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13.

Die Rückreise nach London blieb Tarling für immer mit fast fotografischer Treue in Erinnerung. Odette sprach wenig, und er selbst war damit zufrieden, alle die merkwürdigen Umstände überdenken zu können, die Odettes Flucht betrafen.

Und wenn die beiden auch nicht sprachen, so waren sie doch glücklich, nebeneinander zu sitzen. In diesem Schweigen lagen eine unausgesprochene Kameradschaft und ein Verständnis für einander, das schwer zu erklären war. Hatte er sich in sie verliebt? Ihm war der Gedanke noch ganz unfaßbar, daß er in dieses Stadium gekommen sein könnte. Er hatte sich in seinem Leben noch niemals verliebt. Nie war ihm auch nur der leiseste Gedanke gekommen, daß selbst er einmal in diesen Zustand geraten könnte.

Schon der bloße Gedanke, sich vielleicht in Odette verliebt zu haben, verwirrte ihn, denn es fehlte ihm noch jedes Selbstvertrauen in diesen Dingen, und er fürchtete, daß seine Zuneigung zu ihr vollständig hoffnungslos sei. Er konnte sich nicht denken, daß ihn überhaupt eine Frau lieben könnte. Und nun beruhigte ihn ihre Gegenwart und ihre süße Nähe, beruhigte und erregte ihn zugleich. Er versuchte sich seine Lage klarzumachen. Er war ein Detektiv, der gegen eine Frau vorgehen sollte, die unter dem Verdacht des Mordes stand, aber er hatte Angst, seine Aufgabe auszuführen. Er hatte den Haftbefehl in der Tasche, aber er war froh, daß er ihn nicht auszuführen brauchte. Die Fahrt erschien ihm viel zu kurz, und erst als der Zug durch die dünnen Nebelbänke fuhr, die London bedeckten, erwähnte er den Mord wieder, und auch dann kostete es ihn große Überwindung.

»Ich werde Sie in ein Hotel bringen, in dem Sie übernachten können«, sagte er, »und morgen begleite ich Sie dann nach Scotland Yard, wo Sie mit einem der höheren Beamten sprechen müssen.«

»Dann bin ich also nicht verhaftet?« fragte sie lächelnd.

»Nein, Sie sind nicht verhaftet«, sagte er lächelnd. »Aber ich fürchte, daß viele Fragen an Sie gestellt werden, die Ihnen sehr unangenehm sind. Miss Rider, Sie müssen doch verstehen, daß Sie sich durch Ihre Handlungsweise sehr verdächtig gemacht haben. Sie sind unter falschem Namen nach Frankreich abgereist. Und bedenken Sie, daß der Mord in Ihrer Wohnung begangen wurde.«

Sie zitterte.

»Bitte, sprechen Sie nicht mehr darüber«, bat sie leise.

Er fühlte, wie sie das quälte. Aber er wußte, daß sie sich auf ein Verhör vorbereiten mußte, das wenig Rücksicht auf ihre Gefühle nahm.

»Ich wünschte nur, Sie würden mir Ihr Vertrauen schenken. Ich bin fest davon überzeugt, daß ich Ihnen viel Unannehmlichkeiten ersparen und alle Verdachtsgründe gegen Sie entkräften könnte.«

»Mr. Lyne hat mich gehaßt. Ich glaube, ich habe ihn an seiner empfindlichsten Stelle getroffen, ich habe seine Eitelkeit aufs schwerste verletzt. Sie wissen doch selbst, daß er diesen Verbrecher zu meiner Wohnung schickte, um Beweismaterial gegen mich zu schaffen.«

Er nickte.

»Haben Sie Sam Stay früher schon gesehen?«

»Nein, ich habe nur von ihm gehört. Ich wußte, daß Mr. Lyne sich für einen Verbrecher interessierte und daß dieser ihn sehr verehrte. Einmal nahm ihn Mr. Lyne sogar ins Geschäft mit, um ihn dort anzustellen. Aber Sam Stay wollte nicht. Mr. Lyne hat mir auch einmal gesagt, daß dieser Mann alles, was in Menschenkräften stände, für ihn tun würde.«

»Stay ist der Überzeugung, daß Sie den Mord begangen haben«, sagte Tarling düster. »Lyne hat ihm anscheinend allerhand Geschichten von Ihrem Haß gegen ihn erzählt. Meiner Meinung nach ist er viel gefährlicher für Sie als die Polizei. Glücklicherweise hat dieser arme Kerl den Verstand verloren.«

Sie schaute ihn erstaunt an.

»Ist er verrückt?« fragte sie. »Hat dieses Unglück ihn so mitgenommen?«

Tarling nickte.

»Er wurde heute morgen in die Landesirrenanstalt eingeliefert. In meinem Büro hatte er einen Zusammenbruch, und als er dann später in einem Krankenhaus wieder zu sich kam, stellte man fest, daß er anscheinend den Verstand vollkommen verloren hat. Miss Rider, wollen Sie mir nicht Ihr Vertrauen schenken und mir alles erzählen?«

Sie schaute ihn wieder an und lächelte traurig.

»Ich fürchte, daß ich Ihnen nicht mehr mitteilen kann, als ich bisher tat. Wenn Sie in mich dringen, Ihnen zu sagen, warum ich mich als Miss Stevens ausgab oder warum ich London verließ, so kann ich Ihnen keine Antwort geben. Ich hatte einen guten Grund dafür – und ich hätte vielleicht noch mehr Grund, fortzulaufen...«

Er wartete vergeblich darauf, daß sie weitersprach und legte seine Hand auf die ihre.

»Als ich Ihnen von dem Mord erzählte«, sagte er ernst, »erkannte ich sofort an Ihrem Erstaunen und an Ihrer Aufregung, daß Sie unschuldig waren. Später war der Doktor in der Lage, Ihr Alibi zu beweisen, und dieser Beweis ist einwandfrei und unumstößlich. Aber Sie haben in Ihrem Erstaunen verschiedenes gesagt, das darauf schließen läßt, daß Sie den Täter kennen. Sie haben von einem Mann gesprochen, und ich möchte Sie dringend bitten, mir seinen Namen zu nennen.«

»Den kann ich Ihnen nie sagen.«

»Aber ist Ihnen denn nicht klar, daß man Sie der Mittäterschaft vor oder nach dem Verbrechen anklagen kann? Sehen Sie denn nicht ein, was das für Sie und Ihre Mutter bedeutet?«

Als er ihre Mutter erwähnte, schloß sie die Augen.

»Bitte, sprechen Sie nicht darüber«, flüsterte sie. »Tun Sie, was Sie tun müssen. Lassen Sie mich durch die Polizei verhaften oder mich vor Gericht stellen oder mich hängen – aber fragen Sie mich nicht weiter. Denn ich will und kann Ihnen nicht antworten!«

Tarling erkannte seine Machtlosigkeit und sprach nicht mehr.

Whiteside erwartete sie am Zug, und in seiner Begleitung befanden sich zwei Männer, denen man schon auf weite Entfernung ansah, daß es Polizisten von Scotland Yard waren. Tarling nahm ihn beiseite und erklärte ihm die Lage in ein paar Worten.

»Unter diesen Umständen werde ich die Verhaftung nicht vornehmen«, sagte er.

Whiteside war auch seiner Meinung.

»Es ist ja ganz unmöglich, daß sie den Mord begangen hat.«

»Ihr Alibi kann in keiner Weise widerlegt werden. Obendrein werden die Angaben des Arztes noch durch die Aussagen des Stationsvorstehers in Ashford bestätigt, der die genaue Zeit des Unfalles in seinem Diensttagebuch festgelegt hat und selbst dabei half, als das Mädchen aus dem Zug getragen wurde.«

»Warum hat sie sich denn aber Miss Stevens genannt?« fragte Whiteside, »und warum hat sie London so eilig verlassen?«

Tarling zuckte die Schultern.

»Das wollte ich auch gern herausbringen, aber ich hatte nicht den geringsten Erfolg, denn Miss Rider verweigerte jede Aussage hierüber. Ich werde sie jetzt zu einem Hotel bringen. Morgen soll sie dann nach Scotland Yard kommen, aber ich zweifle, daß der Chef irgendwelchen Einfluß auf sie haben wird und sie ihm gegenüber mehr aussagt.«

»War sie erstaunt, als Sie von dem Mord erzählten? Hat sie irgendwelche Namen im Zusammenhang damit genannt?« fragte Whiteside.

Tarling zögerte; dann log er, was selten vorkam.

»Nein. Sie war sehr aufgebracht, aber sie hat niemand erwähnt.«

Er brachte Odette in einem Taxi in ein ruhiges, kleines Hotel, und er war glücklich, wieder allein mit ihr in dem Wagen zu sein.

»Ich kann Ihnen nicht dankbar genug sein, Mr. Tarling, daß Sie so gütig zu mir sind«, sagte sie beim Abschied, »und wenn ich Ihnen Ihre Aufgabe irgendwie erleichtern könnte, würde ich es gerne tun.«

Er sah einen schmerzlichen Ausdruck in ihrem Gesicht.

»Ich kann es noch nicht fassen, es kommt mir alles wie ein böser Traum vor.« Sie sprach halb zu sich selbst. »Aber es ist auch nicht nötig, daß ich es verstehe. Ich möchte es vergessen, alles vergessen!«

»Was wollen Sie vergessen?«

»Ach, bitte, fragen Sie mich nicht!«

In düsteren Gedanken und Sorgen stieg er die Treppe wieder hinunter. Er hatte das Taxi vor der Tür warten lassen, aber zu seinem größten Erstaunen war der Wagen nicht mehr da. Er wandte sich an den Portier.

»Was ist denn aus meinem Auto geworden?«

»Ich bemerkte Ihren Wagen gar nicht, Sir. Aber ich werde mich danach erkundigen.«

Der Hausdiener, der vor der Tür gestanden hatte, erzählte eine ganz merkwürdige Geschichte. Ein unbekannter Herr sei plötzlich aus der Dunkelheit aufgetaucht und habe das Auto bezahlt, das daraufhin abfuhr. Er hatte aber das Gesicht des Herrn nicht sehen können. Der unbekannte, geheimnisvolle Wohltäter sei dann in der entgegengesetzten Richtung davongegangen und wieder im Dunkel verschwunden.

Tarling runzelte die Stirn.

»Das ist sehr sonderbar. Holen Sie mir ein anderes Auto.«

»Ich fürchte, das wird augenblicklich sehr schwierig sein.« Der Portier schüttelte den Kopf. »Sie sehen, wie dicht der Nebel ist – in unserer Gegend ist er immer am dichtesten –, es ist eigentlich sehr spät für dieses Jahr, sonst haben wir um diese Zeit keinen Nebel mehr –«

Tarling unterbrach ihn kurz in seinen Betrachtungen über das Wetter, knöpfte seinen Mantel bis unter das Kinn zu und machte sich auf den Weg zur nächsten Untergrundstation.

Das Hotel, zu dem er das junge Mädchen gebracht hatte, lag in einer ruhigen Wohngegend, und um diese Abendstunde waren die Straßen gänzlich verlassen. Das neblige Wetter lockte niemand ins Freie.

Tarling war noch nicht besonders gut mit dem Stadtplan Londons vertraut, aber er wußte ungefähr, in welcher Richtung er gehen mußte. Er konnte die Straßenbeleuchtung verschwommen erkennen, und er befand sich gerade in der Mitte zwischen zwei Laternen, als er leise Schritte hinter sich vernahm.

Das Geräusch war nur schwach, aber er drehte sich sofort um, als er es hörte. Instinktiv trat er zur Seite und hielt die Hände zur Abwehr vor.

Ein schwerer Gegenstand flog an seinem Kopf vorbei und schlug hart auf dem Gehsteig auf.

Tarling sprang sofort auf seinen Angreifer zu, der sich ihm durch schnelle Flucht zu entziehen suchte. Als er ihn faßte, erscholl eine betäubende Explosion, und seine Füße waren von glühendem Kordit bedeckt. Einen Augenblick ließ er seinen Gegner los, den er schon an der Kehle gepackt hatte.

Er fühlte mehr als er sah, daß der andere die Pistole wieder gegen ihn erhoben hatte und griff schnell zu einer Kriegslist, die er von den Japanern beim Jiu-Jitsu gelernt hatte. Er warf sich auf die Erde und rollte sich auf dem Boden, als der Revolver zum zweitenmal krachte. Er wollte seinem Gegner mit voller Wucht vor die Kniescheibe treten. Es war ein schlauer und gewandter Trick, aber der geheimnisvolle Fremde war zu schnell, und als Tarling wieder aufsprang, war er allein.

Aber er hatte das Gesicht des andern gesehen – ein großes weißes, von Rachedurst verzerrtes Gesicht. Es war nur einen Augenblick sichtbar gewesen, aber er kannte nun seinen Gegner. Er eilte in der Richtung weiter, in der der andere vermutlich verschwunden war. Doch der Nebel war zu dicht, und er verfehlte ihn. Plötzlich hörte er jemand die Straße entlangkommen, ging auf ihn zu und traf einen Polizisten, der durch die Schüsse herbeigelockt worden war.

Der Beamte hatte niemand gesehen.

»Dann muß er in der anderen Richtung geflohen sein«, sagte Tarling und eilte so schnell er konnte dorthin, um den Attentäter zu verfolgen. Aber auch diesmal hatte er keinen Erfolg.

Langsam ging er zu der Stelle zurück, wo der Angriff auf ihn verübt worden war. Der Polizist hatte inzwischen das Pflaster mit seiner Taschenlampe nach irgendwelchen Anhaltspunkten über die Person des Attentäters abgesucht.

»Es ist nichts zu entdecken. Ich habe nur dieses kleine rote Papier gefunden.«

Tarling nahm es in die Hand und betrachtete es im Licht der Straßenlaterne. Es war ein viereckiger roter Zettel, auf den vier schwarze chinesische Schriftzeichen geschrieben waren:›Er hat es sich selbst zuzuschreiben.‹

Es war dieselbe Inschrift, die auf dem Stückchen Papier stand, das Thornton Lyne in der Tasche hatte, als er an jenem Morgen tot und steif im Hydepark gefunden wurde.


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