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8

Die zwei Zimmer, die Erwin gemietet hatte, befanden sich in einem verlassenen fürstlichen Palast. Eine Karmeliterkirche war in der Nähe; überall standen Kirchen: aus dem Tal ragten Türme, und auf den Höhen des Hradschin wuchtete blaugrau der Dom. Die ganze alte Stadt jenseits des Flusses schien aus leeren Kirchen und vereinsamten Adelspalästen zu bestehen. In diesen waren jetzt schläfrige Bureaus untergebracht, und kaiserliche Adler mit weit ausgebreiteten goldenen Schwingen leuchteten vor den Portalen.

Das hohe Haus war ganz unbewohnt, mehr als eine Flucht von Zimmern war leer. Schlanke weiße Türen mit Messingbeschlägen wurden nie geöffnet, und der kleine Hausgarten, in dem ein alter Nußbaum und ein paar Ziersträucher verwilderten, blieb streng verschlossen, ebenso der Keller und der Dachboden, durch dessen Sparren man jahrhundertelang aufbewahrtes Gerumpel, fürstliche Sessel und zerbrochene Wiegen mit geschnitzten Wappen sowie lahme Spinnrocken und durchlöcherte Waschmulden matt schimmern sah, wenn sich die Sonne durch eine Dachluke hindurchtastete. – Die dunkle hölzerne Treppe blieb selbst in der stärksten Sonnenhitze immer etwas feucht und kühl, und so zeigte der alte Palast seine Gastfreundschaft schon beim ersten Schritt über die Schwelle. Unabsehbar groß breitete sich unter ihrem Fenster der Park des Fürsten aus. Ein grünes, hügeliges Gelände, von steinernen Mauern umschlossen; lichte Parkwege zogen sich durch grüne Wiesen, uralte Bäume dunkelten, hohe Villen standen weiß da, in den Fenstern brach sich die Sonne abends stets zu fast gleicher Stunde ... winzige Pavillons, weich umrankt, versteckten sich, und ihre Holzwände, die mit der Zeit goldbraun geworden waren, schimmerten sanft unter dem dichten Grün ... Breite Marmortreppen stiegen empor, eine steinerne Sphinx lag da und wachte. Aber in der Ferne glänzte neben einer ganz verfallenen Hütte und künstlich verwildertem Gebüsch à la Jean Jacques ein winziger Wasserfall.

Die Vermieterin der Zimmer, Frau Teresa Smrtka, eine alte Postoffiziantenwitwe, hatte nach einem Legat der verstorbenen Fürstin Lurion ein Recht auf die lebenslängliche Benutzung von drei Gesindezimmern und einer Küche. Dafür war sie verpflichtet, die Wohnung zu bewachen, während einem Obergärtner und zwei Gehilfen die Obhut über die großen Gärten und die kleinen Häuschen darin übertragen war. Frau Smrtka hatte immer gehofft, ihr Sohn, ein Lackierergehilfe, würde mit seiner Frau die Wohnung beziehen. Aber die junge Braut hatte stolz erklärt, sie wolle und könne in keiner Küche kochen, die keine eigene Wasserleitung habe. Die Schwiegermutter hatte sich zwar erboten, das Wasser in hölzernen Kübeln aus dem Brunnen im Hofe heraufzuschaffen, aber der Sohn hatte sich gegen diese Lösung gesträubt und mit einem Blick auf das Mädchen gesagt: Seiner lieben Mutter solch eine Arbeit zuzumuten wäre doch eine unglaubliche Roheit von ihm. Sie solle ihn doch nicht für so gemein halten. Dann waren beide abgezogen, nicht ohne von der alten schwachen Frau einen Wohnungszuschuß für ihren neuen Haushalt erpreßt zu haben, den sie in einem modernen Zinshaus in Zizkow gründen wollten. Die Mutter hatte ihnen mehr als die verlangte Summe bewilligt. Nach einigen Monaten aber sah sie sich gezwungen, ihre Ersparnisse anzugreifen, da sie von dem Rest der ohnedies schmalen Pension nicht leben konnte. Diese Ersparnisse sollte aber einmal der Sohn erben, damit es nicht hieße, sie hätte alles Geld durchgebracht. Nun hatte sie sich entschlossen, die Zimmer zu vermieten. Als erster Mieter war Erwin erschienen, der die Zimmer zwar altmodisch, aber sehr nett fand und sogleich den Mietschilling erlegte.

Die alte Frau war außer sich vor Freude; Franzi sollte den ganzen Tag und die ganze Nacht spielen können. Sie selbst liebte ja die Musik über alles, obwohl sie mit den Jahren ein wenig schwerhörig geworden war. Erwin mußte zu einer Tasse Kaffee bleiben. Aber die Vorbereitungen zu dieser für die alte Frau nun schon ungewohnten Mahlzeit hatten so lange gedauert, daß Erwin zu spät zu Franziska kam, nachdem er sich an dem ebenso heißen als dünnen Kaffee die Zunge verbrannt hatte. – Es war noch aus den Zeiten des Herrn Hubert Smrtka ein Klavier vorhanden, welches der Sohn noch als Lackiererlehrling mit einem schachbrettartigen Muster neu bemalt und gefirnißt hatte. Herr Smrtka, trotz seinem böhmischen Namen ein überzeugter und eifriger Anhänger der deutschen Partei, war für einen Postbeamten sehr musikalisch gewesen, und das Instrument erwies sich, nachdem es gestimmt worden war, als ausgezeichnet.

Franziska wollte Erwin nicht mit dem Anhören der Fingerübungen quälen, sondern kaufte ein sogenanntes stummes Klavier, das bloß Tasten, aber keine Saiten hatte. Die Arbeit an diesem leblosen Instrument, das doch nicht ganz stumm war, sondern hölzern klapperte, strengte Franziska sehr an, aber sie brachte gern dieses Opfer und freute sich, wenn sie Erwin ruhig über seinen Büchern sah, während sie selbst zum hundertsten Male die Sextengriffe links in chromatischer Folge übte.

Das Suchen der Wohnung war die einzige Mühe, die sie Erwin aufgebürdet hatte; nun aber sorgte sie mehr für ihn als für sich selbst. Sie war es, die die notwendigen Anschaffungen besorgte, die Erwins Koffer aus der Heimatstadt bringen ließ und zum Bahnhof ging, um sie abzuholen. Es war um diese Zeit, Mitte Juni, schon ziemlich heiß, und Franziska blieb nach der Rückkehr vom Bahnhof im kühlen Hausflur stehen, um sich ein wenig auszuruhen. Da hörte sie das Klavier, ihr Klavier, von ungeübten Händen angeschlagen. Erwin konnte es nicht sein, denn er liebte die Musik nicht.

Sie lief zornig und unruhig die feuchte Stiege empor, atemlos kam sie in ihrem Zimmer an. Auf dem Sessel vor dem Klavier saß Minna und konnte ein ausgelassenes Lachen nicht schnell genug unterdrücken. Erwin lehnte an dem Notenschrank, und Franziska sah jetzt auf seinem Gesicht eine sorglose Heiterkeit, die er in ihrer Gegenwart nie zeigte.

Minna war aufgestanden und wollte sich bei Franzi wegen des Klavierspiels entschuldigen.

»Ach, das schadet dem alten Kasten ohnedies nichts«, sagte Erwin geringschätzig. »Spielen Sie nur, sooft Sie wollen, Franzi hat sicher nichts dagegen.«

»Ich habe so selten Zeit«, sagte Minna, erschreckt durch Franziskas harten Blick. »Sei nicht böse, Franzi, daß ich heute gekommen bin, der General –«

»Schon gut«, unterbrach sie Franzi, »ich wäre morgen oder übermorgen ohnedies zu dir gekommen.«

»Ja?« Minna lächelte.

»Meine alte Schuld hat mich gedrückt«, sagte Franzi kalt. Sie ging und brachte zwei Banknoten und legte sie Minna auf die Tasten des Klaviers hin.

»Ach, Franzi«, stotterte Minna, die sich vor Erwin schämte, »das war doch ein Geschenk!«

»Nun, ich schenke es dir jetzt wieder zurück. Deshalb mußt du doch kein böses Gesicht machen. Jetzt geht es mit eben besser als dir. Habe ich nicht das Recht, dir etwas zurückzugeben, was du mir in hungrigen Zeiten geliehen hast? Ich weiß doch ganz gut, daß es dir damals von Herzen kam.«

Erwin war erregt hin und her gegangen. Nun blieb er vor Franzi stehen und starrte sie an. Es war still.

»Keine Szene«, sagte Franzi leise zu ihm; sie wandte sich Minna zu, indem sie sich zu einem Lächeln zwang:

»Setz' dich doch, Minna, und erzähle, wie es dir geht.«

Aber Minna hatte keine Zeit. Sie mußte eine alte Krankenschwester besuchen, die jetzt in der Irrenanstalt Dienst tat. Sie suchte ihre milchfarbenen baumwollenen Handschuhe zusammen, die unter dem Klaviersessel lagen, und verabschiedete sich.

Franzi hatte ihre Schwester nicht sehen wollen. Sie fühlte sich in deren Schuld, war unfähig, diese Schuld an Güte und Aufopferung auch nur zum kleinen Teile abzutragen, deshalb wich sie Minna aus.

Wäre Erwin nicht gewesen, so hätte sie mit ihr zusammengewohnt. Mit ihrer Hilfe hätte Minna Krankenpflegerin werden können. Das war Minnas Ideal, ihr einziger Wunsch. Franzi hatte so sehr Angst, die Schwester könnte sie um Beistand bitten, daß sie sie noch gar nicht aufgesucht hatte. Ja, sie mied sogar die Gegend des Wenzelplatzes, in der Meinung, daß Minna nie aus dem Bereich des Platzes und der umliegenden Straßen herauskäme.

»Du benimmst dich empörend«, sagte Erwin, als Minna gegangen war.

Franziska zuckte die Achseln.

»Wie konntest du ihr nur das Geld vor die Füße werfen! Das hätte ich dir nie zugetraut. Sie glaubt nun, du schämst dich ihrer, weil sie eine Dienstmädchenschürze trägt.«

»Ich schäme mich ihrer durchaus nicht. Ich habe ihr bloß ein Geschenk zurückgegeben. Und wenn das schlecht ist, von wem habe ich das gelernt, wenn nicht von dir? Lieber Erwin, erinnerst du dich nicht mehr des Notenheftes?«

»Du hast mich beleidigt, indem du sie beleidigt hast«, sagte Erwin mit leiser Stimme. »Ich habe deine Schwester unten im Haustor auf dich warten sehen, ich habe sie eingeladen. Entschuldige, unterbrich mich nicht. Ich habe ihr gestattet, Klavier zu spielen. Und ich schreibe ihr heute, daß sie jeden freien Tag mit uns verbringen kann, wenn ...« »Mit mir, Erwin, wenn du unbedingt willst, aber nicht mit dir!«

Und als Erwin sie erstaunt ansah, sagte sie mit ihrem Lächeln, zärtlich und brutal zugleich:

»Du gehörst mir, mir ganz allein. Weißt du das noch immer nicht?«

Erwin starrte sie böse an.

»Es ist doch deinetwegen«, sagte Franzi. »Ich kann nur einen Menschen lieben, einen einzigen. Verlang' von mir, was du willst, aber verlang' es nur für dich allein. Du kennst mich nicht. Aber ich kenne mich. Nimm eine Axt und schlage das Klavier hier zu Brennholz, ich werde nichts sagen, ich werde dir sogar dabei helfen, wenn es sein muß. Aber ein anderer darf das Klavier nicht einmal mit einem Finger anrühren, oder ... Schlecht oder gut, ich bin so und kann nicht anders sein. Ich lüge nie, das weißt du ...« Und mit einem starken Blick: »Ich habe keinen vor dir ›du‹ genannt. Das Du ist mein Trauring. Ich habe nie einen Menschen nötig gehabt. Ich habe ... Weißt du ... wie ich es meine? Und jetzt Friede, nicht wahr? Deine Koffer werden morgen früh kommen; der Spediteur ist bezahlt.« Und ohne ein Wort der Antwort abzuwarten, setzte sie sich ans Klavier.


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