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24.

Er war sprachlos. Endlich raffte er sich zusammen. »Sie?« fragte er verwundert.

Odette war bleich und wandte kein Auge von ihm.

»Ja, ich bin es«, sagte sie leise.

»Wie kommen Sie hierher?« Er ging auf sie zu, streckte die Hand aus, und sie übergab ihm die Tasche ohne ein Wort.

»Nehmen Sie bitte Platz«, sagte er freundlich.

Er fürchtete, daß sie ohnmächtig werden könnte.

»Ich hoffe, daß ich Sie nicht verletzt habe. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung –«

»O nein, Sie haben mich nicht verletzt«, sagte sie müde, »nicht in dem Sinn, wie Sie es meinen.«

Sie zog einen Stuhl an den Tisch und legte den Kopf in die Hände. Er stand neben ihr, verlegen und erschrocken über diese neue unerwartete Entwicklung.

»Dann waren Sie also der Besucher auf dem Rad?« sagte er nach einem langen Schweigen. »Das hatte ich nicht vermutet.«

Plötzlich kam ihm der Gedanke, daß Odette Rider doch nichts Verbotenes begangen hatte, wenn sie zu dem Haus ihrer Mutter radelte oder wenn sie eine Ledertasche nahm, die wahrscheinlich ihr Eigentum war. Wenn überhaupt jemand ein Unrecht begangen hatte, so war er es selbst, denn er hatte etwas an sich genommen und zurückbehalten, worauf er nicht das geringste Recht besaß. Sie schaute bei seinen Worten auf.

»Ich? Auf einem Rad? Nein, das war ich nicht.«

»Wie, das waren Sie nicht?«

»Ich war wohl dort – ich sah, wie Sie Ihre elektrische Lampe andrehten und war ganz in Ihrer Nähe, als Sie die Ledertasche aufhoben«, sagte sie tonlos, »aber ich saß nicht auf dem Rad.«

»Wer war es denn?« fragte er; sie schüttelte den Kopf.

»Geben Sie mir bitte die Tasche zurück!«

Sie streckte ihre Hand aus, aber er zögerte.

Nach allem hatte er kein Recht oder irgendeinen Anspruch darauf. Er fand einen Ausweg, indem er die Tasche auf den Tisch legte. Sie machte keinen Versuch, sie an sich zu nehmen.

»Odette«, sagte er freundlich und legte seine Hand auf ihre Schulter, »warum, vertrauen Sie sich mir nicht an?«

»Was soll ich Ihnen denn anvertrauen?« fragte sie.

»Sagen Sie mir doch alles, was Sie über den ganzen Fall wissen, ich möchte Ihnen so gern helfen, und ich kann es auch.«

Sie schaute zu ihm auf.

»Warum wollen Sie mir helfen?«

»Weil ich Sie liebe«, sagte er leise.

Es war ihm, als ob er diese Worte nicht selbst gesprochen hätte, sondern als ob sie aus weiter Ferne kämen. Er hatte ihr nicht sagen wollen, daß er sie liebte. Er war sich dieser Tatsache auch nie klar bewußt geworden, und doch sprach er die Wahrheit.

Der Eindruck seiner Worte auf Odette schien ihm ungewöhnlich. Sie schrak nicht zurück, sie sah ihn auch nicht erstaunt an. Sie senkte nur den Blick auf die Tischplatte und sagte: »Ach!«

Die unheimliche Ruhe, mit der sie die Tatsache aufnahm, die Tarling fast den Atem raubte, war für ihn die zweite große Erschütterung in dieser Nacht. Sie mußte alles längst gewußt haben. Er kniete an ihrer Seite nieder und legte den Arm um sie, aber er tat es nicht aus vorsätzlichem Willen, er wurde von einer stärkeren Kraft dazu gezwungen.

»Odette, liebe Odette«, sagte er sanft, »bitte, vertraue mir doch alles an.«

Sie hatte den Kopf noch gesenkt und sprach so leise, daß er sie kaum verstehen konnte.

»Was soll ich Ihnen sagen?«

»Was weißt du darüber? Siehst du denn nicht, daß sich immer mehr Verdachtsgründe gegen dich häufen?«

»Worüber soll ich denn Auskunft geben?« fragte sie wieder.

»Soll ich den Mord von Thornton Lyne aufklären? Ich weiß nichts davon.«

Er streichelte sie sanft, aber sie saß starr und steif aufgerichtet, und ihre Haltung flößte ihm Furcht ein. Er ließ seine Hand sinken und erhob sich. Sein Gesicht war bleich und traurig. Langsam ging er zur Tür und schloß sie auf.

»Ich werde Sie jetzt nichts mehr fragen«, sagte er mit unheimlicher Ruhe. »Sie wissen selbst am besten, warum Sie in dieser Nacht in mein Zimmer eindrangen – ich vermute, daß Sie mir folgten und hier im Hotel auch ein Zimmer nahmen. Ich hörte kurz nach meiner Ankunft hier jemand die Treppe heraufkommen.«

Sie nickte.

»Brauchen Sie das?« fragte sie und zeigte auf die Ledertasche, die noch auf dem Tisch lag.

»Nehmen Sie es mit sich.«

Sie stand unsicher auf und wankte. Im nächsten Augenblick stand er an ihrer Seite und fing sie auf. Sie wehrte sich nicht, er fühlte sogar, daß sie sich leicht an ihn schmiegte. Sie hob ihr blasses Gesicht, und er beugte sich nieder und küßte sie.

»Odette! Odette!« flüsterte er. »Fühlst du denn nicht, daß ich dich über alles liebe, daß ich mein Leben hingeben würde, um dich vor Unheil zu bewahren? Willst du mir wirklich nichts sagen?«

»Nein – nein«, stöhnte sie. »Bitte, frage mich nichts. Ich fürchte mich! Oh, ich fürchte mich so sehr!«

Er drückte sie an sich, legte seine Wange an die ihre und streichelte ihr Haar.

»Aber du brauchst dich doch nicht zu fürchten«, sagte er eindringlich. »Und wenn du alle Höllenstrafen verdient hättest, und wenn du schweigst, um jemand in Schutz zu nehmen, so würde ich ihn auch schützen, weil ich dich grenzenlos liebe, Odette!«

»Nein, nein«, rief sie und stieß ihn zurück, indem sie ihre Hände gegen seine Brust preßte. »Frage mich nicht –«

»Fragen Sie mich!«

Tarling fuhr herum. Ein Mann stand in der offenen Tür.

»Milburgh!« sagte Tarling wütend.

»Jawohl, Milburgh!« erwiderte der andere höhnisch. »Es tut mir leid, daß ich diese schöne Szene unterbrechen muß, aber die Umstände sind äußerst dringlich, und ich muß schon gegen die Regeln der Gesellschaft verstoßen, Mr. Tarling. Ist es Ihnen vielleicht peinlich?«

Tarling ließ Odette los und trat dem hämisch lächelnden Milburgh gegenüber. Mit einem Blick überschaute er die Gestalt und sah, daß seine Beinkleider mit Spangen zusammengehalten und mit Schmutz bedeckt waren. Es war ihm nun klar, wer der Radfahrer gewesen war.

»Sie radelten also von Mrs. Riders Haus fort?«

»Jawohl, ich radle sehr häufig.«

»Was wollen Sie hier?«

»Ich möchte Sie nur daran erinnern, daß Sie Ihr Versprechen halten«, erwiderte Milburgh sanft.

Tarling starrte ihn an.

»Mein Versprechen? Welches Versprechen?«

»Nicht nur den Täter zu beschützen, sondern auch die, die sich in eine böse Lage gebracht haben, weil sie den Täter beschützen wollten.«

Tarling sprang auf. »Wollen Sie damit sagen –«, begann er heiser, »wollen Sie etwa eine Anklage erheben gegen –«

»Ich klage niemand an«, erwiderte Milburgh mit einer höflichen Handbewegung. »Ich möchte Ihnen nur erklären, daß wir beide, Miss Rider und ich, in einer sehr ernsten Lage sind und daß es in Ihrer Hand liegt, uns sicher entkommen zu lassen, so daß wir in ein Land gehen können, das keine Auslieferungsverträge mit England abgeschlossen hat.«

Tarling ging einen Schritt auf ihn zu.

»Wollen Sie Miss Rider der Mittäterschaft an diesem Mord bezichtigen?« fragte er scharf.

Milburgh lächelte, aber man sah ihm an, daß er sich nicht wohl fühlte.

»Ich sagte schon, daß ich niemand anklagen will. Was den Mord anbelangt« – er zuckte die Schultern –, »Sie werden die Zusammenhänge besser verstehen, wenn Sie die Aktenstücke lesen, die dort in der Ledertasche verschlossen sind. Ich war gerade dabei, sie an einen sicheren Ort zu bringen.«

Tarling nahm die Ledertasche vom Tisch und schaute sie an.

»Ich werde morgen wissen, was darin enthalten ist. Schlösser bieten mir wenig Schwierigkeiten –«

»Sie können den Inhalt jetzt gleich lesen«, sagte Milburgh ruhig und nahm eine Kette aus seiner Tasche, an deren Ende ein kleiner Schlüsselbund hing. »Hier ist der Schlüssel, schließen Sie bitte auf.«

Tarling tat es und öffnete die Mappe. Plötzlich riß ihm jemand die Mappe aus der Hand, und als er sich umwandte, sah er in das erregte Gesicht Odettes und las Schrecken in ihren Blicken.

»Nein, das dürfen Sie nicht lesen!« rief sie außer sich.

Tarling trat einen Schritt zurück. Er sah das spöttische Lächeln auf Milburghs Gesicht und hätte ihn am liebsten niedergeschlagen.

»Miss Rider wünscht nicht, daß ich den Inhalt zur Kenntnis nehme.«

»Sie hat auch allen Grund dazu«, erwiderte Milburgh hämisch.

»Bitte, nehmen Sie es!« Odettes Stimme war plötzlich merkwürdig klar und fest. Sie reichte dem Detektiv die Papiere, die sie eben aus der Mappe genommen hatte.

»Ich hatte wohl einen Grund«, sagte sie leise. »Aber es ist nicht der, den Sie vermuten.«

Milburgh war zu weit gegangen.

Tarling sah die Enttäuschung in seinem Gesicht. Dann schlug er das Aktenstück auf und begann zu lesen. Aber schon die erste Zeile erschütterte ihn so, daß er kaum noch atmen konnte.

Das Geständnis der Odette Rider

»Großer Gott«, flüsterte er, als er weiterlas. Das Schriftstück war kurz und enthielt nur wenige Zeilen in der festen, schönen Handschrift des Mädchens.

 

Ich, Odette Rider, bekenne hierdurch, daß ich seit drei Jahren die Firma Lyne Ltd. beraubt und während dieser Zeit die Summe von fünfundzwanzigtausend Pfund veruntreut habe.

 

Tarling ließ das Schriftstück auf den Tisch sinken und stützte Odette, als sie taumelte und ohnmächtig wurde.


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