ehrlichem Kummer. In seinen späteren Jahren erfaßte ihn der Ehrgeiz, ebenso berühmt zu werden wie Charles Darwin. Der eine oder andere seiner Jünger hat ihn mit Darwin verglichen; Engels tat es an seinem Grabe; der Gedanke an einen solchen Vergleich scheint seiner Clique schon vor seinem Tode vertraut gewesen zu sein. Drei Jahrzehnte hindurch erfuhren sein Name und seine Hauptideen verhältnismäßig wenig Beachtung; nunmehr aber scheinen sie sich – für einige Zeit – zu noch größerer Bedeutung durchgerungen zu haben als das Werk des bescheidenen und geduldigen Revolutionärs von Down. Obgleich sein Werk vorgibt, eine Untersuchung zu sein, ist es weit mehr eine freie Erfindung. Marx fehlt die Gabe Darwins, den Zusammenhang mit der Wirklichkeit nicht zu verlieren.

Noch ehe er die Tätigkeit begann, die den Kommunismus schaffen sollte, war er selbst ihm verfallen, und von allem Anfang an hemmten Fragen der Politik die freie Entfaltung seiner Wissenschaft. Worauf lief sein Werk hinaus? Er zwängte den wirtschaftlichen Wirrwarr theoretisch in ein System; er teilte die Gesellschaft in Klassen ein, doch paßt die Mehrzahl der Menschen in keine seiner Klassen; er verkündete einem kleinen, aber wachsenden Kreis von Anhängern den Klassenkampf und ging würdevoll in den Friedhof von Highgate ein. Sein Tod brachte das unmanierliche Gezanke seiner Jünger nur für kurze Zeit zum Schweigen. Über seine Doktrinen ist unendlich viel diskutiert worden, die Methoden der Psychoanalyse aber hat man, so viel ich weiß, noch nicht auf sie angewendet. Wenn dies in richtiger Weise geschähe, könnte man zu sehr interessanten Resultaten gelangen.

Marx entdeckte die für das wirtschaftliche Leben seiner Zeit charakteristische Tatsache, daß Handels- und Produktions-Unternehmungen sich stetig vergrößerten – ich komme darauf noch zu sprechen –, und dehnte diese Tendenz zu wachsen auf alle wirtschaftlichen Verhältnisse aus, was durchaus nicht gerechtfertigt ist. Er lehrte, daß das ›Kapital‹ einer Art von Gravitationsgesetz unterworfen sei, das heißt, daß es sich in den Händen einer immer kleineren Zahl von Personen konzentriere und der Großteil der Menschheit fortschreitend expropriiert werde. Dabei unterschied er nicht klar zwischen dem konkreten, in Gebrauch stehenden Besitz, zwischen dem Geld und zwischen der Forderung des Gläubigers, ließ die Tatsache unberücksichtigt, daß wirtschaftliche Kombinationen durch Erfindungen und neue Methoden gestärkt, geschwächt, in ihrer Tragweite verändert oder aufgelöst werden können, und dachte nicht an die Möglichkeit, daß der Expropriation durch die Bedingtheit der wirksamen Kräfte eine Grenze gesetzt werden würde. Daß die Vergrößerung wirtschaftlicher Unternehmen nicht ins Ungemessene fortschreiten und der Konzentrierung des Eigentums eine Phase des Ausgleiches folgen könne, zog er niemals in Erwägung. Er sah, daß sich die Methoden der großen Geschäfte rasch auf Presse und Parlamentarismus ausdehnten. Er vereinfachte die Psychologie der sehr verschieden gearteten Menschen, die er unter dem Namen ›Kapitalisten‹ zusammenfaßte – Ingenieure, Börsen-Jobber, Gesellschaftsgründer und so weiter –, indem er Gewinnsucht als den Grundzug ihres Wesens hinstellte. Seiner Darlegung nach sind alle ›Kapitalisten‹ gleich und alle ›Arbeiter‹ ebenfalls. Ganz willkürlich teilte er die vielfältige Menge der Menschen in zwei Gruppen und machte aus dem gesamten wirtschaftlichen Leben einen Prozeß des Geldaufsaugens durch den ›Kapitalisten‹. Dieser Prozeß werde weitergehen, behauptete er, bis die Konkurrenz einem kapitalistischen Monopolzustand weichen werde; in diesem werde die überwiegende Mehrzahl der Menschen entweder die Kreaturen, Parasiten und verblendeten Opfer der Kapitalisten sein, oder aber von Zeit zu Zeit beschäftigte ›Arbeiter‹, die sich durch wachsende Erkenntnis ihrer Lage, steigenden Groll und Solidarität auszeichnen würden. Er scheint angenommen zu haben, daß die Herrschaft des immer gefährlicher zusammenschmelzenden Häufleins von Kapitalisten notwendigerweise eine schlechte sein müsse, die Seele des Arbeiters hingegen durch die wirtschaftliche Erschöpfung geläutert werden würde. Und so weiter bis zur sozialen Revolution.

Marxens gewaltsame Voraussetzung, Arbeitgeber, Organisatoren und Besitzende seien unbedingt ungerechte und böse Menschen, und seine damit verbundene Neigung, die Arbeiter zu idealisieren, waren meiner Ansicht nach ein natürliches Ergebnis seines beschränkten und allzu seßhaften Gelehrtendaseins. Sie scheinen mir fast ebenso sehr eine Folge seiner Lebensweise wie das Leberleiden, das ihn quälte. Sein Werk ist von dem instinktiven Ressentiment des scheuen Menschen gegen großzügige, freie und einflußreiche Naturen durchdrungen. Auch der bereits erörterte Widerwille des Gelehrten gegen jede unreduzierbare Vielfältigkeit steckt in ihm. Dazu kommt eine ungeduldige Neigung, das ganze Wirtschaftsleben als einen Prozeß aufzufassen, der zu einer Krisis führt, zu einer die halb bewußten und unterbewußten Wünsche des Denkers befriedigenden Lösung. Unter dem Druck dieser Gefühle und Neigungen und mit Hilfe der Hegelschen Doktrin, welche besagt, daß das Ding, das ist, schließlich zu Grunde gehen muß, um einer höheren Synthese des Dinges, das nicht ist, Platz zu machen, entwickelte der Marxismus seine Prophezeiung von dem endlichen und nicht sehr fernen Sieg des idealisierten Arbeiters. Der Proletarier werde immer solidarischer werden und schließlich en masse auftreten; er werde sich zum Herrn emporschwingen, und sein Erscheinen werde alles mit einem Schlage ändern. Er werde die Mächtigen vom Throne stoßen und die Demütigen und Bescheidenen erhöhen. Er werde die Hungrigen speisen, die Reichen aber mit leeren Händen wegschicken. Das Kleinbürgertum werde er tüchtig aufs Haupt schlagen. Und jedermann, der dem grollenden Erfinder dieser Geschichte etwas galt, sollte fortan für alle Zeiten glücklich sein.

Ein Wunsch, der sich allmählich zu einer Überzeugung verdichtete, beschenkte die Welt mit der prophetischen Schilderung der wunderbaren und höchst dramatischen Entwicklung des Proletariers, des Enterbten, der klassenbewußt wird, den Rest seiner verkrüppelten und ausgehungerten Persönlichkeit in der Solidarität mit seinesgleichen aufgehen läßt, zu den Waffen greift, sich in Massen erhebt, jenes geheimnisvolle Etwas, genannt die Diktatur des Proletariats, errichtet, den ›kapitalistischen Monopol-Staat‹ übernimmt und ihn nach einer Phase der Anpassung in einen verschwommenen demokratischen Kommunismus, das Millennium, verwandelt. Diese Prophezeiung ist ein Wunschtraum, der sich bisher nicht verwirklicht hat und sich wahrscheinlich niemals verwirklichen wird, der Wunschtraum eines intelligenten und sensitiven Menschen, der über die Not der Armen empört ist und selbst ungewürdigt abseits steht.

Es ist Sache des Psychoanalytikers, die feineren Vorgänge in der Entwicklung dieses Traumes eines proletarischen Heilands darzulegen. Jedermann kennt heutzutage den Riesen, der auf den Plakaten vom ersten Mai, in kommunistischen Pamphleten und wo immer der romantische Kommunismus sich in Bildern ausdrückt zu sehen ist. Er stellt keinen wirklich existierenden Arbeitertypus dar, verrät aber in einem starken Bizeps, kolossalen Proportionen, einem kleinen Kopf und dem Thor-Hammer in der mächtigen Faust sehr deutlich die unterdrückte Sehnsucht des beschränkten Intellektuellen nach kraftvoller Männlichkeit. Dieser Proletarier soll sich erheben; seine Feinde – jene Gebildeten hauptsächlich, die den Propheten, der unter ihnen erstand, verkannten, – sollen zerschmettert werden. Für den Bourgeois wird alsdann eine böse Zeit anbrechen. Schlimmes wird ihm widerfahren. Denn er wird zwischen Hammer und Amboß geraten ...

Die ehrenwerten britischen Gewerkschaftsführer der Victorianischen Zeit, denen Marx jenes Monstrum als ihr wirkliches Bild zu unterschieben versuchte, scheinen es mit Bestürzung betrachtet zu haben. Sie fühlten sich dem kleinen Bourgeois so sehr viel ähnlicher.

Geht man die hervorragenden Namen der Bewegung durch, so erkennt man, wie wenig der Arbeiter mit der Erfindung dieses phantastischen Titanen oder mit der Entwicklung der sozialen Ideen überhaupt zu tun hatte. Zahlreiche Gewerkschafts- und Arbeiterführer haben sich Sozialisten und Kommunisten genannt, genau wie sich andere als Rationalisten, Eugeniker oder Single-Taxers bezeichneten; doch hat keiner von ihnen am Ausbau der Theorie mitgearbeitet. Diese ist sowohl in ihrem konstruktiven als auch in ihrem destruktiven Teil entweder das Werk wohlhabender Männer, die der sozialen Verwirrung steuern wollten, oder das erbitterter Gelehrter und Studenten. Saint-Simon war ein wohlwollender Aristokrat, Robert Owen ein begabter Fabrikant, William Thompson ein irischer Grundbesitzer, William Morris und Ruskin gehörten dem wohlhabenden Mittelstande an, Engels exportierte Baumwollstoffe nach Deutschland und verdiente dabei ein schönes Stück Geld, und Marx, der Marx des unerbittlichen Klassenkampfes, wuchs, um in der ekstatischen Sprache seines Biographen Loria zu reden, ›in einer verfeinerten, aristokratischen Umgebung‹ auf, entstammte ›einer außerordentlich alten Familie, die dereinst große Reichtümer aufgehäuft hatte‹, und war ›durch seine Heirat einem Geschlechte ehemaliger deutscher Lehensmannen, feuriger Paladine des Thrones und Altars verbunden‹. Beer erwähnt in seiner ›Geschichte des britischen Sozialismus, daß Frau Marx ›mit den Argyles verwandt‹ gewesen sei – mit den Argyles verwandt! das ist schon Gottnähe! –, und nennt Marx einen ›stolzen Geistesaristokraten‹. Der heftige, mit Verachtung gepaarte Haß gegen das Kleinbürgertum, der in der kommunistischen Literatur zum Ausdrucke kommt, ist ein weiteres Symptom dafür, daß herabgekommene, in ihrem Standesdünkel verletzte Aristokraten die Bewegung inspiriert haben. Die bei Kommunisten gebräuchlichste Beschimpfung des Gegners besteht darin, anzudeuten, daß er nicht aus guter Familie sei. Ich bin der Meinung, daß die Theorie des demokratischen Sozialismus wirklichen Arbeitern auch nicht annähernd so viel verdankt, wie die Wissenschaft, die Geologie, Archäologie und Physik zum Beispiel. Sie ist nicht das Produkt der unterdrückten Arbeiterschaft, sondern das ehrgeiziger Menschen, deren Selbstgefühl durch Mißerfolg, Ausschluß aus einem höheren Kreise oder Geringschätzung gelitten hat.

Aus einer Abhandlung Lenins, ›Der Staat und die Revolution‹ – sie entstand kurze Zeit, ehe die Bolschewiken im Jahre 1917 die Macht an sich rissen – spricht derselbe Groll gegen erfolgreiche oder gebildete Menschen, dieselbe Hoffnung, der bewaffnete Arbeiter werde jene Intellektuellen, die seinen Führern einstmals zu wenig Beachtung schenkten, in den Staub treten. Mit offenkundigem Widerwillen spricht Lenin davon, daß die Diktatur des Proletariats außer den Diensten ihrer eigenen Propheten auch die anderer Gebildeter in Anspruch werde nehmen müssen. ›Den intellektuellen Adel‹ nennt er sie höhnisch und verweilt mit Genugtuung bei der Tatsache, daß sie immerhin ›unter der Aufsicht der bewaffneten Arbeiter‹ stehen würden.

Man bedenke, was dieser Satz bedeutet!

Bald nach Abfassung dieses Traktats war Lenin Diktator im Kreml, und ›der intellektuelle Adel‹ Rußlands, die Männer der Wissenschaft, der Kunst und der Literatur waren ihm ausgeliefert. Sie wären in jenen unruhigen Zeiten allesamt verhungert, wenn nicht der Dichter Maxim Gorki, der ein gewisses persönliches Ansehen bei Lenin genoß und dabei Verständnis für den Wert geistiger Dinge besaß, sich für sie eingesetzt hätte. Man ließ ihnen Schutz angedeihen und sorgte für ihren Unterhalt. Als ich im Jahre 1920 in Petersburg war, besuchte ich einen an der grauen Newa gelegenen alten Palast, der, nunmehr ›Haus der Wissenschaft‹ genannt, eine Anzahl von Angehörigen des ›intellektuellen Adels‹ beherbergte. Die Beaufsichtigung der geistigen Welt durch bewaffnete Arbeiter erschien mir kein sehr erfolgreiches Experiment zu sein. Jene Männer – manche von ihnen waren hervorragende Gestalten in Rußlands geistigem und schöpferischem Leben gewesen – lebten offensichtlich in großer Not, und die meisten unter ihnen taten wenig oder nichts. Sie waren schlecht genährt und kärglich und schäbig gekleidet; sie wurden in abscheulicher Art und Weise bewacht; weder Bücher noch Papier noch sonstiges Arbeitsgerät stand ihnen zur Verfügung. Der arme Komponist Glazunow war dort, elend, ein Schatten seines früheren Selbst, frierend und krank; er konnte mit seiner Zeit nichts anfangen, da die bewaffneten Arbeiter ihm kein Notenpapier beschaffen wollten. Er spielte mir einige seiner Kompositionen auf einem alten Klaviere vor, sprach von vergangenen Tagen und weinte. Der bewaffnete Arbeiter, der dem Hause der Wissenschaft vorstand, hieß Rodé und hatte vor der Revolution ein hochelegantes Restaurant auf einer der Inseln innegehabt, das in den hellen Nächten des nordischen Sommers ein beliebter Versammlungsort der vornehmen Welt gewesen war. Er hatte sich dem kommunistischen Regime angepaßt und die Aufsicht über Verpflegung und sonstige Versorgung des internierten ›intellektuellen Adels‹ übernommen. Hervorragende Archäologen, Physiologen und Historiker, große Mathematiker und glänzende Lehrer standen in seiner Obhut und waren von ihm abhängig. Auch Maxim Gorki sollte gelegentlich im Hause nach dem Rechten sehen und entledigte sich dieser Aufgabe mit der Hochherzigkeit und Unbeholfenheit in praktischen Dingen, die einen genialen Menschen und Slawen obendrein auszeichnen.

Der soziale Zusammenbruch, der in Rußland vor sich gegangen ist, wird von den Marxisten als die soziale Revolution ihres Propheten ausgeschrien. Sie tun dies, obwohl er eigentlich England und die hochindustrialisierten Gebiete des Westens als die Länder der revolutionären Verheißung bezeichnet hat. In Wirklichkeit glich der russische Zusammenbruch nicht im geringsten dem Umsturze, den Marx erträumte. Die russischen Bauernsoldaten, die beraubt, ausgehungert, massakriert und vom Zaren und seinen Ministern betrogen worden waren – auf jeden im Kriege getöteten Österreicher oder Deutschen kommen sechs oder sieben Gefallene aus den Reihen dieser armen Teufel –, verloren endlich die Geduld, als sie erkennen mußten, daß die Revolution Kerenskijs sie nicht von den Folterqualen des Krieges befreite. Zwei Millionen von ihnen waren getötet oder zu Krüppeln geschossen worden. Sie hatten genug. Sie wendeten sich heimwärts, ihren Dörfern zu. Und einmal zur Rückkehr entschlossen, ließen sie sich durch nichts mehr halten. Vor der Front der Deutschen und Österreicher lösten sich die russischen Armeen auf und strömten über das weite Land in die Heimat. Eine Zeitlang befand sich Rußland in einem Zustande sozialer Auflösung, wie ihn die westliche Welt seit dem Dreißigjährigen Krieg nicht mehr erlebt hat; schweifende Banden bewaffneter Männer hausten, wie es ihnen beliebte, in den Gebieten, durch die sie zogen; Raub, Notzucht und Mord blieben ungeahndet. In vielen Provinzen kam es zu Bauernaufständen, der französischen Jacquerie vergleichbar; zahlreiche Schlösser wurden niedergebrannt. In manchen Teilen des Landes nahm diese Erhebung furchtbare Formen an. Trotzdem war sie eine gerechte Vergeltung.

Das war die wahre russische Revolution, ein sozialer Zusammenbruch, die Vernichtung des Zarentums durch dessen eigene Waffe, die Auflösung der Armee.

Inmitten des Tumultes der desorganisierten Städte tauchte die Partei der russischen Kommunisten auf, die einzige Gruppe von Menschen, die in dem furchtbaren Wirrwarr zusammenhielt. Die Kommunisten waren keine Arbeiter, waren keine Proletarier – in Rußland gab es eigentlich gar kein Proletariat –; sie waren eine kleine Schar Intellektueller mit einem Anhang von jugendlichen Arbeitern und Studenten. An Matrosen der russischen Flotte fanden sie kräftige Helfer. Sie rissen die Macht an sich, verschafften sich Maschinengewehre und organisierten eigene Streitkräfte, denen unter anderen eine Schar von Chinesen einverleibt wurde; sie kämpften, entwaffneten die Bevölkerung und stellten in den Städten und längs der Eisenbahnlinien leidliche Ordnung her. »Anfänglich mußten sie schießen«, sagte Präsident Masaryk in einem Gespräche, das ich mit ihm führte. »Aber sie schossen immer weiter.«

Sie schossen weiter. Sie waren Männer ohne Erfahrung; viele unter ihnen waren kaum mehr als Knaben; sie waren allmächtig und hatten sich vor niemandem zu verantworten; und sie hatten Blut geleckt. Sie feierten eine Orgie der Blutgier, und Furcht steigerte ihre Raserei. Dann machten sie sich daran, Rußland nach kommunistischen Richtlinien zu reorganisieren, und erklärten, daß das Wort des Propheten erfüllt und das kapitalistische System zu Ende sei.

Rußland ist seither in ihrer Hand. Sie vermögen sich zu behaupten, weil die ›Weißen‹ noch schlimmer sind als sie und weil sie der Einmischung des Auslandes und der Wiedereinsetzung des von den Bauern verabscheuten Großgrundbesitzes steuern. Aber sogar in der Partei selbst scheint einige Ungewißheit über Tragweite und Beschaffenheit der resultierenden höheren Synthesen zu herrschen. Mit der Hegelschen Schlußfolgerung hat es einen Haken: kein System will sich zeigen. Es gibt kein kommunistisches System; der Kommunismus ist eine Verneinung, ein Vakuum, das einen Plan vortäuscht.

Da es meiner Meinung nach auch kein kapitalistisches System gibt, noch jemals gegeben hat, läßt mich sein angeblicher Zusammenbruch in Rußland oder sonstwo kalt. Wenn ich aber bedenke, wie viele Menschen schmählich enttäuscht, wie viele Kräfte nutzlos vergeudet worden sind, einzig und allein infolge einer irrigen Auffassung unserer wirtschaftlichen Nöte, um eines jämmerlichen Zerrbildes willen, das die ganze Vielfältigkeit des zeitgenössischen Lebens auf einen Kampf zweier Systeme herabdrückt, die es niemals gegeben hat, dann gerät mir das Blut wahrhaftig in Wallung.

Ich bin seit der Revolution zweimal und in früherer Zeit mehrere Male in Rußland gewesen. Trotzdem fällt es mir schwer, über die Gesamtheit der jetzigen Verhältnisse dort ein Urteil abzugeben. Mit allen Meinungen, denen ich begegnet bin, von der heftig absprechenden angefangen bis zur begeistert zustimmenden, finde ich mich im Widerspruch. Der Bauer ist seinen Grundherrn losgeworden, und wenn er nun häufiger erschossen wird, empfängt er weit weniger Peitschenhiebe; die Hysterie des Zaren und seiner Gemahlin ist hysterischen Experimenten gewichen; statt Rasputins Auslegung des Christentums findet man Sinowjeffs Auslegung des Marxismus; die Erziehung ist allgemeiner geworden, hat aber, wenn das überhaupt möglich ist, noch geringere Erfolge aufzuweisen als früher; die Eisenbahnen sind schrecklicher denn je; und wenn es heute noch mehr Grausamkeit, Schmutz und Unordnung in den Gefängnissen gibt, so werden dafür weniger Leute nach Sibirien verschickt. Höchstwahrscheinlich haben die Bolschewiken mehr Menschen getötet, als die kommunistische Partei Mitglieder zählt, doch ist dieser Tatsache die weit größere Vergeudung von Menschenleben in den Kriegen des Zarismus entgegenzusetzen. Wenn Sinowjeff freie Hand bekommt, mag das Gespenst eines Riesenkampfes der Steppen gegen Westeuropa Leben gewinnen, es wird sich aber noch allerlei ereignen, bevor Sinowjeff freie Hand bekommt.

Ich will nicht versuchen, das Ergebnis der russischen Revolution endgültig festzustellen – meine Erfahrungen mögen einseitig, meine Eindrücke durch Voreingenommenheit getrübt sein. In Moskau hatte ich reichlich Ärger mit verschiedenen jüngeren Bolschewiken. Ich kann den Typus nicht leiden. Das gegenwärtige ›System‹ dort ist, soweit ich Einblick gewinnen konnte, noch immer das alte russische ›System‹, nur fehlen manche Teile, viele Räder wollen nicht mehr ineinandergreifen. Früher waren Geschäfte in Rußland um den Preis etlicher, mitunter allerdings recht ansehnlicher Bestechungsgelder möglich; heute kann ich überhaupt keine mehr zustande bringen; das ist, für mich zumindest, der augenfälligste Unterschied. Aus alter Gewohnheit legt einem der russische Beamte immer noch Hindernisse in den Weg, schreckt jedoch am Ende infolge der Unsicherheit des neuen Regimes vor Erpressung zurück. So wird jede Unternehmung zu nichts. Das ist begreiflicherweise ärgerlich für einen Mann, der, gleich mir, einen gewissen Stolz in seine Arbeit setzt und sich stets mit mäßigem Gewinn zufrieden gegeben hat.

Die kommunistischen Formeln hemmen alles und haben nirgends größere Freizügigkeit geschaffen. Ich bin zweimal nach Rußland gereist, um etwas von dem Metallreichtum des Landes zu erwerben, den die Bolschewiken erbärmlich schlecht verwalten; unsere Aluminiumwerke in Dornow wären noch zu retten; Dornow ist das einzige Gebiet auf der Welt, wo sich entsprechende Lager für das neue Manson-Verfahren finden. Wenn die Bolschewiken bloß ordentlich arbeiten wollten, würde ich sie gerne im alleinigen Besitze der Werke belassen. Unsere Anlagen gehen ungenützt zugrunde. Man hat mir das eine wie das andere Mal blödsinniges Mißtrauen entgegengebracht, mich wochenlang hingehalten, mich beobachtet und meine Zimmer in meiner Abwesenheit durchsucht, und am Ende bin ich abgewiesen worden – ohne irgend einen vernünftigen Grund. Ich war durchaus willens, über alles und jedes ehrlich Aufschluß zu geben, mit offenen Karten zu spielen; denn ich habe billiges Aluminium und leichte Legierungen mindestens ebenso nötig wie die Kerle ihren Kommunismus. Was in aller Welt gibt ihnen das Recht zu vermuten, sie seien weniger eigennützig als ich? Wie unverschämt!

Ihrer Theorie nach mußte ich eben ein schlauer und tückischer Vertreter des Kapitalismus sein, ein diebischer Geldverleiher, der einfältige, brave Arbeiter zu umgarnen gedenkt; sie selbst hingegen, junge Burschen ohne Erfahrung oder Selbsterkenntnis, fühlten sich als Schutzengel der Menschheit. Sie hegten nicht den geringsten Zweifel an der Richtigkeit ihrer moralischen Wertungen. Ihr Ehrgeiz ging dahin, mich der ›wirtschaftlichen Spionage‹ zu überführen. Dort war ihr schmutziges Gefängnis, und hier stand ich; und sie fürchteten, eine gute Gelegenheit zu versäumen. Wenn ein Kommunist Karriere machen will, muß er Eifer an den Tag legen. Zeigten sie Eifer? Sie wollten nicht hören, was ich ihnen zu sagen versuchte; meine Darlegung galt ihnen als Vorwand. Ein Schafskopf erklärte, meine Auffassung sei eben ›kapitalistische‹ und nicht ›proletarische Wissenschaft‹ – in metallurgischer Chemie! Vergebens rannte ich gegen solchen Stumpfsinn an.

Was kann man mit Menschen anfangen, die allen Tatsachen um sie herum zum Trotz felsenfest davon überzeugt sind, daß unter ihren Händen ein neues und vollkommenes soziales System emporkeimt, das kommunistische System, welches sie gegen die schlauen Tücken des bösen kapitalistischen Systems zu verteidigen haben? Menschen, deren geistiges Rüstzeug in nichts anderem besteht als in immer wachem Verdacht und einer Reihe von Schlagworten, mit deren Hilfe sie jedermanns Absicht mißdeuten können?

Um diese fixen Ideen ist nicht herumzukommen. Man wird auf die eine oder die andere Seite eines Kampfes zwischen völlig imaginären Systemen gestellt; und nach welcher Richtung auch immer man vorstößt, es ist vergebliches Bemühen. Das Material, dessen wir so dringend bedürfen, liegt unberührt in Rußland. Unsere Bergwerksanlagen – die prächtige Anlagen waren, obzwar ich, der ich sie geschaffen habe, sie nicht loben sollte – verfallen und sind weder den Russen noch sonst jemandem von Nutzen.

Die Ursache des ganzen Unfugs ist vorwiegend, wenn nicht durchaus geistiger Art; er beruht auf falschen Behauptungen, genau wie die meisten Religionskriege der Vergangenheit durch falsche Behauptungen hervorgerufen wurden. Eine Kluft tut sich auf zwischen Europa und dem Osten, Millionen von Menschen führen ein dürftiges oder elendes Leben, und das um eines Denkfehlers willen, der in der Auslegung sozialer Wechselwirkungen begangen wurde. Ein alter Herr, der zu wenig frische Luft hat, sitzt im Britischen Museum, leidet an Übersättigung mit Notizen, sucht ungeduldig nach einer Verallgemeinerung der von ihm erhobenen Tatbestände, und auf einmal haben wir diese Ernte von Unkraut. Der Fall erinnert weit mehr an Arius und Athanasius und den Kameltreiber von Mekka, als an Darwin.


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