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37.

Tarling ließ den Telefonhörer sinken und setzte sich mit einem qualvollen Stöhnen nieder. Er war bleich und verstört.

»Was haben Sie?« fragte Whiteside ruhig.

»Sam Stay – er hat Odette in seiner Gewalt –«

Whiteside schwieg.

»Das ist zuviel«, sagte Tarling. In diesem Augenblick läutete das Telefon wieder.

Er nahm den Hörer zum zweitenmal ab und beugte sich über den Tisch. Whiteside sah, daß seine Augen plötzlich vor Staunen und Erregung aufleuchteten, denn Odette war am Apparat.

»Ja, ich bin's, Odette.«

»Bist du in Sicherheit? Oh, Gott sei Dank! Wo bist du?«

»Ich bin in einem Zigarrenladen in –« Es trat eine Pause ein. Offenbar fragte sie jemand nach dem Namen der Straße. Dann hörte er wieder ihre Stimme und erfuhr, wo sie war.

»Warte dort, ich werde in kürzester Zeit bei dir sein. Whiteside, holen Sie schnell einen Wagen. Wie bist du denn entkommen?«

»Das ist eine lange Geschichte. Dein chinesischer Freund hat mich gerettet. Dieser fürchterliche Mensch hielt in der Nähe eines Zigarrenladens, um zu telefonieren, und wie durch ein Wunder erschien Ling Chu. Er muß auf dem Verdeck des Wagens gelegen haben, denn ich hörte, wie er von oben herunterkam. Er half mir heraus, führte mich zu einem dunklen Torweg und legte sich selbst an meiner Stelle in den Wagen. Aber, bitte, frage mich nicht mehr, ich bin so furchtbar müde.«

Eine halbe Stunde später war Tarling bei ihr und hörte nun die ganze Geschichte dieses verbrecherischen Planes. Odette Rider hatte sich wieder etwas erholt und konnte ihm auf dem Weg zum Krankenhaus alles erzählen, was sich ereignet hatte.

Als Tarling in seine Wohnung zurückkam, traf er Ling Chu noch nicht an, aber er fand Whiteside, der ihm berichtete, daß er Milburgh bei der Polizei abgeliefert hatte. Er sollte schon am nächsten Tag verhört werden.

»Ich kann gar nicht verstehen, was mit Ling Chu passiert ist – er müßte doch längst zurück sein«, murmelte Tarling.

Es war halb zwei in der Nacht. Tarling hatte sich telefonisch in Scotland Yard erkundigt, ob dort Nachrichten über Ling Chus Verbleiben, vorlägen, aber er hatte nichts erfahren können.

»Es ist natürlich möglich«, fuhr Tarling fort, »daß Stay mit dem Wagen nach Hertford gefahren ist. Der Mann ist gemeingefährlich geisteskrank.«

»Alle Verbrecher sind mehr oder weniger wahnsinnig«, sagte Whiteside philosophisch. »Was halten Sie eigentlich von Milburghs Aussage?«

Tarling zuckte die Schulter.

»Es ist schwer, darüber ein Urteil zu fällen. Manche seiner Aussagen sind sicher wahr, und irgendwie bin ich davon überzeugt, daß er in der Hauptsache nicht gelogen hat – und doch ist seine ganze Geschichte einfach unglaublich!«

»Milburgh hat eben Zeit gehabt, sich alles schön auszudenken«, warnte Whiteside. »Er ist ein schlauer Kerl. Ich hatte ja auch nichts anderes erwartet, als daß er eine haarsträubende Geschichte erzählen würde.«

»Sie mögen recht haben. Trotzdem wird er wohl im großen und ganzen die Wahrheit gesagt haben.«

»Wer hat dann aber Thornton Lyne umgebracht?«

»Sie sind anscheinend ebensoweit von der Lösung des Rätsels entfernt wie ich, und doch habe ich mir eine Lösung zurechtgelegt, die allerdings sehr phantastisch klingen mag –«

Ling Chu trat herein, ruhig und verschlossen wie immer. Seine Stirn und seine rechte Hand waren verbunden.

»Hallo, Ling Chu«, sagte Tarling, »bist du verletzt worden?«

»Es ist nicht schlimm – aber wenn der Herr so liebenswürdig sein will und mir eine Zigarette geben – ich habe bei dem Kampf alle verloren.«

»Wo ist Sam Stay?«

Ling Chu steckte erst die Zigarette an, bevor er antwortete, blies das Streichholz aus und legte es auf den Aschenbecher.

»Der Mann schläft in den Gefilden der Nacht«, sagte Ling Chu einfach.

»Tot?« fragte Tarling bestürzt.

Der Chinese nickte.

»Hast du ihn umgebracht?«

»Er ist schon seit vielen Tagen dem Tode verfallen gewesen, hat mir der Doktor in dem großen Krankenhaus gesagt. Ich habe ihn ein- oder zweimal auf den Kopf geschlagen, aber nicht sehr stark, und er hat mich ein wenig mit dem Messer gestochen, aber es war nicht schlimm.«

»Sam Stay ist also nicht mehr unter den Lebenden«, sagte Tarling nachdenklich. »Dann ist Miss Rider auch nicht mehr länger in Gefahr.«

Der Chinese lächelte.

»Es ist auch noch vieles andere dadurch in Ordnung gebracht worden, denn bevor er starb, kam er noch einmal zu klarem Verstand und wollte ein Geständnis zu Protokoll geben. Der große Doktor im Krankenhaus schickte nach einem Richter oder einem Beamten.«

Tarling und Whiteside hörten gespannt zu.

»Ein alter, kleiner Mann, der in der Nähe des Krankenhauses wohnte, wurde herbeigerufen. Er kam und klagte, daß es schon so spät wäre. Er brachte einen Sekretär mit, der sehr schnell in ein Buch schrieb. Als der Mann gestorben war, schrieb der Sekretär noch schnell auf der Maschine und gab mir diese Kopie, damit ich sie meinem Herrn überbringen sollte. Eine Kopie behielt er für sich, und das Original bekam der Richter, der mit dem Mann sprach.«

Er faßte in seine Tasche und zog eine Papierrolle hervor. Tarling nahm das Protokoll, das ziemlich umfangreich war. Dann blickte er befriedigt auf Ling Chu.

»Zuerst erzähle mir aber genau, was alles passiert ist. Du kannst dich ruhig setzen.«

Mit einer kleinen Verbeugung nahm sich der Chinese einen Stuhl und setzte sich in einer respektvollen Entfernung vom Tisch nieder.

»Du mußt wissen, Herr, daß ich gegen deinen Willen und ohne deine Kenntnis den Mann mit dem großen Gesicht hierherbrachte und ihn verhörte. Solche Dinge werden in diesem Land gewöhnlich nicht getan, aber ich dachte, daß es das beste wäre, wenn die Wahrheit ans Tageslicht käme. Ich traf alle Vorbereitungen, um ihn zu foltern, als er mir gestand, daß die kleine junge Frau in Gefahr war. Deswegen ließ ich ihn hier zurück. Ich glaubte nicht, daß der Herr vor morgen früh heimkommen würde, und ging zu dem Haus, wo die junge Frau gepflegt wurde. Als ich an die Straßenecke kam, sah ich, daß sie in ein Auto stieg.

Der Wagen begann zu fahren, bevor ich ihn erreichen konnte, und ich mußte sehr schnell laufen, damit ich ihn noch einholen konnte. Dann hielt ich mich hinten fest, und als er gleich darauf an einer Straßenkreuzung halten mußte, kletterte ich schnell nach oben und legte mich flach auf das Dach. Einige Leute sahen mich und riefen dem Fahrer zu, aber der hörte nicht darauf. Lange Zeit lag ich dort oben. Der Wagen fuhr aufs Land hinaus und kam dann wieder zur Stadt zurück. Aber bevor der Mann zurückfuhr, hielt er an, und ich sah und hörte, wie er sehr böse mit der kleinen jungen Frau sprach. Ich glaubte schon, daß er sie verletzen würde und wollte auf ihn springen, aber die junge Frau verlor die Besinnung. Er hob sie auf und legte sie wieder in den Wagen.

Dann fuhr er zur Stadt zurück und hielt vor einem Laden, in dem sich eine Telefonzelle befand. Während er dort hineinging, glitt ich von dem Wagen herunter, hob die junge Frau heraus, band ihre Hände los, brachte sie zu einem Torweg und legte mich an ihre Stelle in den Wagen. Wir fuhren eine lange Zeit, dann hielt er vor einer hohen Mauer. Und dann, Herr, gab es einen Kampf«, sagte Ling Chu einfach.

»Es dauerte lange, bis ich ihn überwältigen konnte, und dann mußte ich ihn tragen. Wir kamen zu einem Polizisten, der uns in einem anderen Wagen zu einem Krankenhaus brachte, wo meine Wunden verbunden wurden. Dann kamen sie zu mir und sagten, daß der Mann im Sterben läge und jemand sehen wollte, denn er hatte etwas auf dem Gewissen, wofür er Ruhe und Erleichterung wünschte.

Und er sprach, Herr, und der Mann schrieb eine Stunde lang. Und dann ging dieser kleine blasse Mann zu seinen Vätern.«

Er hörte plötzlich auf zu erzählen, wie er es gewöhnlich tat. Tarling nahm die Blätter und sah sie Seite für Seite durch.

»Thornton Lyne wurde von Sam Stay getötet.«

Whiteside starrte ihn verwundert an.

»Aber –«, begann er.

»Ich habe es schon eine Zeitlang vermutet, aber es fehlten noch ein oder zwei Glieder in der Beweisführung, die ich bis jetzt unmöglich herausbringen konnte. Ich werde Ihnen den wichtigsten Teil des Protokolls vorlesen, damit Sie die Sachlage klar übersehen.«


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