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3

Von dieser Zeit an wurden Dickon und ich die engen Verbündeten, die wir bis zum heutigen Tage geblieben sind. Bis dahin hatten wir einander nicht viel gesehen; wir waren in verschiedene Schulen gegangen und hatten ein ganz ungleiches Leben geführt; von nun an waren wir fast ununterbrochen beisammen; wir teilten unsere Sorgen und unsere Abneigungen. Wir waren ›die englischen Brüder‹ in einer französischen Schule und – einer wie der andere ein Clissold, ein unterdrückter, doch beharrlicher Clissold, wenn auch eine Zeitlang nur insgeheim, der Welt verborgen. Im Vergleich zu den Tagen von Mowbray waren wir arm, aber nicht sehr arm. Meine Mutter war begütert. Vor Jahren hatte mein Vater in einer Anwandlung von kluger Voraussicht Geld auf ihren Namen schreiben lassen, und zwar insbesondere verschiedene Aktien und Häuser in Belgien und Frankreich. Während unserer Wanderperiode sprach sie häufig und offen davon, daß sie diesen Besitz Vaters Gläubigern zur Verfügung stellen werde, doch erschien keiner, um ihre damalige Stimmung auszunützen. Binnen kurzem legte sie Trauerkleidung an; wir bekamen einen Trauerflor um den Arm. Sie ließ sich unter dem Namen Mrs. Walters in Montpellier nieder, eine verwitwete junge Engländerin, die nur ihren beiden Söhnen lebte. Auch wir mußten uns Walters nennen und alles Clissold'sche wennmöglich sogar in unseren geheimsten Gedanken unterdrücken. Bald war sie die einzige Trauernde unter uns; und wir paßten unser Benehmen immer leichter der Voraussetzung an, daß es uns gezieme, sie zu trösten und für alles zu entschädigen, was sie Schlimmes erlebt hatte.

Sie war mit keinem von uns besonders vertraulich. Mit mir sprach sie immerhin mehr als mit dem schweigsamen und oft in Gedanken versunkenen Dickon. Ich war jünger, von sanfterem Wesen und weit gefügiger. »Ach, Billykins,« pflegte sie zu sagen, »ihr seid das einzige, wofür ich jetzt zu leben habe. Ihr zwei geliebten Jungen.«

Und dann klopfte sie mir auf die Schulter, und ihre Gedanken schweiften sichtlich zu anderen Dingen.

Ein besserer Tröster als wir erschien in den späten August- oder ersten Septembertagen in der Person ihres Vetters, des Mr. Walpole Stent. Er war ein großer, schüchterner, nachdenklicher Mann in Knickerbockers, mit einer sehr hohen Stirn, erfüllt von einem unermeßlichen Heißhunger nach langen, gründlichen, vertraulichen Gesprächen mit ihr. Er pflegte einen Feldstecher in einem ledernen Etui an einem Riemen über der Schulter zu tragen, um damit die Ferne der Landschaft genau zu prüfen. Dieser Feldstecher schien uns unelegant. Er ließ sich in einem kleinen Hotel in der Rue Boussairelles nicht weit von unserem Hause nieder und nahm die unterbrochene, aber nie vergessene Freundschaft mit unserer Mutter wieder auf. Wir gingen mit ihm auf Ferien nach St. Raphael, das zu jener Zeit ein verhältnismäßig noch wenig bekannter Ort war. Er hatte Mutter dazu überredet, so erklärte sie, und sie hatte eingewilligt, weil sie dachte, daß ein Aufenthalt am Meer uns gut tun würde, ehe wir wieder zur Schule zurück mußten.

Durch eine Erbschaft war er Partner einer Londoner Anwaltsfirma geworden, und ich erinnere mich, daß mir die besondere Art seines Verstandes, sein gutes Gedächtnis namentlich, schon damals Eindruck machte. Ich lernte zum ersten Male die für Juristen charakteristische wohlgeschulte Intelligenz kennen. Sie glich einem großen gegen Feuer, Beschädigung und Verwechslungen geschützten Möbellager, dem nichts zustoßen und in dem nichts verlorengehen kann. Mit offenkundigem Vergnügen gab er die banalsten Tatsachen jederzeit in breiter Ausführlichkeit zum besten. Er tat, was er konnte, um unsere Freundschaft zu gewinnen, obwohl er vor allem um unsere Mutter bemüht war. Er war entschlossen, uns zu lieben. Er belehrte mich über Naturgeschichtliches und über Wunder der Wissenschaft, die ich zum größten Teil schon kannte, und Dickon gegenüber legte er ein Interesse für Cricket an den Tag, das zu seinen Spielversuchen im Widerspruch stand. Der treffliche Mann war just das Gegenteil von unserem Vater, und ich sehe ein, daß die Feindseligkeit, die ich seinem Andenken bis auf den heutigen Tag bewahrt habe, eine rein instinktive Reaktion ist, unvernünftig und ungerecht.

Zu Weihnachten tauchte er wieder auf und fand meine Mutter fast nicht mehr in Trauer, fand sie vielmehr munter und hübsch in einem hellgrauen, mit schwarzem Samt geputzten Kleide. Sie hatte sich dieses Kleid bald nach seiner Abreise machen lassen, es aber bisher noch nicht angezogen. Wir bemerkten das wohl, sagten jedoch nichts. Aus seinem Verhalten gegen uns begann väterliche Fürsorge zu sprechen; er erörterte unsere künftige Laufbahn eingehend mit uns – wir mit ihm allerdings nicht. Denn schon waren wir auf der Hut vor ihm. Wir ahnten seine kommende Machtstellung. Ein Jahr nach dem Tode meines Vaters heiratete Mutter ihn.

Sie sagte uns, es geschehe nur um unseres Wohles willen. Sie erklärte uns, daß wir beide der Freundschaft und Leitung eines guten Mannes bedürften. Alle heranwachsenden Jungen brauchten das, wir aber ganz besonders. Sie sei viel zu schwach für uns, sie wisse es. Auch würde sie ihre traurigen Erlebnisse niemals ganz verwinden können.

Das junge Paar verlebte die Flitterwochen in der Schweiz. Wir zwei blieben inzwischen noch in Montpellier. Dann brach die französische Phase unserer Erziehung ab, wir kamen nach Chislehurst und holten im Dulwich College, damals eine fortschrittliche Schule, die eben naturwissenschaftliche Fächer in ihren Lehrplan aufnahm, nach, was wir versäumt hatten. Wir wurden Interne und kamen nur in den Ferien heim. Es gab niemals wirklich Streit zwischen unserem Stiefvater und uns, doch blieben wir einander innerlich fremd. Wir waren zu verschieden. Es ist merkwürdig, wie wenig wir, selbst in den Ferien, tagsüber zu Hause waren. Im Verlauf der nächsten drei Jahre sorgte Mutter hauptsächlich dadurch für unser Wohl, daß sie uns nebst dem neuen Vater auch noch ein Brüderchen und zwei kleine Schwestern schenkte.

Dickon zählte nun schon beinahe neunzehn und ich sechzehn Jahre, und da die Familie Walpole Stent sich mehrte, erkannten wir immer klarer, daß wir darin überflüssig waren. Wir machten den Vorschlag, in das Royal College of Science einzutreten und uns in London niederzulassen. Nach langen, höchst überflüssigen Diskussionen – unser Abgang war offensichtlich für jedermann im Hause eine Erleichterung – wurde unserem Wunsche nachgegeben. Unser Stiefvater liebte es eben, die Für und Wider jeder Angelegenheit ausführlich zu besprechen, und wollte nicht einsehen, daß die längst getroffene Entscheidung eines anderen am besten ohne viele Worte hingenommen wird. Unserer Mutter fiel es nicht schwer, uns aus dem Besitz, den Vater ihr gesichert hatte, ein Taschengeld von je achtzig Pfund jährlich auszusetzen; das war für die damalige Zeit eine ganz erträgliche Summe; wir konnten uns eine Wohnung in Brompton nehmen und miteinander der Welt entgegentreten.

Als alles Wesentliche dieses Umzugs festgesetzt war, brachte Dickon eine uns sehr wichtige Frage zur Sprache.

Die Gelegenheit dazu ergab sich eines Abends. Mutter und der Stiefvater waren bei einem Nachbarn eingeladen gewesen, und wir kamen aus einem Varieté nach Hause, als sie eben eine kleine Erfrischung in Form von Limonade und Biskuits zu sich nahmen. Die Schlafzimmerleuchter standen auf dem Tisch. Wir wechselten einige belanglose Reden; dann stellte unser Stiefvater irgend eine unnötige Frage, die Kurse betreffend, die ich in Kensington hören sollte.

»Weil ich gerade daran denke,« sagte Dickon, ein wenig stockend und mit geheuchelter Unbefangenheit, »jetzt, da wir von hier fortgehen und wohl schon etwas Gras über die Dinge gewachsen ist, sehe ich gar keinen Grund, weshalb wir uns immer noch Walters nennen sollten. Wir werden unter dem Namen Clissold in das College eintreten.«

»Aber, lieber Junge,« erwiderte unser Stiefvater, »weißt du denn – weißt du denn irgend etwas von jener Geschichte?«

»Das meiste«, antwortete Dickon. »Billy hat sie in alten Nummern der ›Times‹ nachgelesen.«

»Und trotzdem – –«, sagte unser Stiefvater.

»Wir möchten nicht unter falscher Flagge segeln«, sagte Dickon. »Wir wollen Farbe bekennen.«

»Wie aber sollen wir es den Leuten sagen?« rief meine Mutter.

»Überhaupt nicht. Hier können wir weiter die Walters bleiben, wann immer wir euch besuchen kommen.«

Er zündete ruhig und bedächtig seine Kerze an, als ob die Angelegenheit erledigt sei. Seine Hand war ganz sicher, meine aber zitterte ein wenig, als ich seinem Beispiel folgte. Mir tat Mutter leid; ich vermied es, zu ihr hinüberzusehen. »Das muß erst noch bedacht werden«, begann mein Stiefvater.

»Wir haben es bedacht«, sagte Dickon und nahm seinen Leuchter. »Kommst du, Billy?«

Mein Stiefvater antwortete nicht sofort.

Dickon ging auf Mutter zu und gab ihr einen Gutenachtkuß. »Gute Nacht, Vater«, sagte er. Es war sehr selten, daß er ihn ›Vater‹ nannte. Auch ich verabschiedete mich von Mutter; ihre Hand suchte die meine, als ob sie sie drücken wollte, doch ließ sie mich sogleich wieder los, und ich stand ebenso scheu und hilflos wie sie selbst. Wir sagten einander nichts – wahrscheinlich hatten wir einander auch nichts zu sagen.

»Aber –!« sagte mein Stiefvater, als Dickon und ich schon an der Tür standen.

»Wenn ich als ein Clissold in die Welt hinaus gehe,« sagte Dickon, »fange ich ganz unten an – jawohl. Aber wenn ich es unter falschem Namen tue, und es kommt heraus, daß ich Richard Clissold der Zweite bin – wie werde ich dann dastehen?«

Er wartete keine weitere Diskussion ab, und mein Stiefvater fand nicht gleich eine Antwort. Er mußte sich seinen Standpunkt erst neu zurechtlegen und damit beeilte er sich niemals.

Immerhin begann er alsbald mit seinen Betrachtungen. Unser Schlafzimmer lag über dem der Eltern, und ich konnte hören, wie er unten mit ruhiger, bedächtiger Stimme sich selbst und Mutter die Situation auseinandersetzte; weitschweifig, gründlich und zwecklos erklang seine Rede – bis ich einschlief.

Mutter hatte es gerne, wenn man ihr etwas des langen und breiten erklärte, obzwar sie eigentlich nie recht zuhörte. Sie war gewiß betrübt über unser Fortgehen, wenn auch auf eine etwas verworrene Art und Weise, und die Reden meines Stiefvaters trösteten sie – nicht etwa, weil er Besorgnisse zerstreut oder Einwände widerlegt hätte, sondern nur weil seine weitschweifige Art etwas Beruhigendes für sie hatte. Dickon und ich lagen noch lange wach; wir sprachen in abgerissenen Sätzen miteinander, tauschten unsere Ansichten über unseren unvergeßlichen Vater aus, über die Welt und über den Kampf, der uns bevorstand, oder wir hingen unseren Gedanken nach, indes unten die endlose Rede weiterging. Ich weiß nicht mehr, was wir einander sagten. Der Klang jener gedämpften Stimme aber, die von unten herauf durch den Fußboden drang, ist so lebendig in mir, als hätte ich ihn eben jetzt erst gehört.


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