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7

Franziska kam viel zu früh in den Konzertsaal. Das Klavier stand noch dunkel und unscheinbar auf der kahlen Estrade, bis ein Diener den Deckel lärmend in die Höhe schlug und zwei silberne, unruhig in vier Lichtern brennende Leuchter neben das leere Pult setzte.

Sanft schimmerte die Orgel im Hintergrund.

Die Saaldiener, in weinroter Livree, silberbordiert, standen noch müßig umher, plauderten und lachten ein selbstbewußtes und doch serviles Lachen.

Franzi kümmerte sich nicht um ihre erstaunten Blicke, sondern nahm die neugekauften Notenhefte hervor und begann in ihnen zu lesen, um jede Note zu hören, wie sie daheim auf ihrem langbrüstigen und doch kurzatmigen Klavier klingen würde. Inzwischen drängten sich viele Damen rauschend vorbei – plötzlich wurde es ganz hell, und die Leute applaudierten.

Frau Leonore Constanza stand vorn am Podium, jung, groß und elegant, mit einer silbergestickten Seidenschleppe, die beinahe klirrte, als die Constanza vorwärts schritt. Um ihren bloßen Hals funkelte eine schwere, vielleicht allzu schwere Perlenkette. Die Constanza verbeugte sich – nein, es war mehr so, wie wenn sich ein Raubtier nach den ersten Schritten in der Freiheit schüttelt und streckt. Dann setzte sie sich ans Klavier und begann die symphonische Sonate in H von Liszt.

Sie saß ganz ruhig da, den starren, fast tierhaften Blick in eine dunkle Ecke des Saales gerichtet, bloß ihre Hände spielten. Die bunten Ringe funkelten frech. Ihre Hände waren wie mutige, weißgliedrige Wesen, wie Wesen für sich, die nichts anderes konnten und wollten als spielen und die fast gegen den Willen dieser prunkvollen Dame ihren Weg gingen, dahinschwebten, tanzten, und dann wieder schwer zu Boden gedrückt wurden, wuchtig, von der eigenen Kraft überwältigt wie Leoparden.

Als diese Hände endlich ruhig wurden, begann lärmender Applaus, klang brutal, schonungslos in das Schweigen, wurde der Künstlerin fast gewaltsam zu Füßen geworfen und brach sich donnernd an den klanggewohnten Wänden des Musiksaales.

Franziska wurde plötzlich ungeduldig, müde und enttäuscht. »Das ist alles Komödie«, dachte sie, »nicht ein Ton ist echt. Das kann schließlich eine musikalische Maschine auch.« Und sie wartete von nun an in Erbitterung auf den Schluß des Konzertes und zählte die Stücke von den Fingern ab.

Nun kam nach kurzer Pause eine schwedische Sängerin, eine sehr hübsche und bewegliche Dame, der eine fast unmäßige Fülle sonnenfarbenen Haares in die blasse Stirn fiel, und begann, von einem ebenso blonden jungen Mann am Klavier begleitet, die Arie »Ah perfido«. Diese Arie hatte dunkelglühende, tief italienische Augen, aber wenn Dagmar Johannsen sie sang, wurde sie plötzlich ein sonnenblondes, blauäugiges Lied, und etwas wie Sehnsucht nach dem kühlen Meer und den weiten gelben Roggenfeldern am Strand der nordischen Meere lag in ihr. Nun blieb nur noch ein Stück: die Wandererphantasie von Schubert.

»Schade um den Abend«, dachte Franziska, mit der fanatischen Kraft junger Menschen im »Nein« sagen, »das war die Mühe nicht wert, nach Prag zu fahren.« Und doch sah sie mit Bedauern, mit ungestilltem Hunger, daß die vier Kerzen beim Klavier schon weit über die Hälfte herabgebrannt waren.

Da schlug Constanza die ersten pochenden, frühlingshaft unruhigen Töne des Allegrosatzes an.

»Aber das?« dachte Franzi, »ist denn das dasselbe Stück, an dem ich mir zwei Monate lang die Finger zerbrochen habe, das sind die zwanzig Seiten, die drei Winternächte dauerten, bis sie endlich abgeschrieben waren?«

Die Constanza saß nun da, nicht mehr starr und prunkhaft kalt mit ihren allzu lebendigen Händen, sondern sie neigte ihren Kopf, mattes Licht fiel auf ihren Nacken, das dunkle Haar glänzte zitternd. Sie beugte sich zum Klavier nieder wie eine Mutter zu ihrem Kind. Dann lehnte sie den Kopf zur Seite, um besser zu hören, was das Instrument sagte. Aber es war kein Klavier mehr, es war eine menschliche Stimme, die fragte, die ergriffen war, die hingerissen emporblickte, die beseligt war und die verzieh. Alles Verzeihen, alles Vergessen dieser Welt war in dieser Melodie in As-Dur.

Franziska dachte an nichts mehr. Sie sah die Finger der Künstlerin nicht mehr und ihre Technik, wollte nichts sehen, nichts denken, nie mehr etwas anderes hören als diese einfachen Töne, in ihrer Einfachheit Herzen lösend und wundervoll sich an sie lehnen wie an eine warme Menschenbrust. Der erste Satz war zu Ende, die tiefen, schwermütigen Töne des zweiten begannen.

»Was hat diese Frau erlebt«, dachte Franziska, »bevor ein Mensch so spielen kann, muß er nicht alle Wege dieser Erde gegangen sein?« Die graue Vorstadtgasse Prags von heute nachmittag zog sich vor ihren Augen in eine unendliche Dämmerung. War diese große, königliche Frau mit ihren matten und doch strahlenden Schultern, mit ihrem Millionen-Perlenkollier um den nackten Hals, war auch die Constanza nichts als ein armes Ding, ebenso wie sie selbst, ein Mensch, der von sich und vom Leben mehr verlangt hatte, als für ihn erreichbar war – nein, der nichts erreicht hatte als Enttäuschungen, schlechte, ehrgeizige, unbefriedigte Tage, schlaflose, verzweifelte, leere, unendlich leere Nächte, nichts erreicht als am Ende ein ganz kleines Stück Vollkommenheit, einen winzigen Augenblick Untergehen in dem reinsten, tiefinnersten Glück der Erde und einen Augenblick der Überwältigung?

Der zweite Satz war zu Ende. Die Leute schwiegen.

Die Constanza sah mit großen Augen in den Saal und setzte nach einem leisen Zögern mit dem letzten Satz ein.

In diesem Augenblick sagte eine Stimme in Franziska: » Das ist der Mensch, der dir helfen kann; sie allein weiß, ob deine Arbeit der Mühe wert ist.«

Nun warf sie den ganzen Kleinmut des heutigen Tages ab wie eine Verleugnung dessen, was für sie das Heiligste in dieser Welt war. Aber sie hatte Angst vor dieser Entscheidung, und in ihrer Angst sagte sie energisch und kalt zu sich: »Du wirst zu ihr gehen, du mußt noch heute abend nach Schluß des Konzertes zu ihr gehen und ihr vorspielen.«

Nach diesem schwer gefaßten Entschluß wollte sie warten, möglichst lange warten, möglichst lange sollte dieses Finale dauern, dieser tanzende, jugendlich beschwingte Satz, in dem alles knabenhafte Kraft und herrlichkeitstaunendes Entzücken war ... noch ein letzter Aufschwung, und alles war zu Ende. Die letzten Akkorde donnerten über den stürmischen, fast wütenden Applaus hin. Blumen wurden wie Flammen aufs Podium geworfen, große, bunte Sträuße mit langen, seidenen Bändern flatterten empor – die Constanza fing ein kleines Sträußchen Maiglöckchen auf, das nur zufällig unter die großen Huldigungssträuße gekommen war, legte es mit kindlich feinem Lächeln neben den silbernen Leuchter, setzte sich nochmals ans Klavier und spielte etwas Kleines, Rührendes, Einfaches. Dann stand sie auf, verbeugte sich mit sehr ernstem Gesicht gegen den Hintergrund des Saales hin, wo an den billigsten Plätzen die eifrigsten Enthusiasten standen, und ging fort. Von dem aufgeregten Beifall nochmals gerufen, kam sie abermals, lehnte sich übers Klavier, nahm ihr Maiglöckchensträußchen, roch daran, gleichsam nun schon als Privatperson, nickte den Leuten etwas herablassend zu und begab sich ins Künstlerzimmer.

Im Künstlerzimmer waren fast nur Damen, bloß der junge Einar Johannsen, der Bruder der sonnenfarbigen Sängerin, ging mit seinem feinen behutsamen Lächeln zwischen den Damen umher und sammelte ihre Stammbücher, Karten und Holzfächer, auf welche sie Autogramme geschrieben haben wollten. Neben Franziska stand ein kleines, brünettes Mädchen, das aber nichts in seinen nervösen, sehnigen Händen hatte. Herr Johannsen sah sie staunend an, verstand nicht, was sie hier wollte, und war im Begriff, sich eben an Franzi zu wenden, die mit ebenso leeren Händen beschämt dastand – da sagte Frau Constanza mit der Stimme und der Haltung einer Königin:

»Nun, Einar, bekomme ich meine Zigarette?«

Herr Einar warf die sorgfältig gesammelten Blumen und Fächer auf einen Fauteuil und winkte den Autographenleuten mit beiden Händen ab. Die Zigarette, die immer verlangt und nie geraucht wurde, war das traditionelle Zeichen, daß Frau Leonore Constanza das Klavierspiel, den Beifall, die Glückwünsche, die Blumen und vor allem die Menschen gründlich satt habe und allein sein wolle, aber nun auch wirklich allein. Aber das kleine, brünette Mädchen blieb. Franziska sah ihre leeren Hände an, die noch so kindlich, aber doch schon lebendig beseelt, ja geradezu wild waren, und dachte: »Das sind aber auch Hände.« Die Augen der Kleinen brannten. »Auch die will zu ihr, um ihr vorzuspielen. Eine von uns muß nachgeben. Im nächsten Monat gibt die Constanza wieder ein Konzert, ich aber muß heute nacht wieder daheim sein.« Das Herz klopfte ihr bis hoch in den Hals, der Puls schlug hart bis in die Fingerspitzen, in denen kein Gefühl mehr war. »Ich werde schlecht spielen«, dachte sie, »aber um Himmels willen, kann ich denn heute schlecht spielen?« und sie stand schon vor der Constanza, verbeugte sich und sagte: »Gnädige Frau?«

Die Constanza hatte gerade eins der Stammbücher in der Hand; sie sah auf. Ihr Blick traf zuerst ein junges, schlankes Mädchen in weißer Bluse mit blauem Kragen, mit einem kleinen, goldenen Kreuzchen auf der Brust, ein blasses schmales Gesicht mit tiefen, dunklen Augen und schweren, sehr ordentlich geflochtenen blonden Zöpfen, in denen ärmliche Haarnadeln aus Draht staken, und dann Herrn Einar, der schuldbewußt lächelte und mit den zarten Schultern zuckte. Dagmar stand im Hintergrund bei den Kränzen und sah alle Schleifen durch, eine nach der anderen, als erwarte sie, ihren Namen auf einem der breiten Seidenbänder zu finden.

Die Constanza, den Blick immer noch auf Franzi gerichtet, dachte: »Nun, wenigstens ist es keine Konservatoristin. Denn die Konservatoristinnen ziehen immer pompös daher und immer schlampert. Pompös eigentlich nicht immer, aber schlampert wohl.« Sie sagte zu Einar: »Was wünscht die junge Dame?« sagte das im Ernst, als wäre der elegante Schwede Franziskas lebendes Gewissen.

Franziska wurde rot und sah mit ihren kindlich strahlenden Augen so einfach, so rührend aus, daß die Constanza mild wurde.

»Vielleicht ist die Kleine mit mir verwandt«, dachte sie, »ich muß irgendwo in Böhmen eine Nichte in diesem Alter haben.«

»So setzen Sie sich doch«, sagte sie mit gütiger Stimme. Franziska faßte Mut.

»Ich will Ihnen vorspielen, gnädige Frau«, sagte sie geradeaus.

»Also doch!« dachte die Constanza. »Hand aufs Herz, mir wäre es tausendmal lieber, wenn mich die Leute um Geld anbettelten.«

»Vorspielen? Doch nicht heute?«

»Ich muß noch diesen Abend fort und weiß nicht, wann ich wieder herkomme. Bitte, gnädige Frau ...!«

Ihre Lippen zitterten.

»Ein Kind!« dachte die Constanza.

Einar und Dagmar tuschelten. Dagmar hatte seit dem frühen Morgen nichts gegessen, weil die Stimme bei nüchternem Magen mehr Glanz haben sollte, nun aber litt sie ernstlich Hunger und drängte Einar zum Fortgehen.

»Ach, sehen Sie doch liebes Fräulein,« sagte Einar, »es geht eben nicht.«

»Warum nicht?« sagte die Constanza. »Wenn ich will, dann geht alles. Und nun schnell, kommen Sie!«

Sie stand auf, warf das Album zur Erde, und ging mit Franzi in den Konzertsaal zurück. Die Leute waren fort. Nun schien der leere Saal ungeheuer groß. Er lag wie im Nebel da. Die Orgel glich mit ihren silbernen Säulen einer Reihe verschneiter Bäume. Dumpfe, warme Luft schwebte über den verlassenen Bänken. Zwei Diener gingen die Wände entlang und löschten die roten Notlichter aus.

»Und also: setzen Sie sich, und spielen Sie!« befahl die Constanza.

Einar lächelte Dagmar zu. Wenn die Constanza »Und also« sagte, dann war sie wütend, und Klein-Dagmars hungriger Magen war gerächt. Einar war so vergnügt, daß er sogar dem kleinen brünetten Mädchen die knochige Klavierspielerhand drückte und ihren Besuch Frau Constanza für morgen vorzumerken versprach.


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