Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dritter Teil

1

Nach traumlos tiefem Schlaf erwachte Franziska. Strahlend, noch immer gegenwärtig, lag ihr Glück hinter dem Dunkel dieser Nacht. Sie war müde, aber sie bereute nicht. Als sie ihr weißes Sonntagskleid Erwin zu Ehren anzog, als sie Erwin zuliebe die D-Moll-Sonate von Beethoven auf das Klavier legte, empfand sie, wie nahe sie der Franziska der letzten Nacht verwandt war.

Zum erstenmal seit vielen Jahren ließ sie an diesem Tage die Tasten des Klaviers unberührt. Ihr erster Klang sollte Erwin gelten, ihrem einzigen Besitz: denn sie fühlte, die gestrige Nacht war mehr als ein Versprechen, es war ein Gelübde, und legte ihr ganzes Dasein in Erwins Hände.

Ihre Müdigkeit war so groß, daß Stunden des Schlafes und des halbwachen Hindämmerns einander so leicht und ohne Erschütterung folgten wie Licht und Schatten auf einer Wiese, über welche Wolken hinwegziehen. Als aber der Abend kam, wurde Franziska ängstlich, wehrte sich stärker gegen den Schlaf, um Erwins Pochen an der Tür nicht zu überhören.

Nun flog der Schall eilender Schritte zu ihr empor, ungemessenes Glück versprach ihr jäh aufbrausendes Gefühl. Sie lief zur Tür und sah gerade noch die aufgeschlagenen, mit grauer, schon verblichener Tinte beschriebenen Notenblätter auf dem Pult, gedachte mit befreitem Lächeln der langen Stunden, die sie vor einem Jahre dem Abschreiben der Sonate gewidmet hatte, öffnete die Tür zu freudigem Willkommen und sah das erstaunte Gesicht des Telegraphenboten von gestern vor sich. Wortlos nahm sie das gefaltete Formular entgegen und ging in ihr Zimmer zurück. »In diesem Telegramm muß etwas Böses stehen«, dachte sie. »Muß?« Sie ließ die Depesche liegen, wollte sie erst in Erwins Gegenwart öffnen. Es wurde dunkel. Sie zwang sich zur Ruhe, wartete, trat nochmals auf den Treppenflur hinaus, lauschte auf Erwins Schritt, alles blieb lautlos still. Und sie öffnete das kleine Blatt.

»Kann nicht kommen. Muß dringend verreisen. Baldiges Wiedersehen. Erwin.«

Nichts rührte sich, alles blieb lautlos still. Sie legte das Papier wieder zusammen, ging in ihr Zimmer zurück, öffnete die Kommode. Verbarg das Telegramm unter den vertrockneten Veilchen. »Es ist ja doch von Erwin«, dachte sie. Eine Weile blieb sie auf den Knien vor der geöffneten Lade. Das Knie, von gestern abend noch wund, begann zu schmerzen. Langsam stand sie auf, unterdrückte mit großer Mühe die aufsteigenden Tränen, schloß das Klavier, wollte in plötzlicher Wut das Notenheft zerfetzen – riß es an sich, fühlte ihr Herz rasend dagegen pochen. Sie atmete auf, tief, glättete dann behutsam die schon zerknitterten Seiten. Dann warf sie sich in der tiefsten Erbitterung ihrer jungen Seele über die vertrockneten Veilchen, zertrat, zerstampfte sie mit den Füßen auf dem Boden. Mit den Absätzen ihrer Schuhe zerfetzte sie das Telegramm.

»Es ist doch alles umsonst«, dachte sie, »er müßte dabei sein und es sehen. Warum ist er nicht hier? Könnte ich ihn nur zwingen. Nein, nicht ihn, mich!«

Sie schleuderte das Batistkleid von sich, als wäre es etwas Schmieriges, Ekelhaftes, stopfte es in den kleinen Koffer, der noch von gestern dastand, legte dann ruhiger die Wäsche und ganz zu oberst mit zarter Hand einige Notenhefte darüber und wollte zur Bahn. »Aber ich habe nicht Geld genug«, dachte sie, stellte den Koffer in die Ecke, verließ das Zimmer und versperrte die Tür. »Wozu? er kommt ja doch nicht mehr.«

Sie dachte an Geld: Daß es doch noch etwas wie Geld gibt! Nicht bloß Erwin allein. Das tat ihr wohl. Auf dem Wege zu dem Kaufmann Osterkorn begegnete ihr Frau Reichner, die Totenwäscherin, und grüßte mit einem lauernd freundlichen Lächeln. Franziska stieg die Treppe hinauf und läutete. Nichts meldete sich. »Es muß doch jemand zu Hause sein«, dachte sie, »denn die Reichner kam ja eben von hier.« Sie ging in den Laden hinab, sah Herrn Osterkorn schon auf sie warten. Ein hämisches Grinsen verzerrte seinen Mund. »Und doch muß es sein«, dachte sie. »Es ist ja nur Geld.« Sie bat ihn, mit ihr in sein Kontor zu gehen. Dort erzählte sie, daß sie ganz unerwartet eine große Ausgabe habe; er möge das Geld für die Lektionen des kommenden Monats im voraus bezahlen. Das habe er ja früher mehr als einmal getan. Aber er schüttelte den Kopf, und sein argwöhnischer Blick tastete lauernd an ihrem Gesicht und an ihrer Gestalt herum.

»Bedaure«, sagte er schließlich mit heuchlerischer Milde, »das kann ich leider nicht, denn im kommenden Monat wird unsere Elise keine Stunden nehmen. Vielleicht später. Sie entschuldigen mich doch? Ich bedauere tatsächlich, aber die Kunden warten.«

Franziska ging. Die Empörung hob sie anfangs über den schmählichen Augenblick hinweg. »Die Reichner hat ihnen erzählt, daß ich bei Erwin war. Nun wollen sie meine Klavierlektionen nicht mehr. Meine Arbeit ist das Zehnfache wert; sechzig Heller sind ihnen zuviel.« Mit erneuter Gewalt erwachte die Erinnerung an Erwin. Alles fand sie begreiflich, Elises elendes, nervenmarterndes Spiel, Frau Reichners unverhüllte, mit reiner Lust am Bösen betriebene Spionage, selbst Kaufmann Osterkorns Pharisäertum. Alles begriff sie, nur eins nicht: Erwins Flucht. Wo er sich nun umhertrieb, das war ganz gleich. Daß er nicht bei ihr war, im ersten Augenblick, da sie ihn brauchte, erschien ihr nicht nur lieblos, sondern auch feig, unmännlich, charakterlos. Das verzieh sie ihm nie.

Sie blieb vor einem schrecklichen Ereignis nicht stehen. Sie setzte mit fester Hand ihr »Gut« oder »Böse« darunter und fand darin wenigstens für die ersten Stunden kümmerlichen Trost. – Trotzdem blieben die nächste Nacht und der nächste Tag fürchterlich. Immer hatte sie den Schritt Erwins auf der Treppe im gequälten Ohr. Endlich fühlte sie den Schlaf kommen, auf zarten Füßen, wie über eine Wiese, da legte sich ihre Wange auf das warm gewordene Kissen wie an Erwins Brust. Ihr graute, sie machte Licht und sah die Leinwand feucht von ihren Tränen.

Am nächsten Tage erwartete sie mit Ungeduld Henriettes Kommen. Sie ging im Zimmer umher, sie wich dem Klavier aus. Sie fand so schwer den Mut, sich an den Flügel zu setzen. Endlich hatte sie ihre Schwäche überwunden, endlich das erste Stück, eine Ballade von Chopin, begonnen. Aber sie spielte schlecht. Sie schämte sich. Sie hatte nie so schlecht gespielt wie an diesem Tag. Aber sie erzwang das Gelingen. Stunden auf Stunden gingen darüber hin. Mit den letzten, endlich, endlich machtvoll klingenden Akkorden fühlte sie sich beruhigt; zum erstenmal seit vierundzwanzig Stunden trat sie über die Schwelle und ging den Weg zur Bahn. Morgen war der erste Wochentag, heute abend muß Henriette kommen. Noch im Schatten des Hauses ging Erwin schnell an ihr vorüber, erkannte sie erst jetzt und kam ihr nach.

»Franziska!«

Sie ging unbekümmert weiter.

»Franziska«, sagte er, nun an ihrer Seite. »Verzeih mir doch! Entschuldige mich! Glaube mir, ich mußte fort.«

Sie schwieg.

»Du schweigst? Warum siehst du mich nicht an?« Sein Schritt wurde müde.

»Geh, bitte, laß mich allein«, sagte sie. – Aber dieses Nein machte sie nicht so glücklich, als sie erwartet hatte. Als sie Henriette beim Ausgang des Bahnhofes begegnete, warf sie sich wortlos und ohne Tränen, aber mit der ganzen Kraft eines vollständig verzweifelten Menschen an ihre Brust.

Erwin wartete immer noch vor dem Haustor.

Franziska kam Arm in Arm mit Henriette zurück. Henriettes Blick streifte ihn mit Unfreundlichkeit und Mißbilligung. Nun ging er fort. Er hatte zwei Nächte nicht geschlafen. Die eine Franziskas, die andere Hedys wegen. Denn wohin hätte er reisen sollen, wenn nicht zu ihr? Und nun kam die dritte Nacht mit ungewohnter Stille und wollte sich ihm dennoch nicht fügen. In dieser Nacht schlief Franziska. Sie hörte durch die offene Tür Henriettes Atemzüge, empfand sie sanft wie eine beruhigende Liebkosung.

Am nächsten Morgen sagte Franziska zu ihrer Schwester: »Ich brauche Geld.«

»Nein, jetzt? Wozu Geld? Es geht nicht, es ist unmöglich.« »Es muß doch noch Geld in der Sparkasse liegen.«

»Was fällt dir ein«, sagte Henriette, »weißt du nicht, daß es längst alle ist?«

»Das Geld gehört mir ebenso wie dir.«

»Ja, aber ich habe es doch zu verwalten. Ich bin vor dem Vormundschaftsgericht verantwortlich.«

»Sieh doch, Henriette, wenn es überhaupt einen Zweck hat ... wenn diese paar Kreuzer überhaupt etwas helfen können, so wäre es jetzt ... glaube mir ... Es ist wirklich notwendig ... unbedingt.«

»Ach, du hast doch Noten genug«, sagte Henriette, »du schenkst sie sogar fort!«

Henriette wollte das Kapital nicht angreifen. Die Zinsen waren ohnedies so lächerlich geringfügig, daß sie nicht einmal für die notwendigsten Ausgaben reichten. Henriette hatte einen alten Wunsch, eine automatische Kaffeemaschine, aus der sie ihre Freundinnen, die alten Lehrerinnen, bewirten konnte. Aber es ging nun einmal nicht. Die zwei Reisen nach Prag, Franziskas und die ihrige, hatten allzuviel gekostet.

»Hättest du es doch früher gesagt«, meinte sie.

Franzi wollte von dem Telegramm erzählen, fand aber nicht den Mut anzufangen. Sie war es nicht gewohnt, sich zu schämen.

Aber es blieb doch nichts anderes übrig. Während Henriette in der Schule war, suchte Franzi alle möglichen Hilfsquellen hervor, aber das Sparkassenbuch war doch die einzige Rettung. Es mußte sein. Sie konnte nicht neben Erwin leben und die Luft derselben Stadt atmen, die mit ihrer Liebe vergiftet war. Jetzt noch zu bleiben erschien ihr nicht nur erbärmlich und feig, sondern unnatürlich wie Blutschande. Die Straßen, das Zimmer hier, der Bildstock am Berg, der Weg durch die Pappeln im Frühlingswind, alles schien ihr befleckt durch die Erinnerung. Ihre Heimat verlassen bedeutete soviel, als mutig mit allem brechen, was sie hier erlebt hatte.

Sie nahm das Sparkassenbuch aus dem Schrank und erwartete die Schwester an der Schule. Es war noch nicht elf Uhr, alles lag noch still da; endlich schlug die Schulglocke. Kleine Mädchen mit roten und blauen Schleifen an den kurzen Zöpfen stürzten unter lautem Plappern und Lachen aus den dumpfen Zimmern, graue Griffel, an langen Bändchen befestigt, klapperten gegen die harten ledernen Schultaschen, die Schülerinnen kreischten über die Treppenstufen herab, indem sie einander mit den Ellenbogen anstießen. Es wurde ruhiger, aber Henriette kam nicht. Franzi dachte: »Wenn Henriette nun noch eine Stunde zu geben hat? Dann wird inzwischen das Sparkassenamt geschlossen, oder wenn sie bei ihrem Nein bleibt, bei ihrem lächerlichen, unmöglichen Nein, dessen Schwere sie gar nicht verstehen kann ... Wie sollte sie es denn auch?« ... Sie errötete. Da sah sie Henriette im Gespräch mit Fräulein Oberleitner die Treppe herabkommen und zwang sich zu einem Lächeln, das Henriette gar nicht einmal bemerkte, so schwach war es. Das Gespräch mit dem alten vertrockneten Fräulein, einer Handarbeitslehrerein, zog sich in die Länge, schließlich ging Fräulein Oberleitner fort. Ihr kleiner Kopf nickte unaufhörlich wie der einer erzürnten Henne.

Henriette stand neben Franzi und sah ihr ernst in die Augen. Franzi fühlte, als sie wider Willen stärker zu lächeln begann, daß ihr Lächeln schmeichlerisch und schuldbewußt wurde, so sehr sie auch dagegen ankämpfte.

Sie begann zu zittern, von Ekel gewürgt.

»Was hast du da?« fragte endlich Henriette und nahm ihr das Sparkassenbuch aus der Hand. »Na ja, es ist recht, du sollst deinen Willen haben.« Sie gingen stumm zum Gebäude der Städtischen Sparkasse.

An den Kleidern der älteren Schwester haftete noch der Geruch nach Schule, nach Kreide, nach feuchten Schwämmen, eingetrockneter Tinte, nach gespitzten Bleistiften, nach armen Kindern, derselbe Geruch, den der Vater stets heimgebracht hatte.

Franzi sah zu der Schwester empor: sah ihr schlichtes Haar, das sich bereits lichtete, die stets müde, von kleinen Sorgen bestaubte Stirn: sah ihrer Schwester Leben in der gleichen Bahn laufen wie das des verstorbenen Vaters, begonnen und beschlossen in demselben zweistöckigen grauen Hause, umgeben von denselben, stets neu herbeiwandernden Kindern, die alle das Haus nur ein wenig älter verließen und einer wechselvollen Zukunft entgegenstrebten, während die Schwester erst dann los und ledig wurde, wenn sie ganz alt und völlig abgenutzt war wie eine allzuoft beschriebene Schultafel, auf der die Kreide nicht mehr haftet.

Dann erst kam die Ruhe, das freudlose Stillsitzen an der Sonne, sofern es Sonne gab, das Warten auf den Tod, so wie sie früher auf das Ende einer Schulstunde gewartet hatte. Wie unglücklich ist sie doch im Grund! dachte Franziska. Wie glücklich wäre ich selbst, wenn ich ihn nicht kennengelernt hätte.

»Wieviel brauchst du eigentlich?« sagte endlich Henriette vor dem Eingang in das Sparkassengebäude.

»Einhundertsechzig Kronen«, antwortete Franzi. »Soviel beträgt doch mein Teil.« Sie wußte, sie käme nie wieder zurück.

»Gut«, sagte Henriette, »du kannst draußen auf mich warten.« Sie ließ sie allein.

»Draußen! Ja, sie schämt sich meiner«, dachte Franzi. »Mir ist es übrigens gleich, vielleicht verdiene ich es nicht anders. Erwin ist vielleicht auch nur deshalb fort von mir, weil er sich meiner geschämt hat.« Aber das war noch nicht die letzte Demütigung dieses Tages. Zu Hause holte Henriette noch die fünfzehn Kronen hervor, die ihr Franzi als die Hälfte von Minnas Geschenk gegeben hatte.

»Da hast du dein Geld zurück«, sagte sie, »es war ja auch eigentlich nur für dich bestimmt. Damals hat dich Minna noch ...« Sie unterbrach sich und sah Franzi an.

»Ein Wort noch, und ich werfe dir alles vor die Füße«, sagte Franziska. Henriette zuckte die Achseln und wollte in die Küche gehen.

»Du wirst doch noch unser Mittagessen abwarten, Franzi?«

» Unser Mittagessen?« gab Franzi mit Wut in der Stimme zurück. Aber sie beherrschte sich, strich die zerknitterten Banknoten zurecht, und dachte: »Geld ist Geld. Wenn mich die Not auch nur einen Tag früher in dieses Zimmer zurückbrächte, dann wäre es eine größere Schande.«

Sie nickte der Schwester zum Abschied zu, und ohne ihr die Hand zu geben, verließ sie das Zimmer und das Haus.


 << zurück weiter >>