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3

Sie kamen um sechs Uhr abends in Prag an. Diemitz war im Hotel Majestic nicht mehr anzutreffen. Franziska hinterließ ihm ein Billett, in welchem sie ihn um eine Unterredung für den nächsten Tag bat. Dann ging sie mit Erwin Arm in Arm in den weichen, beinahe parfümierten, durchsichtig klaren Frühlingsabend.

Nach der Unruhe der letzten Tage kam jetzt eine sanfte Müdigkeit über sie, wie sie ein Kind empfindet, das sich nach langer Reise zum erstenmal wieder auf den altgewohnten heimischen Kissen zur Ruhe legen darf, und weiß, kein Fremder darf es aufwecken, kein ungewohnter Lärm wird die Stille seines Schlafes stören.

Sie kamen an den Altstädter Ring. Franziska merkte, daß sie Hunger hatte. Ein kleines Restaurant war in der Nähe. Gelbe, nachlässig gefaltete Vorhänge waren vor die großen Fensterscheiben gezogen. Als Franzi sie wegstreifte, sah sie das große Zifferblatt am Altstädter Rathaus vor sich, das in goldenen Lettern, in zerschnittenen Kreisen, von barocken Figuren durchschnitten in einem gotischen, steingrauen, hohen Gehäuse verworren blinkte. Ein fremder Glockenschlag, tief und warm wie eine menschliche Stimme, klang herüber in den Restaurationsraum. In der Mitte des weiten Platzes sprang ein Brunnen: Zwei taubengraue Delphine aus glattem Stein hielten sich eng umschlungen. Beide warfen aus weiten Nüstern steile Wasserstrahlen in die Höhe, die im Scheine der Bogenlampen wie silberne Hörner glänzten. Franzi hielt den Atem an, und nun glaubte sie, das verhaltene Brausen des Wassers zu hören. Ein Kellner kam, streifte den gelben, schmutzigen Lüsterstoff des Vorhanges über das Fenster, verhing das Bild des alten Platzes, das von edelgeschwungenen Arkaden umgrenzt, von einem tiefblauen, sehr versunkenen Himmel überstrahlt, Franziska an die Märchenphantasien ihrer Kindheit erinnerte.

Franziska und Erwin aßen schweigend. In einer kleinen Karaffe stand Melniker Wein vor ihnen und glänzte machtvoll purpurn im Glas. Der Tropfen, der zurückblieb, schimmerte leicht rosa wie ein dem Grunde des Bechers angeschmiegtes Rosenblatt.

Erwin, den das Schweigen drückte, zog den Vorhang zurück; seine dunkle, starke Hand, erst vom Gelenk aufwärts weiß und zart, schlichtete mit behutsamer Gebärde die Falten des gelben Stoffes. Etwas Längstvergangenes wurde in Franziska wach. Sie errötete und sah an ihm vorüber auf den verlassenen Platz. Die Nacht hatte alles in sich aufgenommen, hatte das Zifferblatt der Uhr, die gewölbten Arkaden, die Delphine, so eng verschlungen, selbst das silbern strahlende Wasser ausgelöscht. Das zarte Dunkel glich dem Dunkel in Erwins Zimmer, der grün schimmernde Frühlingshimmel leuchtete wie im Widerschein von Erwins kleiner Studierlampe, die nun verlassen in dem einsamen Zimmer stand und nie mehr von Erwins Büchern auf ihr von Glück und Schmerz geblendetes Gesicht hinüberleuchten sollte.

»Wenn ich nur glauben könnte, Erwin, daß einer von uns diesen bösen Tag vergißt, dann würde ich dich bitten: Vergiß! Verzeihe mir.«

»Ich – dir?«

»Wir haben beide schuld. Ich war heute schlecht zu dir. Ich habe dich verachtet, ohne zu wissen warum. Vorgestern war ich schlecht, ich habe dich geliebt, ohne zu wissen warum. Hab' ich dich geliebt? Nein, nicht sprechen ... Bitte, nicht! Beides willst du mir nicht verzeihen. Ich verstehe sehr gut, weshalb du mein altes Notenheft nicht mehr willst.«

»Nein, Franziska, so war es nicht gemeint.«

»Wie denn sonst? Es wird jetzt alles so verwickelt, und davor graut es mir. Ich habe Angst, eine gute, starke Herzensliebe wird es nie mehr zwischen uns beiden geben. Nur das Einfache ist stark. Und schön ist auch nur das Einfache. In meiner Musik ist es so, und im Leben sollte es anders sein? Nein, du bist nur gezwungen mit mir gegangen, und heute hast du mir gezeigt, wie schwer es dir fällt, wenn ich ... wenn ich die ganze Zeit bei dir bleiben soll. Nein, sprich nicht, ich weiß doch ganz gut, wie dir zumute ist. Und deshalb, Erwin, lassen wir es genug sein mit diesem Abend.«

Sie schwieg. Aber seine Augen leuchteten und hingen an ihrem Mund.

»Nein«, sagte Franzi, »sieh mich nicht so an, bitte, ich habe dich sehr lieb gehabt, und deshalb war alles schön, und jetzt, aber jetzt, gerade weil ich vor zwei Tagen mit dir so ganz zusammen war, deshalb wollen wir lieber jetzt ein Ende machen als in einem halben Jahr.«

Er schwieg.

»Und nun, Erwin, erzähl' doch von ihr. Sprich ganz ruhig, denke, ich wäre ein Freund, dem du von Hedy erzählst. Nein, erst gib mir mein silbernes Kettchen zurück; Minna hat es mir vor zehn Jahren geschenkt. Sie würde mich danach fragen, wenn ich ohne das Kettchen käme. Ich muß jetzt zu ihr gehen. Nicht wahr, so ist es doch am besten? Nein, behalte es, alle fremden Leute mögen sagen und fragen, was sie wollen, mir ist es ganz gleich. Nur eins: wirf es fort in eine Ecke, oder auf die Schienen wie deine Bücher, aber gib es nicht ihr. Dann sollst du auch ihr nicht von mir erzählen, Erwin. Du sprichst gern. Wie ein Kind schüttest du dein Herz vor jedem Menschen aus. Fremd oder bekannt, gut oder schlecht, du muß sprechen. Du hast ihr doch wohl auch von mir erzählt? – Sage doch, Erwin, hast ihr alles erzählt?«

»Ich habe kein Wort mit ihr gesprochen.«

»Nein, die Wahrheit, Erwin! Sieh, wie ein Kind schwindelst du manchmal. Das bist du nicht gewöhnt, und man sieht es dir an. Du bist doch nicht des Patentes wegen nach Berlin gefahren?«

»Nein, Franzi, ich wollte wissen, wen ich liebe, dich oder Hedy. Das war alles.«

»Jetzt, Erwin, ist alles gut. Ich erinnere mich, du hast es mir schon einmal gesagt. Ich glaube dir. Und du bist ja auch in der kürzesten Zeit wieder zurückgekommen. Wie ein Schuljunge, der zwar nicht in der Schule war, sondern im Walde bei den Erdbeeren, der aber pünktlich heimkommt, genau zum Glockenschlag. Aber wie wäre es gewesen, wenn du – wenn ihr gemerkt hättet, daß ihr euch noch liebt? Wärst du dann auch zurückgekommen, um es mir zu sagen?«

»Nein, Franziska«, sagte er bedrückt. »Laß mich doch endlich reden! Ich glaube, wir haben einer den anderen doch noch lieb, trotz allem. Aber deine Liebe und Güte, Franziska, das kam zu schnell. Ich wußte nicht mehr recht, wo ich war. Ich wußte nicht, ist dort drüben alles zu Ende, weil ... Und wenn es so gewesen wäre, wie du gesagt hast, dann wäre ich nicht zurückgekommen, nicht einmal zu dir. Mir liegt am Leben nichts.«

»Kannst du ihr nicht verzeihen?«

»Vielleicht vergessen. Ich habe mich ihrer geschämt und meiner auch. – Nein, es ist vorbei, es kommt nie mehr wieder. Es wäre mir schrecklich gewesen, wenn ich dich nicht mehr daheim getroffen hätte. Glaube mir! Aber unerträglich für einen Menschen wie mich, im tiefsten Grunde unerträglich wäre es gewesen, wieder neben ihr zu gehen und sie zu küssen.«

»Und doch hast du sie sehen wollen. Deine Worte helfen mir nicht darüber hinweg, und wenn du mich heute noch so glücklich machst, die Franzi von vorgestern nacht verzeiht dir nicht. – Komm, laß uns gehen.«

Sie stand auf und wandte sich zur Tür. Von der Straße sah sie durch die Spiegelscheiben noch einmal in das verlassene Zimmer zurück.

Unter einer launenhaft flackernden Gasflamme lehnte der Kellner in seinem schmutzigen schwarzen Frack und blinzelte mit den müden Augen. Das Lokal war fast leer. Auf dem weißen Tischtuch standen die zwei Weingläser, und auf ihrem Grund glitzerte noch ein letztes Rot wie ein vergessenes Rosenblatt oder wie ein Tropfen Blut. Erwin und Franzi gingen unentschlossen über den menschenleeren Platz hin.

Der Brunnen mit den Delphinen rauschte ihnen aus der Dunkelheit entgegen. Als sie aber näher kamen, sank die Wassersäule langsam, ein paar Wellen schlugen an die steinerne Brüstung, dann wurde das Wasser ruhig. Von fern schlug eine Glocke neun Uhr. Franzi tauchte die rechte Hand ins Wasser. Es schien ihr lau, es drängte die Hand empor wie ein Polster, das eine Hand niederdrücken will. Spaziergänger kamen vorbei, der Rauch einer Zigarre wehte ihr ins Gesicht. Sie hätte immer hierbleiben mögen und wußte doch nicht, was sie hier hielt: Müdigkeit oder Erwin, die letzten Augenblicke von Erwins Nähe. Sie nahm seine Hand und tauchte sie ins Wasser. »Sieh doch, wie warm es ist«, sagte sie.

»Komm, Franzi«, sagte er, »wir müssen gehen.«

»Nein, Erwin, wir ... Nein, du weißt doch – Genug Abenteuer. Vorgestern, gestern, heute ... Wenn du willst, können wir heute nacht noch unter dem gleichen Dach schlafen, ich möchte Minna nicht gern wecken. Sie plagt sich ohnedies den ganzen Tag. Aber ... du vergißt doch nicht ...«

»Nein«, er wollte ihr die Hand geben, »ich halte mein Wort.«

Franzi dachte: Welches Wort? War nicht jedes Wort ein gebrochenes Versprechen?

In der Nähe des Platzes mit dem Delphinenbrunnen lag ein uralter Gasthof. Er schien schmutzig, und eine gelbe Laterne blakte verdächtig. Erwin zögerte.

»Ich bin schrecklich müde«, sagte Franzi, »mir ist es ganz gleich, wohin du mich führst.«

Sie bekamen ein großes Zimmer mit drei Fenstern. Der Fußboden war mit gebleichten Schieferfliesen gedeckt, die uralten Mauern hatten fast Meterdicke, der Raum war behaglich und still.

Erwin löschte die Kerze, die der Kellner neben einen Meldebogen auf die schwarze, schwer geschnitzte Kommode gestellt hatte. Seine Finger waren noch feucht von dem Wasser des Brunnens. Der Docht krümmte sich, knisterte lange, und Franzi sah, wie vor zwei Tagen, vor unendlich langer Zeit, ein Wölkchen von dem erloschenen Licht emporsteigen, zart und wehend wie eine weiße Feder.

Erwin stand am Fenster. Sein Schatten fiel schwer über den hellen Boden. Die frisch überzogenen Betten waren feucht. Franziska fröstelte und hielt sich mit beiden Händen an der Decke fest. Von überallher duftete es nach Hafer und Kamillenblüte.

Franziska wagte nicht, Erwin gute Nacht zu wünschen. Sie hatte Angst, der Klang ihrer Stimme könnte ihm verraten, was sie sich selbst nicht zu verraten wagte. Unbewegt sah sie auf den Fußboden hin, auf den dunklen, schwerfälligen Schatten, den Erwins Gestalt warf. Plötzlich schien es ihr, als ob er sich umgewandt habe und sie mit ungeheuren Augen anstarre. Sie sah, wie er näher kam, aber er blieb doch fern.

In diesem angstvollen Warten überraschte sie der Schlaf.


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