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Vierter Teil

1

Als Hedy elf Jahre alt war, war ihr Vater noch Kellner in einem großen Restaurant der Friedrichstadt. Wie die meisten Kellner war er ein guter Vater. Fast täglich brachte er seinem Töchterchen einen Leckerbissen mit, legte ihr ein Stückchen Kuchen oder ein wenig Hummersalat in einer winzigen Muschelschale auf das Nachtkästchen, während sie schlief.

Er kam selten vor drei Uhr morgens heim. Die elektrische Straßenbahn verkehrte um diese Stunde nicht mehr; müde wanderte er durch die sonderbar breiten, menschenleeren Straßen, schlief und träumte im Gehen. Er war groß und mager, das Apfelgrün seines dünnen Paletots schlotterte ironisch über dem schwarzen Frack, und über die schmutzigweiße, angerauchte Halsbinde war der etwas speckige Kragen des Mantels emporgeschlagen. Er war intelligent, betrank sich nie. Sein einziges Laster war eine übertriebene Sparsamkeit. Er hoffte, im Alter von fünfunddreißig Jahren so viel Geld erspart zu haben, um ein kleines Restaurant in einem Vorort der Stadt zu eröffnen. Man bot ihm ein bereits eingeführtes Geschäft an, aber er mochte es nicht übernehmen: alles sollte neu sein, und ihm war, als könne er dann in dem neuen Geschäft, in den frischgeweißten Sälen, an lauter frischgedeckten Tischen eine neue Jugend erleben.

Er hätte gern einen Sohn gehabt, um ihm dieses Geschäft, von dem er träumte, zu vererben, aber seine Frau machte ihm klar, daß die kleine Hedy einmal heiraten würde und es für den Schwiegersohn keine bessere Mitgift geben könne als ein gutgehendes Wirtsgeschäft.

Seine Gedanken kreisten stets um das Restaurant und um das Kind; wenn er morgens von daheim fortging, dachte er schon an den Abend, an die Leckerbissen, die er mitbringen wollte, an die Trinkgelder, die, aus zahllosen Nickelmünzen bestehend, in den ausgeweiteten Taschen seines Paletots klingeln würden.

Das Kind entwickelte sich trotz der guten Kost nur langsam, es blieb blaß und wollte nicht recht essen. Das verstand der Vater nicht, und er verbot seiner Frau, dem Kind weiterhin an jedem Sonntag seine fünf Groschen Taschengeld auszuzahlen, weil er dachte, daß das Kind das Geld vernasche. Die Mutter stimmte seufzend bei und sagte, das Kind habe ohnedies alles, was es brauche.

Hedy schien zufrieden, sie weinte nur selten, sie wunderte sich nicht und lachte fast nie, solange die Eltern anwesend waren. Nur ein Ereignis machte starken Eindruck auf sie. Die Mutter brachte einmal aus der Waschküche einen kleinen, silbergrauen Kater mit. Das Tier war noch ganz jung. Es entzückte Hedy durch seine plumpen Bewegungen und erschreckte sie zugleich durch seine Krallen, die es lustig und unbekümmert gebrauchte. Hedy war verwandelt, sie wurde lebhaft, lachte und zitterte vor Freude und Angst, als sie das kleine Tier auf den Arm nahm. Sie mochte es den ganzen Abend nicht von sich lassen und schleppte es des Nachts mit in ihr Bett. – Man ließ ihr das Tier. Plötzlich zeigte die Kleine Appetit, aß alle Teller leer, wenn sie nur der Katze etwas von ihrem Essen abgeben konnte. Sie begann zu lachen, und selbst die Katze, wie alle jungen Tiere von drolligem Ernst, schien das Lachen von ihr zu lernen.

Aber die allzu reichliche Fütterung schadete dem Tier; es erkrankte, wurde plötzlich über Nacht wild und boshaft, heulte, von Schmerzen geplagt, kratzte alle und drohte, der Mutter mit den Krallen das Auge zu zerfetzen. Hedy, die aus einer Ecke zusah, schrie vor Angst.

Die Mutter nahm die Katze, preßte ihre Vorder- und Hinterpfoten mit beiden Händen zusammen, knotete sie wie einen Strick und schleuderte das Tier aus dem Fenster hinaus.

Die Katze überschlug sich in der Luft, ganz still. Als sich die Mutter ins Zimmer zurückwandte, sah sie Hedy auf dem Boden lang hingestreckt liegen. Es gelang sehr schwer, sie aufzuwecken. Sie weinte nicht, sie sprach auch nie von der Katze. Das Tier hatte nicht einmal einen Namen gehabt, so schnell war alles gegangen. Aber Hedy wollte nicht mehr unter die Menschen. Sie verkroch sich, sie war am liebsten im Dunkeln allein. Im Schlaf begann sie aufzuschreien und das heulende Miauen der Katze nachzuahmen. Der Vater konnte nicht schlafen. Man mußte das Kind zu Verwandten aufs Land geben.

Als es wiederkam, war es verwandelt. Es trieb sich viel auf der Straße umher (die Eltern wohnten zu dieser Zeit in der Nähe der Tempelhofer Heide), es brachte Erde in seinen Haaren, Ungeziefer in seinen Kleidern mit, es sang gemeine Lieder, verwahrloste, und der Lehrer warnte die Eltern. Hedy und eine Freundin waren bei einem Diebstahl in der Schule ertappt worden. Die Mutter wollte es nicht glauben, aber in einer Tischlade fanden sich sechs Federkästchen, ein Armband aus blaßroten Korallen und drei Klumpen Bonbons.

Der Vater bestrafte das Kind; er prügelte es nicht, aber er ließ es einen Tag hungern und drohte auf Rat des Lehrers mit Übergabe in eine Besserungsanstalt in Teltow. Das schien zu wirken; aus der Schule kamen keine Klagen mehr.

Aber die Aufregungen daheim hörten nicht auf. Der Vater erkrankte. Sein Appetit wurde zur Eßgier. Die Leckerbissen, die er sonst dem Kinde mitgebracht hatte, verzehrte er selbst auf dem Heimweg und weckte zu Hause alle, indem er in der Küche herumrumorte. Der Arzt stellte Zuckerkrankheit in leichtem Grade fest. Er empfahl dem Kellner eine strenge Diät, schrieb lange Listen auf. Eine genaue Küchenwaage mußte gekauft werden. Der Vater durfte kein Brot essen, kein Bier trinken. Obst, süßer Wein und Mehlspeisen waren streng verboten. Die Frau nahm sich des Mannes ernsthaft an, sie kochte alles, was der Arzt verordnet hatte, wog jeden Bissen ab, zwang sich, selbst mitzuessen. Aber der Vater hielt sich nicht daran; es war nicht zu verhindern, daß er in dem Lokal, in dem er angestellt war, jeden Tag zwischen den Serviergängen zwei Liter dunkles Bier trank, und wenn die Frau das Brot versperrte, so brachte er in den Taschen seines Paletots Dutzende von Semmeln mit.

Aber er magerte ab. Oft erwachte Hedy, hörte den Vater durch die Zimmer schlurren, an Schlössern rütteln und Speisen suchen. Er ging nicht mehr ins Geschäft. Nach kurzer Zeit sah der fünfunddreißigjährige Mann aus wie ein Greis; er wurde still, sanft und zärtlich, verhielt sich nachts ruhig, brach nicht mehr die Blechbüchse auf, in der das Brot verschlossen war. Tagsüber ging er fort. Oft erwartete er Hedy an der Schule; er gab ihr Bonbons, in Silberpapier eingewickelt, mit Kognak gefüllt. Einmal sah ihn Hedy am Fensterplatz eines vornehmen Restaurants sitzen. Er winkte ihr mit seiner ganz weißen, ausgetrockneten Hand, nahm sie zu sich auf einen Plüschfauteuil, fütterte sie mit kostbaren Leckerbissen und verbot ihr, der Mutter etwas davon zu sagen.

Die Frau hoffte, er würde noch lange Zeit leben; in einer Zeitung war angekündigt, ein großes Lokal in Reinickendorf, das sich gut für ein Restaurant eigne, sei zu vermieten. Sie fuhr hin, ging durch alle Räume, strahlte in der Hoffnung auf den künftigen Besitz. Es war das Richtige. Voll Freude kehrte sie heim. Der Mann war noch nicht zu Hause. Sie wartete. Ein Wagen fuhr vor und brachte ihn schlafend, bewußtlos. Er hatte in einem feinen Restaurant gesessen, Sekt getrunken, war eingeschlafen. Man konnte ihn nicht mehr erwecken. Zwei Tage später war er tot. Von den ersparten zehntausend Mark waren kaum mehr zweitausend vorhanden.

Die Frau schlug Lärm. Sie dachte an Diebe, an ein Versteck in einer Mauer, an einen Einbruch. Sie verstand die Katastrophe nicht. Selbst Hedy wurde verdächtigt. Sie bekam Prügel, zum erstenmal in ihrem Leben. Damals war sie dreizehn Jahre alt. Auch jetzt weinte sie nicht. Ein sonderbares Gefühl schauerte durch ihren Körper. Sie hatte nie einen Menschen berührt, war nie von Menschen berührt worden. Der Schmerz war sonderbar, grauenhaft und süß zugleich.

Aber das Geld fand sich nicht wieder. Die Mutter nahm eine Stelle als Garderobenfrau in der Philharmonie an. Nun war sie keinen Abend daheim. Tagsüber war das Kind in der Handelsschule, denn es sollte Maschinenschreiben und Buchführung lernen. Hedy war fleißig; sie hatte die Intelligenz des Vaters geerbt; die Mutter liebte sie doppelt, weil sie an ihren Gatten erinnert wurde und in Hedys Schönheit die Schönheit ihrer eigenen Jugend wiedersah. Manchmal eilte sie vor dem Ende der Konzerte heim; in ihrer Angst um Hedy überließ sie den Erlös des Abends einer Freundin. Aber Hedy war abends stets zu Hause. Mutter und Kind lebten friedlich zusammen. Sie sprachen über alles, und die Mutter warnte das Kind vor alten Herren und vor Ausländern. Aber Hedy schien nicht zu verstehen, um was es sich handelte.

Ein Jahr später bekam Hedy eine Stelle als Schreibmaschinistin. Stolz brachte sie am Ende des Monats vierzig Mark mit, und nach einem weiteren Jahre konnte die Mutter zum ersten Male seit dem Tode ihres Gatten zur Sparkasse gehen und Geld einlegen.


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