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4

Am nächsten Morgen verließ Erwin Berlin, am nächsten Abend traf er Franziska in Prag.

Nun sahen sie einander in der kleinen Stadt. Die Stadt war so winzig, daß die Menschen einander begegnen mußten. Franzi kaufte in einer Papierhandlung ihr Notenpapier, Erwin besorgte sich dort die Schulbücher für das Gymnasium. Er hatte sich entschlossen, seinem alten Wunsch zu folgen und mit seinem ersparten Geld weiterzustudieren, das Gymnasium fortzusetzen. Es war ihm, als könne er nun sein Leben an einem Punkte fortführen, wo es noch ungebrochen und voller Hoffnungen war.

Erwin und Franziska gingen gemeinsam heim. Sie erzählte von der Constanza, er von seiner Arbeit in Berlin in der Fabrik für drahtlose Telegraphie. Beim letzten Wort, beim Schritt über die Schwelle, verabredeten sie für den Abend ein Wiedersehen. Erwin nahm sich vor, kein Wort von Hedy zu erzählen. Er dachte es sich leicht, als neuer Mensch ein neues Leben zu beginnen. Wie ein gelesener Roman lag die Erinnerung an die weite Seereise hinter ihm, und so dachte er sich mit jedem Tag weiter von der Erinnerung an Hedy zu entfernen, sie versinken zu sehen im Nebel der Zeit. Aber das war nur ein Wunsch. Mit dem ersten Wort brach wieder die lebendige Sehnsucht nach ihr, das immer noch lebendige Grauen vor dem katastrophalen Ende seines Vaters hervor.

Es war eher sinkende Dämmerung als emporsteigende Nacht, als Franzi und Erwin die Kapelle oben im Kiefernwalde erreichten. Der Abend war durchsichtig, mild und still, über die tiefblauen Wälder leuchteten, noch mit Schnee bedeckt, die Kuppen des Riesengebirges hin. Von weitem hörten sie die Stimmen der Glasarbeiter und Holzfäller, die feierabends von der Fabrik in Hüttenwalde herüberkamen, hörten sie lachen in schaukelndem Rhythmus, mit halber Stimme singen, bis sie dann plötzlich im Dunkel des Waldes hart an ihnen vorbeischritten.

Auf der Höhe des Hügels stand eine kleine, baufällige Kapelle; hier kreuzten sich die Wege nach Johannisbad und Hüttenwalde. Franziska und Erwin standen zögernd still. Jetzt sahen sie von den grauschimmernden Stufen des Gotteshauses sich eine alte Frau schwerfällig erheben, die Falten des baumwollenen Rockes zurechtstreichen und mit abgewandtem Gesicht an ihnen vorübergehen. Nun flackerte ein roter Schein aus dem Innern der Kapelle hervor: ein winziges rotes Öllämpchen, das die Form eines Herzens hatte, schwankte langsam vor einem uralten Muttergottesbild hin und her, als sei es bewegt von den Bitten und Gebeten der alten Frau, die an den Stufen gelegen hatte. Hinter einem halb verrosteten Eisengitter hing das Bild der schmerzensreichen Mutter Gottes wie hinter wahren Kerkergittern. Bloß der Strahlenkranz um das schmale Haupt war zu sehen und das goldene Schwert tief in ihrer Brust.

»Unbegreiflich war mir meines Vaters Tod«, sagte Erwin, »ich habe nachgedacht Tag und Nacht; ich habe nie geweint, habe mich nie gegrämt, sondern wie ein Knabe einer Schulaufgabe nachgegrübelt. Er hat niemand mehr gehabt als mich. Aber? Sterben hätte er nicht müssen. – Ein paar Tage vorher sind wir abends über die Chaussee gegangen. Es kommen doch selten Automobile in unsere Gegend; wir haben den Wagen von weitem kommen hören, und der Scheinwerfer blendete stark zwischen den Bäumen. Er aber geht knapp vor dem Automobil hinüber auf die andere Straßenseite. Der Kotflügel hat ihm seinen Havelock zerrissen, es war ein Wunder, daß nicht mehr geschehen ist. Er liegt da, zu Boden geschleudert, sieht mich an. Ich war zu Tode erschrocken, habe ihn leichenblaß angesehen – er aber, der Vater, sieht mich ganz ruhig und friedlich an: ›Was liegt daran‹, sagt er. – Und als er dann drei Tage nachher still, mit dem Giftfläschchen in der Hand, dalag, da bin ich nicht mehr erschrocken. Damals hätte ich fragen sollen, damals an der Straßenkreuzung hätte ich vielleicht noch begriffen, was sich eben begreifen läßt. Ich konnte nicht weiter. Ich arbeitete nicht mehr in der Werkstatt, ich bin tagelang, nächtelang in der leeren Wohnung umhergeschlendert, und einmal habe ich mich dabei getroffen wie ich das Fläschchen mit dem Gift unter dem Bett gesucht habe. Aber die Herren vom Gericht hatten es mit sich genommen. Dann habe ich die Wohnung zugesperrt, bin wie im Traum von daheim fort und nach Berlin. Denn ich wollte um jeden Preis leben.«

»Wie gut doch unsere Mutter war, gut im Leben, gut im Sterben«, dachte Franzi. Jetzt fand sie alle Menschen gut und wohlwollend. Tröstlich war das Angesicht der Lebenden und der Toten, Minnas warme Lippen, der Mutter letztes zärtliches Wort, Henriettes frühzeitig gealterte, unbeschützte, bestaubte Stirn, selbst Torvenius, der halbvergessene, der für sie längst gestorben war und der doch irgendwo weiterlebte, begleitet von der Erinnerung an Orla, den er liebte. Jetzt fühlte sie die Nähe der Menschen nicht mehr beengend wie sonst, sondern es strahlte aus jedem eine milde gütige Kraft, ein »Es kann sein« des Glücks, aus allen, den unscheinbarsten, und zu allermeist von ihm, der neben ihr ging, sie sehnte sich danach, immer im Schatten seiner Schritte zu gehen, durch einen nachtstillen Wald, der keinen Anfang und kein Ende hatte, über die frühlingsweiche Erde verschlungener Wege, seine dunkle Stimme zu hören, die so warm, so menschlich war in ihrem tiefen Klang.

»Sie haben zuviel erlebt in dieser kurzen Zeit«, sagte sie.

»Zuviel und nicht genug. Ich möchte Ihnen alles sagen und weiß nur nicht, wo beginnen.« Er sah sie an und erzählte dann alles.


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