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10.

Tarling kam am Nachmittag in niedergeschlagener Stimmung heim. Dieser Fall gab ihm so viele Rätsel auf, daß er sich im Augenblick nicht zu helfen wußte. Ling Chu kannte von früher her solche Depressionen bei seinem Herrn. Aber diesmal entdeckte er etwas Neues in dessen Verhalten. Er erschien ihm unnötig erregt, und er glaubte eine Ängstlichkeit an ihm wahrzunehmen, die diesem Jäger der Menschen bisher vollständig fremd gewesen war.

Der Chinese bereitete lautlos den Tee für seinen Herrn und hütete sich, etwas über den Fall oder Einzelheiten der Untersuchung zu erwähnen. Er rückte den Tisch an die Seite des Bettes und wollte eben geräuschlos wie eine Katze aus dem Raum verschwinden, als Tarling ihn anhielt.

»Ling Chu«, sagte er auf chinesisch, »du besinnst dich doch darauf, daß die ›Freudigen Herzen‹ in Schanghai immer ihren ›hong‹ zurückließen, wenn sie ein Verbrechen begangen hatten.«

»Ja, Herr, ich erinnere mich sehr gut daran. Es standen bestimmte Worte auf dem Papier. Später konnte man sie in den Läden kaufen. Denn die Leute wollten diese merkwürdigen Zettel haben, um sie ihren Freunden zu zeigen.«

»Viele Leute trugen damals diese Papiere«, erwiderte Tarling langsam. »Und ein Papier mit dem Zeichen der ›Freudigen Herzen‹ wurde auch in der Tasche des Ermordeten gefunden.«

Ling Chu sah ihn mit unerschütterlicher Ruhe an.

»Herr«, sagte er dann, »ist es nicht möglich, daß der Mann mit dem weißen Gesicht, der jetzt tot ist, solche Dinge von Schanghai mitgebracht hat? Er war doch ein Tourist. Und solche Leute heben doch immer törichte Andenken auf.«

Tarling nickte. »Das wäre möglich. Ich habe auch schon daran gedacht. Aber warum trug er ausgerechnet in der Nacht, in der er ermordet wurde, ein solches Papier in seiner Tasche?«

»Herr«, fragte der Chinese, »warum ist er wohl ermordet worden?«

Tarling mußte über diese Gegenfrage seines Dieners lächeln.

»Du willst wohl damit sagen, daß eine Frage so schwer zu beantworten ist wie die andere. Nun, es ist gut.«

Ling Chu verließ das Zimmer.

Tarling war im Augenblick nicht so sehr besorgt um die Lösung dieser Frage. Jetzt galt es vor allen Dingen, den Aufenthaltsort von Odette Rider zu ermitteln. Immer wieder überlegte er sich dieses Problem. Er war verwirrt durch die sonderbaren Tatsachen, die er entdeckt hatte. Warum hatte Odette Rider überhaupt eine so untergeordnete Stellung in Lynes Geschäft angenommen, wenn ihre Mutter ein luxuriöses Leben in Hertford führte? Wer mochte ihr Vater sein – dieser geheimnisvolle Mann, der in Hertford erschien und wieder verschwand? Welche Rolle mochte er bei dem Verbrechen gespielt haben? Und wenn sie unschuldig war, warum war sie dann spurlos verschwunden, unter Umständen, die allen Verdacht auf sie lenken mußten? Was wußte Sam Stay wirklich von dem Mord? Daß er Odette Rider haßte, war nur zu offensichtlich. Als er nur Odettes Namen erwähnt hatte, war es, als ob sich ein überschäumender Giftbrunnen in Sam Stay aufgetan hätte. Aber Sam hatte keine vernünftigen, zusammenhängenden Aussagen gemacht, seine vielen Redereien bekundeten nur seinen abgrundtiefen Haß gegen das Mädchen und seine grenzenlose Verehrung für den Toten.

Tarling drehte sich unruhig auf die andere Seite und langte gerade nach der Teetasse, als er draußen leise Schritte hörte und Ling Chu in den Raum schlüpfte.

»Der strahlende Mann ist wieder hier«, sagte er. Er meinte damit Whiteside, der etwas von seiner frischen Art in das Zimmer brachte, die Ling Chu veranlaßt hatte, ihm diesen Namen zu geben.

»Mr. Tarling«, begann der Polizeiinspektor und zog ein kleines Notizbuch aus der Tasche, »ich habe leider nicht viel über den Aufenthaltsort von Miss Rider erfahren können. Ich war auf der Charing-Cross-Station und habe dort an einem Fahrkartenschalter nachgefragt. In den letzten paar Tagen sind verschiedene junge Damen ohne Begleitung nach dem Festland abgereist.«

»Paßte denn eine der Beschreibungen auf Miss Rider?« fragte Tarling enttäuscht.

Der Detektiv schüttelte den Kopf. Aber trotz des geringen Erfolges seiner Nachforschungen mußte er doch anscheinend eine wichtige Entdeckung gemacht haben, denn er sah zuversichtlich aus.

»Sie haben etwas herausgebracht?« fragte Tarling schnell.

»Ja, durch reinen Zufall bin ich hinter eine merkwürdige Geschichte gekommen. Ich sprach mit verschiedenen Fahrkartenkontrolleuren, um vielleicht einen zu finden, der das Mädchen gesehen hätte. Ich habe nämlich eine Fotografie von ihr gefunden, eine Vergrößerung aus einem Gruppenbild der Angestellten des Warenhauses. Die war mir bei meinen Nachforschungen sehr nützlich.«

Tarling nickte.

»Während ich nun mit einem der Leute an der Sperre sprach«, fuhr Whiteside fort, »kam ein Kontrolleur, der die Züge begleitete, durch und erzählte eine merkwürdige Geschichte von Ashford. An dem Abend, als der Mord geschah, hatte der Expreß nach dem Kontinent einen Unglücksfall.«

»Ich besinne mich, daß ich etwas darüber in der Zeitung gelesen hatte, aber ich war zu sehr von der anderen Sache in Anspruch genommen. Was ist denn dort passiert?«

»Ein großer Koffer, der auf der Plattform hinten stand, fiel während der Fahrt zwischen zwei Wagen, und der eine Wagen sprang aus den Schienen. Es wurde allerdings nur eine Dame verletzt, eine gewisse Miss Stevens. Offensichtlich hat sie nur eine geringe Gehirnerschütterung davongetragen. Der Zug hielt natürlich sofort – und man brachte sie in das Cottage-Hospital, wo sie jetzt noch liegt. Die Tochter des Fahrkartenkontrolleurs, dem ich jetzt die Sache erzählte, ist Krankenschwester in dem Hospital und hat ihrem Vater berichtet, daß diese Miss Stevens, bevor sie das Bewußtsein wiedererlangte, phantasierte und dabei mehrmals einen Mr. Lyne und einen Mr. Milburgh erwähnte!«

Tarling hatte sich vollständig aufgerichtet und sah Whiteside durch zusammengekniffene Augenlider an.

»Erzählen Sie weiter.«

»Ich konnte von dem Beamten nur noch erfahren, daß seine Tochter den Eindruck hatte, als ob die Dame mit Mr. Lyne und Mr. Milburgh heftige Auseinandersetzungen gehabt hatte.«

Tarling hatte sich erhoben und seinen Schlafrock abgelegt. Er schlug mit den Fingerknöcheln auf einen Gong. Ling Chu erschien, und Tarling gab ihm in chinesisch einen Auftrag, den Whiteside nicht verstehen konnte.

»Sie fahren nach Ashford? Das dachte ich mir. Darf ich Sie begleiten?« fragte Whiteside.

»Nein, ich danke Ihnen«, erwiderte Tarling. »Ich werde allein fahren. Ich habe den bestimmten Eindruck, daß Miss Stevens durch ihre Aussagen den Fall Lyne aufklären kann, und das wird vielleicht mehr Licht in die verworrenen Ereignisse bringen können als alle Aussagen, die wir bisher zu Protokoll genommen haben.«

In Ashford konnte er nur schwer einen Wagen bekommen, denn es regnete heftig. Unvorsichtigerweise hatte er weder einen Regenmantel noch einen Schirm mitgenommen.

Als er an dem Cottage-Hospital ankam, wurde er von der Oberin sofort über den wichtigsten Punkt aufgeklärt.

»O ja, Miss Stevens ist noch hier«, sagte sie. Er seufzte erleichtert auf. Es wäre auch möglich gewesen, daß sie schon entlassen worden war.

Die ältere Dame zeigte ihm den Weg durch lange Korridore bis zu einem kleinen Vorplatz. Kurz vorher öffnete sie eine kleine Tür zur rechten Hand.

»Wir haben sie hier in dieses Privatzimmer gelegt, weil wir zuerst dachten, sie müßte operiert werden.«

Tarling trat ein. Er konnte von der Tür aus das Bett sehen. Das Mädchen wandte den Kopf, und ihre Blicke trafen sich ...

›Miss Stevens‹ war Odette Rider!


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