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9

Sie erwachte. Sie staunte. Zart grün-weiß schimmerte der Schirm der Lampe. Die silberne Uhr tickte, draußen stand eine stille Nacht. Auf dem dunklen Holz des Fußbodens lag ihr leichtes Kleid, das von dem Stuhl herabgeglitten war. Sie wollte es aufheben, streckte die Hand aus; da fühlte sie erschreckt die Nacktheit ihrer Arme und verbarg sie fröstelnd unter einer schweren Decke.

»Wo bin ich?« dachte sie. »Was war vorher? Was kommt nachher?«

Müde waren ihre Augen, stumpf ihre Gedanken, ihre Welt entgöttert. Zum ersten Male verzweifelte sie an sich. Es war still. Erwin sagte kein Wort, atmete tief.

Stille, nur stille bleiben, wie sie war, sich nicht rühren. – Aber eine lautlose, dunkle Sekunde nach der anderen rann vorüber wie eine Welle über den Strand, und jede ließ sie trauriger zurück.

Sie sah die Franzi von gestern vor sich und beneidete sie. »Ich müßte jetzt glücklich sein, wenn ich ihn liebte.«

Ihr Knie schmerzte. Sie hatte es sich vorhin wund gestoßen, als sie das Telegramm bekam, und jetzt sah sie sich im Lehnstuhl schlafen, im Schlaf noch auf Erwin warten, sich nach ihm sehen, im Schlaf ihren Mund dem seinen entgegentragen. Ihren Mund und alles, was sie zu geben hatte.

Sie besann sich, raffte sich auf, hatte sich wieder. Ein Abschiedskuß war es, ein letztes Sich-gehören vor einer langen Zeit des Fernseins. Ein Augenblick des wolkengetragenen Vergessens vor einer Zeit der irdisch nüchternen Arbeit, eine Stunde Romantik vor einem ganzen Dasein moderner Lebensgesinnung.

Sie beugte sich aus dem Bett. Erst legte sie Erwin die linke Hand über die Augen. Schauernd trat sie auf den kalten Fußboden und suchten in der Tasche ihres Kleides nach der Depesche.

Erwin hatte Franzis Hand sanft fortgeschoben und sah ihr in das tief errötende Gesicht. War das noch Franziskas Gesicht? Hatte er früher nie diesen herben und doch so leidenschaftlichen Mund gesehen? Nie diese wunderbar strahlenden Augen von metallischem Blau, die ihn so innig an sich zogen, daß er nichts sah als sie allein und daß des Mädchens Blöße wesenlos wurde, eine weiße Wolke, zart und halb durchsichtig vor einer starken Sonne?

Franzi hielt das schmale Stück Papier in der Hand.

»Ach, laß das doch! Komm zu mir, Franzi! Nun lasse ich dich nie mehr fort.«

»Nie mehr?«

»Bist du nicht mein? Weißt du es nicht?«

Sie zitterte, schwieg, lächelte. Still rollte sie das Papier zusammen und zündete es an, hielt die winzige Fackel vor seine Augen, die goldig schimmerten. Aber er zuckte zurück.

»Habe doch keine Angst vor mir«, sagte Franziska, »ich wollte nur deine Augen sehen.«

Das Licht erlosch. Er zog sie an ihren schlanken Armen zu sich empor. Der letzte Schimmer des verglimmenden Papiers fiel über ihr erblassendes Gesicht, das so strahlend rein, so tief unschuldig, so überirdisch schön war. Schön wie nie früher und nie später in ihrem Leben.

Einst, in der mattschimmernden Bahnhofshalle in Prag, hatte sie in Erwins Blick, von fern her, im nächsten Augenblick entschwindend, die Süße des Lebens, die Seligkeit der Kreatur gefühlt, das Herrliche, bloß zu leben, zu atmen, still zu bleiben, an irgend etwas Fremdes hingegeben zu sein, an fremder Hand fremden Wegen zu folgen.

Stärker hatte sie es an dem Vorfrühlingsabend im Walde gelebt, in dessen grünes Dunkel das rote Licht des Madonnenbildes hereinsickerte. Alles war gut, selbst der lautlos bescheidene Tod der Mutter, ihrer Schwester von Schulsorgen bestaubte Stirn, dieser Gang an Erwins Arm durch nachtstille Wälder, die nicht Anfang noch Ende hatten, die Zärtlichkeit der frühlingsweichen Erde, der schöne, warme Klang seiner tiefen Stimme.

Bei ihm bleiben hieß nicht mehr verzichten. Sich ihm hingeben hieß nicht, sich selbst verlieren: ihre grenzenlose Liebe machte in dieser Stunde aus Erwin einen Gott und mußte einen Gott aus ihm machen, weil er von jetzt an höher stand als ihre Kunst, als der Beifall aller Menschen in der Ferne, als Ruhm, Reichtum und alles durch eigene Kraft erworbene Gut. Sie blieb. Sie ließ die Constanza warten. Sie fiel ab von den Idealen ihrer Jugend. Sie gehörte sich selbst nicht mehr.

»Ich werde dir Beethoven vorspielen«, sagte sie zum Abschied. »Komm morgen abend zu mir.« –

Daheim stand noch, weißschimmernd in der Dunkelheit, das Häufchen Kleider und Wäsche, das Franziska für die Reise nach Prag hatte einpacken wollen. Sie reiste nie mehr fort. Sie blieb. Langsam legte sie nun Stück für Stück wieder in die Kommode zurück, nur das weiße Kleid, in dem sie der Constanza und Dimietz hatte vorspielen wollen, behielt sie länger in der Hand. Der leichte, billige Batist wog schwerer als der dichteste Samt. Sie konnte es nicht über sich bringen, das Gewand wieder in die Dunkelheit zurückzutun. ›Ich werde es morgen für ihn anziehen, wenn er zu mir kommt‹, dachte sie. ›Nun muß ich schlafen. Aber kann ich schlafen? Kann ich in solch einer Nacht schlafen?‹ Sie ging wieder die kühle Treppe hinab, durch nachtdunkle Straßen den Weg zur Heide; Tauben gurrten, aneinandergepreßt, unter niedrigen Giebeln, eine Drossel schlug in der Ferne. Aus einer Backstube schimmerte Licht. Zwei junge Burschen gingen umher und trugen schwere, mehlbestaubte Brotlaibe auf den nackten Armen. Sie sangen; allmählich verklang der Gesang, der warme Schimmer verblich, und die Welt wurde stiller als zuvor. Ganz leicht glänzten die Straßen. Franzi ging an Bäumen vorbei, die fremd und stark dufteten, und schwer streiften sie mit ihren feuchten, zart belaubten Zweigen ihr Haar.

Von weitem glimmte das Licht des roten Lämpchens. Es schien sich, vom Morgenwind bewegt, vor dem dunklen Heiligenbild zu beugen. Franziska schlug im Vorübergehen ein Kreuz über Stirn, Mund und Brust. Als die Hand am Halse die Silberkette vermißte, dachte Franzi zuerst, sie hätte sie verloren, dann aber erinnerte sie sich, daß sie sie Erwin geschenkt hatte. Das Gefühl, einem Menschen mit ganzer Seele, bis in die letzten Fasern ihres Lebens zu gehören, flammte auf, überwältigte sie, trug sie fort.

Franziska betete nie. Sie glaubte nicht an Gott. Aber diese Stunde warf sie vor die Stufen des Heiligenbildes nieder. Sie wußte nichts von ihren Tränen. Wie ein Kind, in Schmerzen zitternd und dann wieder in wortlosem Jubel, schüttete sie ihr Herz vor der Mutter Gottes aus. Sie legte alle ihre Hoffnungen auf Ruhm, Erfolg, Reichtum und das Glück der Welt hier nieder wie einen zu Ende gelesenen Brief. Dafür aber sah sie in dem ersten tief beglückenden Frieden ihrer Seele tausend Tage, tausend Nächte wie die letzten, aufdämmern im beginnenden Morgenrot.


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