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8

Am nächsten Morgen reiste Henriette nach Prag. Nun mußte Franzi zwei oder drei Tage allein in der Wohnung bleiben, denn Henriette hatte keinen bestimmten Tag für ihre Rückkehr festgesetzt. Aber weshalb wirkte diese heißersehnte Einsamkeit so quälend, weshalb wurde Franzi in solch einer sonderbaren Unruhe durch die leeren, wartenden Zimmer getrieben? Gegen fünf Uhr abends wurde sie müde. Erst um sechs Uhr wollte sie Erwin auf dem Weg nach der Bergheide treffen. Sie öffnete weit die Fenster; lehnte sich in den Stuhl, breitete die Hände unter den Kopf und schlief ein, so tief, wie sie nachts nie schlief. Es pochte; sie erwachte in freudigem Schrecken. »Erwin!« Aber nur der Telegraphenbote stand vor der Tür. Ein kleines, zusammengefaltetes Blatt hielt sie enttäuscht in den Händen; dann las sie, noch im Licht der kleinen Treppenlampe: »Probespiel vor Dimietz auf Kontrakt. Constanza, Hotel Majestic.«

Sie legte das Telegramm wieder sorgfältig zusammen, kam in das dunkle Zimmer zurück. Ruhelos lief sie aus dem einen Zimmer ins andere, stieß sich plötzlich an der scharfen Kante des alten Stuhls, in dem sie vorher geschlafen hatte, das Knie wund; der plötzliche Schmerz, atemraubend und brutal, schrie: Erwache! Besinne dich!

Sie legte das Telegramm unter den Fuß des Klavierleuchters, damit es nicht fortgeweht würde, und begann ihre Kleider für die Reise nach Prag einzupacken, raffte ihr Eigentum aus den letzten Winkeln der Kommode zusammen, wollte nichts zurücklassen. Jetzt begriff sie, daß in dieser Stunde ein neues Leben beginne. Nie mehr würde sie vor der Tür des Kaufmannes Osterkorn stehen, die Glocke ziehen und endlos warten, bis schließlich die kleine Elise aus dem Garten geholt war; dann mußte man ihr erst noch die von Erde beschmutzten Hände waschen, denn sonst beklagte sich die Frau bitter bei Franziska.

Da stieß Franzi auf Erwins vergilbte Veilchensträuße, die unter der Wäsche verborgen lagen. Sie achtete nicht auf das wunde Knie, sprang auf, ließ das Köfferchen stehen, wie es war. Wie hatte sie Erwin vergessen können? Im Vorübergehen nahm sie das Telegramm mit. Sie eilte über die trotz des Frühlings menschenleeren Straßen zu dem Hause, in dem Erwin wohnte, stieg so schnell die Treppe hinauf, daß ihr Herz schmerzhaft zu pochen begann.

Erwin saß bei seinen Büchern und las. Seine große silberne Uhr lag auf dem Tisch und tickte laut ... Alles, Erwins hohe schöne Stirn, seine braunen, etwas schweren Hände, die aufgeschlagenen, leicht emporgerollten Seiten seiner Bücher und das weiße Zifferblatt der Uhr wärmten sich in dem sanften Schein einer großen Studierlampe, die von einem grünen Schirm bedeckt war.

Franziska hielt ihm das zerknitterte Telegramm hin, aber in seinen sonst so kühlen grauen Augen flammte solch eine Glut auf, daß Franzi wortlos die Hand mit dem Telegramm sinken ließ. – »Heute lächelt er zum erstenmal«, dachte sie. »Wie soll ich ihm sagen, daß wir Abschied nehmen sollen? Auf lange, vielleicht für immer?«

»Du bist also doch zu mir gekommen, Franzi?« fragte er.

»Noch kann ich gehen, ich muß fort«, dachte Franzi. »Ich muß ihm stumm Lebewohl sagen. Wir werden nie diese Stunde vergessen. Vergessen? Weißt du jetzt, daß er dich liebt? Sagen es dir seine Augen? Ich gehe, dort ist die Tür, an der Schwelle will ich ihn küssen, meinen Arm zum letztenmal um seinen Hals legen. Wozu Worte? Er wird wissen, daß es für immer ist.«

Sie ging, aber ihr Herz klopfte nicht freudig, sondern in Angst, wie damals in der ersten Stunde dieses Frühlings unter der nachtumhauchten Pappel. Sie ging. Das dünne Blatt Papier lag in ihrer Hand, schwer wie Blei.

Er kam ihr nicht nach. Sein Blick erlosch; er wandte sich ab.

Sie wollte bitten, erklären, sprechen, fliehen, eine unnennbare Angst trieb sie zu ihm, wieder zurück zu ihm, in den Schatten seiner schweren Schulter. Die Angst zitterte in ihren Gliedern fort, die fremde Wärme einer fremden Brust war bedrückend, atembrausend und drohte. Sie sah auf, sie riß sich von ihm los. Sie sah die Lampe verlöscht, graue Wolken stiegen aus dem Zylinder hervor und schwebten gleich Gewitterwolken niedrig durch das finstere Zimmer.

Sie ging von ihm fort, wanderte ohne Ziel, ohne Gedanken in dem unbekannten Raum umher, hörte ihre Schritte und konnte nicht begreifen, daß sie es war.

Erwin kam ihr nach, hielt ihren Arm. Er sah ihr ins Gesicht: »Du liebst mich nicht?«

Franziska schwieg. Schweigend erwiderte sie seinen verlangenden Blick, schweigend zog sie ihre Hände zurück und fröstelte.

»Nein, ich liebe dich nicht.«

»Ist es denn meine Schuld?« dachte sie. »Die Constanza wartet auf mich. Auf diesen Tag habe ich Jahr um Jahr gewartet, das war es, was ich wollte. – Dort, dort muß ich hin.« Seine Lippen suchten im Dunkeln die ihren, und plötzlich war ihr die Zukunftswelt entfremdet; die willenlose Schwere ihrer Glieder, das Atmen ihrer beklommenen Brust, alles sagte: Bleibe bei ihm!

Erwins Blick wanderte über ihre Augen, sie wurden plötzlich so unendlich müde. Erwins Blick wanderte über ihr Gesicht und über ihren bloßen Hals. Da hing eine dünne Silberkette mit einem granatenbesetzten Kreuz, das einzige Geschenk von Minna, der einzige Schmuck, den Franzi trug. Sie fühlte, wie Erwins Blick herabglitt, ins Wesenlose verschwand. Nun wußte sie: jetzt endlich kann ich gehen. Nun bin ich frei. Hätte er mich noch eine Sekunde länger mit seinen Augen gehalten, dann wäre ich verloren gewesen. Hieß ihn glücklich machen, sich verlieren? War nicht alles sein? Gehörte nicht alles ihm? Sie nestelte das Schmuckstück los. Nie hätte sie sich sonst davon getrennt, auch im Schlafe nicht. Nun hielt sie es ihm hin, und ganz leise:

»Ich liebe dich nicht?«

Er nahm das Kreuz und betrachtete es aus der Nähe. Sie fühlte, wie er von ihr fortging. Der Mensch der skeptischen Vernunft, der Wirklichkeit, der Wochentage erwachte in ihm. Franziska begriff: Jetzt gehen – ihn auf immer verlieren. Sie sah ihn lange an, und dann mit einem Aufatmen, tief wie ein Schrei, warf sie sich an seine Brust, fühlte, fühlte: mit dieser Umarmung war sie sein, mit dieser Umarmung gehörte er ihr.


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