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9

Das Zimmer war dunkel, aber es war nicht leer. Ein schwerer Dunst von Medizin schwelte ihnen entgegen, ein tückisch süßer Duft, der den Menschen Gewalt antat.

Von der Straße her kam das Dröhnen der Autobusse durch eine hohe Feuermauer hindurch, der elektrische Ventilator eines Kaffeehauses surrte, und aus den Küchenräumen, die im Keller lagen, kam die keifende Stimme einer Magd. Franzis überempfindliches Ohr hörte einen Menschen atmen.

»Erwin, du gehst jetzt in unser Zimmer und bringst Licht!« Erwin ging.

»Beherrsche dich«, sagte Franziska zu sich. »Morgen ... morgen!«

Als Erwin mit dem Licht wiederkam, war schon der ganze Korridor von Krankenhausluft erfüllt. Er zitterte, tastete an Franzis Gesicht umher, spionierte, ob sie schon etwas wußte. Aber Franzis Gesicht war ruhig, ganz ernst. Nur ihre Arme, nackt unter dem leichten Abendmantel, zitterten. Erwin wagte sich nicht näher.

In einer Ecke nahe dem Fenster lag ein Bündel Kleider, lichtgraue Handschuhe mit weißen Knöpfen schimmerten. Ein Gesicht wie aus Mörtel lag auf dem Dunkel des Teppichs. Ein gieriger Mund, unnatürlich rot, jagte wild, haschte hilflos nach Luft, und nun verstummte er, sammelte sich zusammengekrampft nach einem Schrei, der nicht kam.

»Erwin ... hier ist ein Unglück geschehen. Hole schnell einen Arzt. Oder willst du hierbleiben bei ihr?«

»Nein, ich gehe«, sagte er an der Schwelle.

»Du, ich fürchte, dazu ist nicht mehr Zeit. Rufe nach Menschen, irgendwer kann nach einem Arzt telephonieren. Unten, beim Portier, sah ich eine schwarze Kiste. Vielleicht ist irgendein Gegengift da. Schnell, nur schnell! Inzwischen will ich mich um sie kümmern. Vielleicht ist es gar nicht Gift. Ich sehe, sie blutet. Sie blutet aus dem Mund ... Fort! Worauf wartest du?«

Hedy lag da, die Hände mit den Handschuhen hatte sie ein wenig aufgestützt. Die Blutstropfen flössen auf ein weißes Spitzenjabot. Sie hatte Mantel an und Hut, sie war ganz angekleidet. »Sie wollte gerade weggehen«, dachte Franziska, »als es über sie kam. Es ist ein Glück, daß ich die Tür geöffnet habe, sonst läge sie vielleicht hier im Dunkeln ganz allein und verblutete sich.« Sie nahm ein Taschentuch und legte es auf Hedys Mund. Da fühlte sie, wie dieser Mund sich mit allen Muskeln im Kampf anspannte, als würge er an einem eisernen Bissen. Große Augen wurden aufgerissen und schimmerten matt, halb verschleiert wie mit Asche bestreut.

Franzi sah fort. Hedys kleine Finger bewegten sich wie in Fünffingerübungen auf einem stummen Klavier. Neben ihnen aber, ihnen bereits unerreichbar, lag ein kleines Fläschchen da, dessen Hals zackig aufgebrochen war.

Franzi erschauerte. »Ich habe nie einen Menschen sterben sehen«, dachte sie. Sie fühlte etwas, das nie in ihr gewesen war die ganzen Jahre hindurch, das sie tiefer rührte als ihre Musik.

Mit unentrinnbaren Fingern griff dieser fürchterlich verendende Mensch nach ihr. Ihr nach, ihr entgegen: und sie fühlte, ihre eigenen aufgerissenen Augen lagen mitten in Hedys Augen.

Wie kann ich atmen, weiteratmen, wenn diese da nicht mehr atmet? Sie stand auf. »Wir haben uns nie gekannt. Wo war sie, wo war ich! Aber was wäre mein Leben geworden ohne sie! Sei klug! Beherrsche dich! Du kannst nichts für sie tun. Wir alle leben unser schweres Leben. Der Tod ist nicht das schlimmste. Man sollte nicht versuchen, sie zu retten. Zu welchem Leben retten? Wem zuliebe? Ich muß sie hier liegenlassen, das tut ihr wohl; ich aber will leben, weiterleben, als hätte ich sie nie gekannt. Habe ich wirklich nie einen Menschen sterben sehen? Ist nicht meine Mutter vor meinen Augen gestorben? Was kann mir dieses fremde Mädchen sein? Man darf sie nicht anrühren, nur ein Tuch über sie. Ich aber muß fortsehen, sie liegenlassen.«


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