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17.

Tarling verließ die Polizeidirektion und ging an dem sonnenbeschienenen Themseufer entlang. Er war aufgeregt und sagte sich selbst, daß die Aufklärung dieses Falles über seine Kräfte hinausginge. Der hohe Polizeibeamte hatte ihn merkwürdig angesehen, als er erfuhr, daß der alleinige Erbe des großen Vermögens der Detektiv war, der diesen Mord aufklären wollte. Obendrein hatte man seinen Revolver in dem Zimmer gefunden, in dem der Mord begangen wurde.

Er mußte über dieses Zusammentreffen lächeln. Nun war einmal die Reihe an ihm, ungerechterweise in Verdacht zu kommen, und er mußte plötzlich daran denken, wie viele Menschen er wohl schon während seiner Laufbahn fälschlich verdächtigt hatte.

Er stieg die Treppe zu seiner Wohnung hinauf und fand Ling Chu damit beschäftigt, Silber zu putzen. Ling Chu war eigentlich ein Diebsfänger und in seiner Art ein großer Detektiv, er hatte aber nebenbei auch die Aufgabe übernommen, sich um das persönliche Wohlbefinden Tarlings zu kümmern. Tarling sprach kein Wort, sondern ging geradenwegs in sein Zimmer und öffnete eine Kommode. In einer besonderen Schublade lagen seine weißen Tropenanzüge, tadellos sauber und peinlich geglättet. Sein Tropenhelm hing an einem Haken und daneben seine lederne Revolvertasche. Er nahm sie herunter und sah, daß die Tasche leer war. Er hatte es auch gar nicht anders erwartet.

»Ling Chu«, sagte er ruhig.

»Ich höre dich, Lieh Jen«, sagte der Chinese und legte Löffel und Putzzeug beiseite.

»Wo ist mein Revolver?«

»Er ist fort, Lieh Jen.«

»Seit wann ist er fort?«

»Seit vier Tagen«, sagte Ling Chu gelassen.

»Wer hat ihn fortgenommen?«

»Ich vermisse ihn seit vier Tagen.«

Eine Pause trat ein, dann nickte Tarling langsam.

»Es ist gut, Ling Chu. Wir wollen nicht mehr darüber sprechen.«

Trotz seiner äußeren Ruhe war er sehr bestürzt.

War es möglich, daß jemand in der Abwesenheit Ling Chus in den Raum gekommen war? Sie waren doch nur einmal zusammen ausgegangen, an jenem Abend, als er zum erstenmal Odette Rider besuchte und Ling Chu hinter ihm herging.

Ling Chu selbst –?

Er verwarf diesen Gedanken sofort als vollständig sinnlos und absurd. Welches Interesse sollte denn Ling Chu an dem Tod Lynes haben, den er nur einmal gesehen hatte, als Thornton Lyne ihn zu sich gerufen hatte.

Es war ein unmöglicher Verdacht, aber trotzdem kam er nicht davon los. Schließlich schickte er Ling Chu mit einer gleichgültigen Nachricht nach Scotland Yard. Er war entschlossen, selbst dieser unwahrscheinlichen Theorie nachzugehen und sie soweit als möglich zu prüfen.

Tarlings Wohnung bestand aus vier Zimmern und einer Küche. Sein Schlafzimmer stand in Verbindung mit dem Eß- und Wohnzimmer. Außerdem war noch ein Raum vorhanden, in dem er seine Kisten und Koffer aufbewahrte. Hier hatte er auch seinen Revolver verwahrt. Das vierte Zimmer bewohnte Ling Chu.

Tarling wartete, bis der Chinese das Haus verlassen hatte, dann stand er auf und begann seine Nachforschungen.

Ling Chus Zimmer war nicht groß, aber peinlich und gewissenhaft saubergehalten. Außer einem Bett, einem Tisch, einem Stuhl und einem einfachen schwarz angestrichenen Kasten unter dem Bett befanden sich keine Möbel in dem Raum. Den gescheuerten Fußboden bedeckte eine schöne chinesische Matte. Der einzige Schmuck des Zimmers bestand in einer kleinen roten Vase, die auf dem Kamin stand.

Tarling ging zu der äußeren Wohnungstür und schloß sie ab, bevor er seine Nachforschungen fortführte. Wenn überhaupt etwas zu finden war, was das Geheimnis des gestohlenen Revolvers aufklären konnte, so mußte er es in der schwarzen Kiste entdecken.

Sie war gut verschlossen, und es dauerte zehn Minuten, bis er einen Schlüssel fand, der zu den beiden Schlössern paßte.

Der Kasten enthielt nicht viel. Ling Chu hatte keine große Garderobe, seine Kleider nahmen kaum die Hälfte des Platzes ein. Tarling hob äußerst vorsichtig die Anzüge, die seidenen Tücher, die Schuhe und alle die vielen kleinen Toilettengegenstände heraus, die der Chinese brauchte. Er kam bald zu der unteren Abteilung, wo er zwei unverschlossene Lackkästen fand.

Der erste enthielt Nähmaterial, der zweite ein kleines Bündel, das sauber in chinesisches Papier eingepackt und mit einem Band zugeschnürt war. Tarling löste den Knoten, öffnete das Päckchen und sah zu seinem Erstaunen eine Menge von Zeitungsausschnitten vor sich. Hauptsächlich waren es Ausschnitte aus chinesischen Blättern, aber einige stammten auch aus einer englischen Zeitung, die in Schanghai erschien.

Er dachte zuerst, daß es Berichte über Fälle seien, an denen Ling Chu beteiligt war. Und obwohl er sich darüber wunderte, daß ein Chinese sich die Mühe machte, diese Andenken zu sammeln, besonders die Zeitungsausschnitte in englischer Sprache, dachte er doch nicht daran, daß diese Papiere irgendeine Bedeutung haben könnten. Aber er wollte irgendeinen Anhaltspunkt finden, er wußte selbst nicht welchen, der ihm eine ausreichende Erklärung für das Verschwinden seiner Pistole geben könnte.

Er sah zuerst oberflächlich die englischen Ausschnitte durch, aber plötzlich wurde sein Interesse wach.

›Gestern abend gab es einen Aufruhr in Ho Hans Teehaus. Ein englischer Besucher brachte dem Tanzmädchen, der kleinen Narzisse, wie sie von den Fremden genannt wird, anscheinend ein zu großes Interesse entgegen.‹

Die kleine Narzisse! Tarling ließ den Zeitungsausschnitt sinken und suchte sich an die Einzelheiten zu erinnern. Er kannte Schanghai und seine geheimnisvolle Unterwelt gut, und auch Ho Hans Teehaus war ihm vertraut, das in Wirklichkeit eine Opiumhöhle war. Kurz vor seiner Abreise hatte er das herausgefunden, und das Lokal war geschlossen worden. Er konnte sich noch gut auf das hübsche Tanzmädchen besinnen. Er hatte sich niemals näher mit ihr befaßt, denn wenn er dieses Lokal aufsuchen mußte, hatte er gewöhnlich wichtigere Dinge zu erledigen, als sich um das hübsche kleine Tanzmädchen zu kümmern.

An alles erinnerte er sich plötzlich wieder. Im englischen Klub hatte er gehört, wie sich die Herren über die Vorzüge, Grazie und Schönheit dieser kleinen Chinesin unterhielten. Als sie zum erstenmal auftrat, erregten ihre Tänze großes Aufsehen unter den jungen Engländern.

Der nächste Ausschnitt war auch der englischen Zeitung entnommen.

›Ein trauriger Vorfall ereignete sich heute morgen. Ein junges chinesisches Mädchen, O Ling, die Schwester des Polizeiinspektors Ling Chu, wurde sterbend in dem Hinterhof von Ho Hans Teehaus aufgefunden. Das Mädchen war dort als Tänzerin angestellt, sehr gegen den Willen ihres Bruders. Sie war die indirekte Veranlassung zu einem recht unangenehmen Auftritt, über den wir vorige Woche berichtet haben. Man nimmt an, daß diese tragische Tat einer der Selbstmorde war, um das Gesicht zu retten, wie sie unter den eingeborenen Frauen in diesem Lande leider sehr häufig vorkommen.‹

Tarling pfiff vor sich hin.

Die kleine Narzisse! Sie war also die Schwester Ling Chus gewesen! Er kannte die Chinesen ein wenig, kannte ihre unendliche Geduld und ihren Haß, der niemals vergibt. Der ermordete Thornton Lyne hatte nicht nur die Tänzerin tödlich beleidigt, sondern auch ihre ganze Familie! In China beleidigt man nicht nur den einzelnen, sondern eine Gesamtheit. Und dieses Mädchen hatte in dem Bewußtsein der Schande, die auf ihren Bruder fiel, den einzigen Ausweg gewählt, der ihr als Chinesin übrigblieb.

Aber welcher Art mochte die Kränkung gewesen sein? Tarling suchte in den chinesischen Zeitungsausschnitten und fand auch verschiedene Erzählungen in blumenreicher Sprache. Alle stimmten darin überein, daß ein Engländer, ein Tourist, diesem Mädchen öffentlich den Hof gemacht habe. Das war allerdings vom Standpunkt eines Europäers aus keine große Beleidigung. Ein Chinese war dazwischengetreten, dann hatte es einen allgemeinen Aufruhr gegeben.

Tarling las alle Zeitungsausschnitte von Anfang bis Ende durch, legte sie dann wieder sorgsam in den Umschlag zurück und steckte diesen in den Lackkasten. Er packte alles wieder so vorsichtig wie möglich ein, legte es genauso hin, wie er es herausgenommen hatte, verschloß den schwarzen Kasten und stellte ihn unter das Bett. Er versuchte sich ein Bild der ganzen Vorgänge zu machen. Ling Chu hatte Thornton Lyne gesehen und ihm Rache geschworen. Tarlings Revolver zu entwenden war eine leichte Sache. Aber warum hatte er die Waffe am Tatort zurückgelassen, wenn er Lyne ermordete? Das sah Ling Chu nicht ähnlich, so konnte nur ein Laie handeln.

Und wie mochte es ihm gelungen sein, Thornton Lyne in die Wohnung zu locken? Wie konnte er wissen – plötzlich kam Tarling ein Gedanke.

Noch kurz vor dem Mord hatte Ling Chu mit ihm über die Unterredung in dem Privatbüro Lynes gesprochen. Er hatte damals die Situation klar erkannt. Ling Chu wußte, daß Thornton Lyne in Odette verliebt war und sie haben wollte. Es wäre nicht weiter verwunderlich gewesen, wenn er die Kenntnisse zu seinem eigenen Vorteil ausgenutzt hätte.

Aber das Telegramm, das Lyne in die Wohnung bringen sollte, war englisch abgefaßt, und Ling Chu verstand doch diese Sprache kaum. Hier kam Tarling wieder auf den toten Punkt. Obwohl er diesem Chinesen sein eigenes Leben anvertrauen konnte, war er sich vollkommen darüber klar, daß er ihm nicht alles offenbarte, was er wußte. Es war leicht möglich, daß Ling Chu die englische Sprache genausogut beherrschte wie seine Muttersprache und die andern hauptsächlichen Dialekte von China.

»Ich gebe es auf«, sagte Tarling verzweifelt zu sich selbst.

Er war unentschlossen, ob er auf die Rückkehr seines Assistenten warten und ihm das Verbrechen auf den Kopf zusagen oder ob er die Sache einige Tage ruhig gehen lassen und erst Odette Rider besuchen sollte. Er entschied sich für das letztere, hinterließ eine kurze Notiz für Ling Chu und war eine Viertelstunde später schon in dem kleinen Hotel angekommen.

Odette Rider wartete auf ihn. Sie sah blaß und müde aus, als ob sie in der vergangenen Nacht wenig geschlafen hätte, aber sie grüßte ihn mit dem freundlichen Lächeln, das er an ihr kannte.

»Ich kann Ihnen die angenehme Nachricht bringen, daß Sie nicht nach Scotland Yard gehen müssen und Ihnen das Verhör dort erspart bleibt«, sagte er lachend. Er las in ihren Augen, wie sehr sie sich über diese Mitteilung freute.

»Sind Sie heute morgen spazierengegangen?« fragte er in aller Unschuld. Aber über diese Frage mußte sie lachen.

»Sie wissen doch ganz genau, daß ich nicht ausgegangen bin, ebenso wissen Sie, daß drei Detektive von Scotland Yard das Hotel bewachen. Die Leute würden mir doch unweigerlich auf dem Fuß folgen, wenn ich das Hotel verließe und einen Spaziergang machte.«

»Woher haben Sie denn das erfahren?« fragte er, ohne die Tatsache zu leugnen.

»Weil ich ausgegangen bin«, sagte sie naiv und lachte wieder. »Sie sind wirklich nicht so schlau, wie ich annahm. Ich erwartete eben, als ich Ihnen sagte, ich sei nicht ausgegangen, daß Sie mir genau erzählten, wohin ich gegangen sei und was ich eingekauft hätte.«

»Wenn Sie es unbedingt wissen wollen – Sie haben grüne Seide, sechs Taschentücher und eine Zahnbürste gekauft«, erwiderte Tarling prompt.

»Ich hätte Sie also doch besser kennen sollen«, sagte sie, »Sie haben diese Spione aufgestellt?«

»Wie man es nimmt«, antwortete er vergnügt. »Ich habe nur eben mit dem Empfangschef unten in der Halle gesprochen, der hat mir allerhand erzählt. Ist er Ihnen etwa bei Ihren Einkäufen gefolgt?«

»Nein, ich habe niemanden gesehen«, gestand sie ihm ein, »obgleich ich mich sehr sorgsam umgesehen habe. Sagen Sie mir aber jetzt bitte, was Sie mit mir anfangen wollen?«

Statt jeder Antwort nahm Tarling einen flachen, länglichen Kasten aus der Tasche. Sie schaute ihm verwundert zu, als er den Deckel öffnete, und sah eine Porzellanschale, die mit einer dünnen Schicht schwarzer Farbe bedeckt war, und zwei weiße Karten. Seine Hand zitterte, als er sie auf den Tisch legte, und sie verstand plötzlich die Bedeutung.

»Wollen Sie meine Fingerabdrücke nehmen?«

»Es tut mir leid, daß ich Sie darum bitten muß – aber –«

»Zeigen Sie mir nur, wie ich es machen muß«, unterbrach sie ihn, und er gab ihr die Anleitung.

Er fühlte sich nicht ganz wohl dabei – er kam sich wie ein Verräter vor. Vielleicht hatte sie seine Gedanken erkannt, denn sie lachte, als sie ihre schmutzigen Finger wieder reinigte.

»Pflicht ist Pflicht«, sagte sie etwas spöttisch. »Aber sagen Sie mir bitte, wollen Sie mich die ganze Zeit beobachten lassen?«

»Nur noch eine kleine Weile«, erwiderte Tarling ernst. »So lange, bis wir die Informationen haben, die wir brauchen.«

Er ließ den Kasten wieder in seine Tasche gleiten.

»Wollen Sie uns denn wirklich nicht Aufschluß geben? Meiner Meinung nach begehen Sie einen großen Fehler. Aber schließlich bin ich ja nicht von Ihren Angaben abhängig. Ich werde wahrscheinlich alles herausbringen, ohne daß Sie nur ein Wort sagen. Es hängt nur davon ab –«

»Wovon?« fragte sie neugierig, als er zögerte.

»Von dem, was andere mir erzählen.«

»Andere? Welche anderen meinen Sie denn?«

Sie sah ihm gerade ins Gesicht.

»Es war einmal ein berühmter Politiker, der den Ausspruch prägte: ›Warte ab und sieh zu‹«, entgegnete Tarling. »Ich möchte Sie bitten, diesem Rat zu folgen. Nun will ich Ihnen etwas sagen, Miss Rider«, fuhr er fort. »Morgen werde ich die Beobachter entfernen, aber ich ersuche Sie dringend, noch eine Weile hier im Hotel zu bleiben. Es ist ganz klar, daß Sie nicht in Ihre Wohnung zurückkehren können.«

Odette zitterte. »Sprechen Sie bitte nicht darüber«, bat sie leise. »Aber ist es denn notwendig, daß ich hierbleibe?«

»Ich wüßte auch noch eine andere Lösung«, sagte er langsam und sah sie scharf an. »Sie können auch zu Ihrer Mutter nach Hertford gehen.«

Sie blickte schnell auf. »Das ist ganz unmöglich.«

Er schwieg einen Augenblick.

»Warum schenken Sie mir Ihr Vertrauen nicht, Miss Rider? Ich würde es nicht mißbrauchen. Warum erzählen Sie mir denn nichts von Ihrem Vater?«

»Von meinem Vater?« Sie schaute ihn verwirrt an.

Er nickte.

»Aber ich habe doch keinen Vater mehr.«

»Haben Sie –« Es wurde ihm schwer, die Worte zu finden, und er vermutete, daß sie wußte, was er fragen wollte. »Haben Sie einen Verehrer?«

»Wie meinen Sie das?« fragte sie. Er merkte an dem Ton ihrer Stimme, daß sie unwillig war.

»Ich meine damit, wie Sie zu Mr. Milburgh stehen, was bedeutet er Ihnen?«

Sie sah ihn verwirrt und bestürzt an.

»Nichts!« sagte sie heiser. »Nichts! Nichts!«


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