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16.

»Das ist Ihre Waffe?« fragte Whiteside ungläubig. »Mein lieber Freund, sind Sie nicht ganz bei Sinnen? Wie kann denn das Ihre Pistole sein?«

»Es ist trotzdem meine Pistole«, entgegnete Tarling ruhig. »Ich habe sie gleich erkannt, als ich sie auf dem Schreibtisch liegen sah, aber ich dachte, ich würde mich irren. Diese Kugelspuren beweisen, daß ein Irrtum ausgeschlossen ist. Diese Pistole war mein treuester Freund, ich habe sie sechs Jahre in China mit mir herumgetragen.«

Whiteside war fast atemlos.

»Das würde also bedeuten, daß Thornton Lyne mit Ihrer Pistole ermordet wurde?«

Tarling nickte.

»Es ist erstaunlich, aber es ist zweifellos meine Waffe, und es ist auch dieselbe, die in der Wohnung von Miss Rider gefunden wurde. Ich zweifle auch nicht im mindesten daran, daß der tödliche Schuß aus dieser Pistole abgegeben wurde.«

Ein langes Schweigen trat ein.

»Nun, das wirft meine ganzen Theorien über den Haufen«, erklärte Whiteside und legte die Waffe wieder auf den Tisch.

»Wir stoßen auf immer neue Geheimnisse bei der Bearbeitung dieses Falles. Das ist die zweite unglaubliche Geschichte, die mir heute vorgekommen ist.«

»Die zweite?« fragte Tarling.

Er fragte es ganz gleichgültig, denn seine Gedanken waren noch immer mit dieser Entdeckung beschäftigt, die der ganzen Sache ein anderes Ansehen gab und für ihn recht unangenehm war. Thornton Lyne war mit seiner Pistole ermordet worden!

»Jawohl, die zweite Überraschung«, bestätigte Whiteside.

Mit Gewalt riß sich Tarling von seinen Grübeleien los.

»Können Sie sich hierauf noch besinnen?« fragte Whiteside. Er öffnete einen Geldschrank und nahm ein großes Kuvert heraus, aus dem er ein Telegramm hervorzog.

»Ja, das ist das Telegramm, in dem Odette Rider Lyne gebeten haben soll, in ihre Wohnung zu kommen. Es wurde unter den Papieren des Toten gefunden, als man das Haus durchsuchte.«

»Um es ganz genau zu sagen«, verbesserte Whiteside, »es wurde von Lynes Hausmeister, einem gewissen Cole, gefunden. Der Mann scheint ganz ehrlich zu sein, und es kann nicht der mindeste Verdacht auf ihn fallen. Ich hatte ihn heute morgen hierherbestellt, um ihn noch genauer auszufragen, ob er etwas Näheres darüber wüßte, wo Lyne an dem Abend hingegangen sein könnte. Er wartet im Nebenraum. Ich werde ihn rufen lassen.«

Er klingelte und gab dem uniformierten Polizisten, der hereinkam, einen Auftrag.

Gleich darauf wurde die Tür geöffnet, und der Beamte führte einen gutaussehenden Mann in mittlerem Alter herein, dem man seinen Beruf schon von weitem ansah.

»Berichten Sie Mr. Tarling auch, was Sie mir erzählt haben«, sagte Whiteside.

»Meinen Sie das Telegramm?« fragte Cole. »Ja, ich fürchte, ich habe einen Fehler gemacht, aber ich war durch die schrecklichen Ereignisse so verwirrt und hatte dadurch ein wenig den Kopf verloren.«

»Was ist denn mit dem Telegramm?« fragte Tarling.

»Ich brachte dieses Telegramm einen Tag nach dem Mord zu Mr. Whiteside. Aber ich habe dabei eine falsche Aussage gemacht. Das ist mir früher nie passiert, aber ich sage Ihnen, die polizeilichen Verhöre haben mich verwirrt.«

»Worauf bezog sich denn Ihre falsche Angabe?« fragte Tarling schnell.

»Sehen Sie, Sir«, sagte der Hausmeister und drehte nervös seinen Hut in den Händen, »ich habe damals ausgesagt, daß Mr. Lyne es geöffnet hätte. Aber in Wirklichkeit wurde es erst eine Viertelstunde nach der Abfahrt von Mr. Lyne abgegeben. Ich habe es dann nämlich selbst geöffnet, als ich von dem Mord hörte. Ich dachte aber, ich würde in Unannehmlichkeiten kommen, weil ich mich um Sachen kümmerte, die mich nichts angingen, und so habe ich Mr. Whiteside erzählt, daß Mr. Lyne es selbst aufgemacht habe.«

»Also hat er das Telegramm gar nicht mehr erhalten?« fragte Tarling.

»Nein, Sir.«

Die beiden Detektive sahen sich erstaunt an.

»Was halten Sie davon, Whiteside?«

»Ich wäre glücklich, wenn ich das erklären könnte. Das Telegramm war doch der schwerste Beweis gegen Miss Odette Rider. Diese neue Entdeckung entlastet sie sehr.«

»Aber auf der anderen Seite haben wir jetzt keine Erklärung mehr, warum Lyne an dem Abend in die Wohnung von Miss Rider ging. Sind Sie auch sicher, Cole, daß Mr. Lyne das Telegramm nicht erhalten hat?«

»Durchaus, Sir«, entgegnete Cole. »Ich habe es selbst in Empfang genommen. Als Mr. Lyne fortgefahren war, ging ich zur Haustür, um ein wenig frische Luft zu schöpfen, und stand gerade auf der Treppe, als der Bote es brachte. Wenn Sie genau auf dem Formular nachsehen, werden Sie finden, daß es um neun Uhr zwanzig aufgenommen wurde. Zu dieser Zeit lief es in unserem Postamt ein. Die Postanstalt liegt ungefähr zwei Meilen von uns entfernt, und so war es doch ganz ausgeschlossen, daß es noch in unserer Wohnung ankommen konnte, solange Mr. Lyne zu Hause war. Ich bin auch sehr verwundert, daß Sie diese Tatsache bisher übersehen haben.«

»Da haben Sie recht«, gab Tarling lächelnd zu. »Ich danke Ihnen, Cole. Ihre Aussagen genügen vollkommen.«

Als der Mann gegangen war, setzte er sich Whiteside gegenüber und steckte die Hände in die Taschen.

»Ich kenne mich jetzt überhaupt nicht mehr aus«, sagte er dann. »Ich werde einmal die Situation skizzieren, Whiteside. Der Fall wird jetzt so kompliziert, daß ich schon die einfachsten Dinge vergesse. Am Abend des 14. wurde Thornton Lyne von einer oder mehreren bis jetzt unbekannten Personen ermordet, wahrscheinlich in der Wohnung von Odette Rider, seiner früheren Kassiererin. Eine große Blutlache wurde auf dem Teppich gefunden, die Pistole wurde in der Wohnung entdeckt, auch das Geschoß. Niemand hat gesehen, wie Mr. Lyne in das Haus kam oder wie er es wieder verließ. Am nächsten Morgen wurde er im Hydepark ohne Rock und Weste aufgefunden. Das seidene Nachthemd einer Dame war um seine Brust geschlungen, und zwei Taschentücher von Odette Rider lagen auf der Wunde, auf seiner Brust fand man einen Strauß gelber Narzissen, und in seinem Wagen lagen Rock, Weste und Stiefel. Und dieser Wagen stand etwa hundert Meter von dem Fundort der Leiche entfernt. Habe ich alles richtig gesagt?«

Whiteside nickte. »Sie haben alles sehr gut behalten.«

»Bei der Untersuchung des Schlafzimmers, in dem das Verbrechen begangen wurde, wird ein blutiger Daumenabdruck auf der weißen Kommodenschublade gefunden. Ein kleiner Koffer liegt halb gepackt auf dem Bett. Es wird festgestellt, daß er Odette Rider gehört. Später findet sich dann auch die Pistole in dem Nähkorb der jungen Dame, verborgen unter allerhand Stoffen. Die Pistole wird als mein Eigentum erkannt. Zuerst häufen sich die Verdachtsgründe derart, daß man annehmen muß, Miss Rider sei die Mörderin. Die Beschuldigung läßt sich aber nicht aufrechterhalten, denn erstens lag sie bewußtlos in einem Hospital in Ashford, als der Mord begangen wurde, ferner wurde ein Telegramm von Lynes Hausmeister gefunden, das angeblich von ihr aufgegeben sein soll und in dem sie Lyne aufforderte, in ihre Wohnung zu kommen. Dieses Telegramm wurde aber dem Ermordeten nicht persönlich überreicht.«

Tarling erhob sich.

»Kommen Sie mit, wir wollen zu Cresswell gehen. Diese Sache macht mich noch vollständig verrückt.«

Der hohe Beamte hörte sich die Geschichte, die ihm die beiden vortrugen, ruhig an. Man merkte nicht im mindesten, daß er irgendwie erstaunt war.

»Es hat fast den Anschein, als ob dieser Mord in der Kriminalgeschichte noch berühmt werden wird. Natürlich kann man gegen Miss Rider nicht weiter vorgehen, und es war sehr klug von Ihnen, daß Sie die Verhaftung nicht vornahmen. Trotzdem muß sie aber unter Beobachtung bleiben, da sie offensichtlich den Mörder kennt oder ihn zu kennen glaubt. Sie muß Tag und Nacht bewacht werden – früher oder später werden wir dann den Mann herausfinden, den sie im Verdacht hat.

Es ist besser, daß Whiteside sich das nächstemal mit ihr unterhält«, wandte er sich an Tarling. »Vielleicht kann er mehr aus ihr herausholen. Ich glaube zwar nicht, daß es großen Zweck hat, sie ins Polizeipräsidium zu bringen. Nebenbei, Tarling, alle Rechnungsbücher des Geschäftshauses Lyne sind der bekannten Firma Dashwood & Solomon in St. Mary Axe übergeben worden, damit sie dort geprüft werden. Wenn Sie den Verdacht haben, daß Angestellte die Firma benachteiligt haben und daß diese Diebstähle mit dem Mord etwas zu tun haben sollten, wird Ihnen das Resultat der Untersuchung jedenfalls nützlich sein.«

Tarling nickte.

»Wie lange wird die Prüfung dauern?« fragte er.

»Die Bücherrevisoren haben eine Woche dafür angesetzt. Die Bücher sind heute morgen zu der Firma hingebracht worden. Das erinnert mich übrigens an Ihren Freund, Mr. Milburgh. Er hat der Polizei bereitwilligst alle Auskünfte gegeben, so daß sie sich ein klares Bild von der finanziellen Lage des Geschäfts machen kann.«

Cresswell lehnte sich in seinen Sessel zurück und sah Tarling an.

»Es war also Ihre Waffe, mit der der Mord begangen wurde?« sagte er mit einem kleinen Lächeln. »Das scheint für Sie recht unangenehm zu sein.«

»Ich weiß auch nicht, was ich daraus machen soll«, erwiderte Tarling lachend. »Ich gehe jetzt heim und stelle sofort Nachforschungen an, wie meine Pistole dorthinkommen kann. Ich kann mich noch genau darauf besinnen, daß ich sie vor vierzehn Tagen herausnahm und zu einem Waffenschmied schickte, der sie ölen sollte.«

»Wo verwahren Sie gewöhnlich die Pistole?«

»In einer Kommode bei all den anderen Andenken an Schanghai. Niemand außer Ling Chu hat Zutritt zu meinem Zimmer, und der Chinese ist immer in der Wohnung, wenn ich ausgehe.«

»Sprechen Sie von Ihrem chinesischen Diener?«

»Er ist nicht gerade mein Diener«, sagte Tarling lächelnd. »Er ist einer der besten eingeborenen Detektive und hat schon viele Verbrecher gefangen und überführt. Er ist absolut zuverlässig, und ich kann ihm unter allen Umständen trauen.«

»Mr. Lyne ist also mit Ihrer Pistole ermordet worden?« fragte Cresswell wieder. Es trat eine kleine Pause ein.

»Vermutlich fällt Lynes ganzes Vermögen an die Krone«, fuhr Cresswell fort. »Soviel ich weiß, hinterläßt er keine Verwandten oder Erben.«

»Das stimmt nicht«, sagte Tarling ruhig.

Cresswell sah ihn erstaunt an.

»Hat er doch einen Erben?«

»Er hat einen Vetter«, entgegnete Tarling lächelnd, »der leider nahe genug mit ihm verwandt ist, um sich als Erbe der Lyneschen Millionen legitimieren zu können.«

»Warum leider?« fragte Cresswell.

»Weil ich dieser Erbe bin«, antwortete Tarling.


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