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6

Als Franzi am nächsten Tage erwachte, tat es ihr leid, daß Erwin nicht bei ihr war; denn nun fühlte sie sich ihm so nahe, so innig vertraut, daß sie dachte, er müsse es fühlen. Sie glaubte nicht an Hedy. Wie alle jungen Menschen war sie so von sich erfüllt, daß das Schicksal dieses fremden Mädchens nur von weitem hineinleuchtete wie eine armselige Kerze am hellichten Tag. Und was sie nicht begriff, existierte nicht für sie. –

Als sie abends neben Erwin einherging, einen menschenleeren Weg entlang, durch die vom Frühlingsgrün eben nur angehauchten Felder, die noch ihre Falten und Runzeln hatten wie ganz kleine Kinder, da fühlte sie sich sicher, beglückt bis in die letzten Fasern ihrer Seele, beseligt durch ein Glück für unabsehbare Zeiten; denn wenn die Jugend erobert, dann erobert sie für das ewige Reich, das einzige, das sie kennt.

Leise begann es zu regnen. Allmählich verhängte sich der helle Tag, und die Kieselsteine am Weg begannen zu schimmern. Franziska blieb neben Erwin stehen und fragte:

»Wird es nicht jetzt zu kühl für Sie?«

Er verstand sie nicht.

»Ich gehe so gern durch den Regen«, sagte sie, »mir tut er wohl. Ihnen aber schadet er vielleicht, weil Sie noch nicht ganz gesund sind. Kann denn Malaria ein zweites Mal wiederkommen?« Er sah sie an. »Haben Sie Angst davor? Malaria ist nicht ansteckend.«

Ihr Blick antwortete: Alles möchte ich mit dir teilen, und keine Krankheit wäre mir zu schwer.

Dieser Blick zog Erwin stärker als alle Worte zu ihr, er beugte sich zu ihr herab und küßte sie.

Sie fühlte ein schmerzliches, ungewohntes Zucken in der Brust, aber sie wehrte sich nicht gegen seinen Kuß. Sie ließ die Arme hängen, fühlte sehr sanft die Berührung seiner Lippen, wie sie in den Kinderjahren die Regentropfen auf ihrem bloßen Kopfe gefühlt hatte; es war ein Gefühl, als solle sie sich jetzt ganz verlieren, niedersinken und sich mit geschlossenen Augen von einer guten, großen Zärtlichkeit forttragen lassen.

Erwin sah sie blaß werden.

»Franziska?«

Sie lächelte unter Tränen zu ihm auf. »Das sind doch nur Regentropfen«, dachte sie, »ich müßte mich schämen, wenn ich weinen würde. Ich habe nie geweint.«

Pappeln rauschten im Wind, jetzt schon weit hinter ihnen. Schweigend gingen sie durch die dunklen Felder. Erwin hatte seine Schulbücher in der Hand. Er freute sich an ihnen, mochte sie nie aus der Hand geben, er freute sich, die Bücher noch einmal durchzugehen, ruhige Jahre mit ihnen zu verleben, lange – irgendwo einen Faden zu finden, an dem er weiter konnte, danach hatte er sich gesehnt. Erwin fühlte, wie Franzi seine Hand berührte. Er dachte, daß sie ihm den Arm geben wollte. Aber das war es nicht. Sie wollte ihm die Bücher abnehmen, sie selbst tragen, wenigstens ein Stück ihres Weges, und er mußte ihr den Willen tun. Nun hatte er die Hände frei, konnte Franzis Hals umfassen, der wunderbar kühl war, konnte ihr blasses, herbes und doch so feines Gesicht vorsichtig in seine Hände nehmen und, den Blick ganz nahe an Franzis großen blauen Augen, ihren Mund küssen, der ihm entgegenstrebte und doch weich und willenlos war. Dann horchten sie still, regungslos auf das Schweigen dieser ersten Frühlingsnacht, das Rauschen des Regens, das langsam von den Feldern herüberwandelte wie das Trippeln vieler Kinderfüße auf dem Gras. Von Erwins Hut fielen die ersten Tropfen auf Franzis noch immer regungslos lächelndes Gesicht und lösten die zwei Menschen behutsam voneinander.

Schweigend gingen sie den Weg zurück. Der Wind wehte; die Menschen der kleinen Stadt liefen ängstlich mit vorgebeugtem Körper und schützend emporgehaltenem Regenschirm vorbei.

»Wann kommst du wieder, Franziska?«

»Wann du willst.«

Sie ging langsam die halbdunkle Treppe hinauf, atmete tief den Duft des Regens und der feuchten Frühlingserde ein, der noch in ihren Kleidern lag; vor ihrer Tür besann sie sich, zögerte, und mit dem Gesicht eines Menschen, der eine Kirche verläßt, trat sie über die Schwelle.


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