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2

Franziska erfuhr am Bahnhof, daß sie noch zwei Stunden auf den nächsten Zug nach Prag warten müsse. Sie ging neben den Gleisen hin und her, sah von ferne, in dem leichten Nebel eines Mittags im Frühling, die rote, zwiebelförmige Kuppel der Kirche, die mit blauem Schiefer gedeckten Dächer, alles, auch die steinernen Häuser, vom Frühling erfüllt.

Noch vor zwei Tagen hätte Franziska unbekümmert die Stadt verlassen. Nun aber glaubte sie sich vertrieben, schmählich verstoßen, gegen ihren Willen zur Abreise gezwungen. Trotzig, im Gefühl des erlittenen Unrechts, kehrte sie nochmals in die Stadt zurück, um irgendwo zu Mittag zu essen, da der Zug erst gegen Abend Prag erreichte. Vor dem Eingang des Gasthauses »Zum hölzernen Roland« traf sie Erwin.

»Guten Tag, Franziska«, sagte er und streckte ihr die Hand hin. »Wir sind doch wieder versöhnt?« Und als er Franzis Gesicht sich verdüstern sah: »Wie elend du aussiehst – was fehlt dir? was machst du hier?«

»Willst du mich nicht ruhig gehen lassen? Gestattest du mir, zu Mittag zu essen?« sagte sie erbittert und wollte ihn in der letzten Stunde vor der Abreise sein Unrecht fühlen lassen.

»Hier? Nicht zu Hause?« fragte er.

»Bei mir zu Hause oder bei dir?« Sie gab ihm die Frage zurück, und als er nicht verstand, sagte sie: »Ich reise mit dem nächsten Zug nach Prag.«

Er schwieg bestürzt und sah sie an.

»Verstehst du das nicht?« sagte sie. »Weißt du nicht, daß sie nicht länger hierbleiben kann? Morgen werden die Leute mit Fingern auf mich weisen. Das ist noch das Geringste, denn ... Aber so ist es ganz recht. Ich habe mir das erbärmliche Geld für die Reise von meiner Schwester zusammenbetteln müssen. Wenn ich es auch hätte stehlen müssen, ich hätte es auch getan.«

»Warum hast du mir nichts gesagt? Ich hätte dir gern ausgeholfen.«

» Du?« Eine Welt von Verachtung und Erbitterung lag in dem Wort, das sonst einen anderen Klang gehabt hatte. Damit wandte sie sich dem Gasthofgarten zu, wo einige Leute vor rotgedeckten Tischen unter Bäumen saßen, die erst schüchtern belaubt waren.

Erwin faßte Franziska an der Hand und wollte sie zurückhalten.

»Bleibe doch, wir müssen miteinander sprechen.«

Sie schüttelte seine Hand ab, aber sie ging doch trotz des starken Hungers nicht zu den gedeckten Tischen. Sie blieb, um noch mehr Qualen in dieser Stunde anzuhäufen, als mache sie sich dadurch für spätere Zeiten frei.

»Es kann nicht sein«, sagte er.

»Nicht?« Sie zuckte mit den Achseln. »Du hast mir dein Wort gegeben, Franzi. Laß doch deinen Trotz. Bitte, bleibe fünf Minuten hier, ich will dir alles erzählen. Hast du denn mein Telegramm nicht erhalten?«

»Willst du mich zwingen?« sagte sie mit einem bösen Lächeln. »Gut, du kannst es versuchen. Ich gebe dir nicht nur fünf Minuten, eine ganze Stunde hast du Zeit.«

»Ich erkenne dich nicht wieder«, sagte er.

»Und?« sagte sie mit Verachtung und Wut.

Er konnte gar nicht glauben, daß dies dieselbe Franzi war, die vor zwei Tagen in seinen Armen gelegen hatte. Waren diese blassen, zusammengekrümmten Lippen, die jetzt im Zorn zitterten, dieselben Lippen, die einmal vor Glück gebebt hatten?

»Wir sind frei«, sagte Franzi, die seine Gedanken erriet. »Wir haben nichts mehr voneinander zu verlangen. Oder doch?« Und in dem Bewußtsein, Unmögliches zu verlangen:

»Wenn ... wenn du mich noch willst, dann wirf doch deine dummen Bücher in irgendeine Ecke. Komm mit mir.«

Er erschrak, er zögerte, er widerstrebte. Sie sagte mit Entschiedenheit: » Ich muß fort. Begreifst du es nicht? Allein oder mit dir.«

Er schwieg.

»Wir werden doch nie mehr miteinander glücklich sein,« sagte sie dann mit wärmerer Stimme, »deshalb ist es besser, glaube mir, wir lassen es dabei. Nein, ich will nichts mehr essen. Begleite mich zur Bahn. Es ist für lange Zeit oder für immer, daß wir uns adieu sagen.«

»Weshalb läßt du mich kein Wort reden? Ich mußte des Patentes wegen nach Berlin; ich mußte die Stellung kündigen. Als ich zurückkam, glaubte ich, du wärst noch dieselbe Hedy ...«

Er unterbrach sich und schwieg.

»Weshalb lügst du denn? Hedy! Hast auch du den Namen gehört oder war es nur meine wilde Phantasie? Willst du unbedingt, daß ich bereuen soll, dich kennengelernt zu haben?«

»Das tust du ohnehin«, sagte er. »Es tut dir leid, daß ...«

»Glaubst du? Du irrst dich. Leider. Ich reise nicht dir zum Trotz. Bevor ich vorgestern zu dir kam, hatte ich ein Telegramm. Ein Konzertagent wollte mich spielen hören ... Nein, ich brauche dir das nicht zu erklären. Es war die Zukunft. Ich wollte dir die Depesche zeigen, wollte mich mit dir freuen. Ich bildete mir ein, du würdest dich darüber freuen, daß mein elendes Dasein in diesem gottverdammten Nest ein Ende hatte. Nach all dem Jammer und der Pfennigschinderei sah ich endlich etwas Ordentliches vor mir. Erinnerst du dich? Vor deinen Augen habe ich das Telegramm verbrannt. Nein, du erinnerst dich natürlich nicht. Ich habe dir nichts gesagt. Vielleicht hast du das Telegramm für irgendeinen Papierfetzen gehalten. Ich will nicht deinen Dank. Mir liegt durchaus nichts an deinem Dank. Ich glaube, wenn ich es dir erklärt hätte, hättest du es vielleicht doch verstanden, daß ich mich deinetwegen auf ewige Zeiten hier in der kleinen Stadt vergrabe. Unnötige Angst. Du und danken! Dein ›Danke‹ war ja auch ein Telegramm. Du kannst ruhig sein, die Post ist pünktlich und zuverlässig. Die Depesche kam auf die Minute an. Das soll ich vergessen? Glaubst du, das vergißt ein Mensch? Da überschätzest du mich. Ich bin nicht deine Hedy, die vergißt, was sie ...«

Sie gingen den Bahnhofsweg, der von einer niedrigen Hecke begleitet war, hinter welcher die Schienenstränge in der Frühlingssonne glänzten.

»Gut«, sagte er und schleuderte sein Paket Schulbücher über die Hecke auf die Schienen. »Ich glaube jetzt selbst, wir sind einander wert. Nach der ersten kleinen Enttäuschung, nach dem ersten versäumten Wiedersehen wirfst du mir alles mit Verachtung vor die Füße. Willst dich aus dem Staube machen, ohne mir auch nur ein Wort zu sagen. – Ja, du hast ganz recht. Ich wollte die Hedy sehen, nicht ›meine‹ Hedy, ich wollte wissen, ob mein Herz noch an ihr hängt.« »Ich hoffe, nun weißt du es«, sagte sie.

»Du tust mir nicht leid, nein, auch Hedy nicht. Warte hier auf mich. Ich muß noch nach Hause und mir Geld holten. Vergiß nicht, diesmal komme ich zurück.«

»Bleib' doch«, sagte Franzi mit weicherer Stimme. »Ich habe Reisegeld genug für uns beide.«

»Nein, ich nehme von heute an nichts mehr von dir ...«

»Gut, ich zwinge dich nicht«, sagte sie kalt, »beeile dich, ich warte, in zwanzig Minuten geht unser Zug.«

»Zeit genug; noch etwas wollte ich dir sagen. Mir ist es nicht um das Geld zu tun, das könnte ich mir ja auch nach Prag nachschicken lassen. Ich will dir dein altes Notenheft zurückgeben. Nur deshalb gehe ich nochmals den Weg zurück. Verstehst du, warum? Du hast es mir vor vier Wochen geschenkt. Vielleicht hing dein Herz daran. Bitte, unterbrich mich nicht! Ich bin sogar fest überzeugt, daß du daran hingst! Ja, aber ob es mir, dem Beschenkten, Freude gemacht hat, das war dir ganz gleich. Was liegt mir daran? Was kann mir das sein? Ein Rembrandt für einen Blinden. Was soll ich damit? Ich habe mich geschämt, weil ich nicht Klavier spielen kann. So war es mit allem. Dir macht eben das Schenken Mühe. Es ist eine Arbeit für dich, aber von Herzen kommt es dir nicht. Ebenso wie dir sicherlich deine Musik nicht von Herzen kommt ...«

»Kein Wort mehr! Du kannst mich als Frau verachten, meinetwegen kannst du dich meiner sogar schämen, möglicherweise hast du Grund dazu, ich weiß es nicht, in Liebesgeschichten fehlt mir die Erfahrung – aber meine Musik, davon laß die Hände, bitte! Davon sprich kein Wort, oder du wirst es bereuen. Du kennst mich nicht. Nein, sprich nicht! Ich will keine Entschuldigung. Du sprichst zuviel. Wenn wir auch nur einen Tag in Frieden leben sollen, muß es von Grund aus anders werden.« Und eiskalt: »Wenn dich irgendeine Stimme heißt, mir das Notenheft wiederzugeben, dann tue es. Ich warte. Der übernächste Zug geht nach Mitternacht. Es wird nicht die erste Nacht sein, die ...« Tränen unterdrückten ihre Stimme, sie wandte sich ab und winkte ihm mit der Hand fortzugehen.


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