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12.

Während die Krankenschwester sich um Odette bemühte, suchte Tarling den Chefarzt des Hospitals auf.

»Ich glaube nicht, daß der Zustand von Miss Stevens irgendwie bedenklich ist. Ich hätte sie schon gestern entlassen können und habe sie nur auf ihre Bitte hin hiergelassen. Stimmt es übrigens, daß sie in Verbindung mit dem ›Narzissenmord‹ gesucht wird?«

»Ja, wir brauchen sie als Zeugin«, erwiderte Tarling ausweichend. Es war ihm aber klar, daß seine Antwort nicht recht glaubwürdig klang, denn die Tatsache, daß ein Haftbefehl gegen Odette Rider erlassen worden war, mußte allgemein bekannt sein. Ihre Personenbeschreibung und alle näheren Umstände waren den Direktionen der Hospitäler und der öffentlichen Anstalten ohne Verzug zugesandt worden. Die nächsten Worte des Arztes bestätigten auch seine Annahme.

»Als Zeugin?« fragte er trocken. »Nun, ich möchte nicht in Ihre und noch weniger in die Geheimnisse von Scotland Yard eindringen, aber vielleicht dient Ihnen, wenn ich erkläre, daß sie imstande ist, das Krankenhaus sofort zu verlassen.«

Es klopfte an die Tür, und die Oberin trat in das Büro des Arztes ein.

»Miss Stevens möchte Sie sprechen«, sagte sie zu Tarling. Der Detektiv nahm seinen Hut und ging in das kleine Krankenzimmer zurück.

Sie war aufgestanden und saß in ihrem Morgenrock in einem Armsessel. Mit einer Handbewegung lud sie Tarling ein, an ihrer Seite Platz zu nehmen. Aber erst als die Krankenschwester gegangen war, begann sie zu sprechen.

»Es war unverzeihlich von mir, schwach zu werden, Mr. Tarling. Aber die Nachricht war so schrecklich und kam mir so unerwartet. Würden Sie nicht so gut sein, mir alle näheren Umstände mitzuteilen? Ich habe seit meiner Einlieferung ins Krankenhaus keine Zeitung mehr gelesen. Ich hörte, wie eine der Krankenpflegerinnen von dem ›Narzissenmord‹ sprach – ist das etwa –?«

Sie zögerte, und Tarling nickte. Es war ihm jetzt viel leichter ums Herz, und er war beinahe froh. Er zweifelte nicht im mindesten daran, daß sie unschuldig war. Das ganze Leben erschien ihm wieder freundlicher.

»Thornton Lyne wurde in der Nacht vom 14. zum 15. ermordet. Er wurde zuletzt lebend von seinem Diener gesehen, etwa um halb zehn abends. In der Frühe des nächsten Morgens wurde er tot im Hydepark aufgefunden. Er war erschossen worden, und man hatte den Versuch gemacht, das Blut der Wunde zu stillen, indem man ein seidenes Damennachthemd um seine Brust band. Ein Strauß gelber Narzissen lag auf der Brust des Toten.»

»Gelbe Narzissen?« wiederholte sie erstaunt. »Aber wie –?«

»Sein Wagen wurde etwa hundert Meter vom Fundort entfernt entdeckt«, fuhr Tarling fort. »Es ist ganz klar, daß er an einer anderen Stelle ermordet wurde, daß man ihn später in den Park brachte, und zwar in seinem eigenen Wagen. Er hatte keinen Rock und keine Weste an, aber weiche Filzschuhe an den Füßen.«

»Ich kann das alles nicht verstehen«, sagte sie verwirrt. »Ich kann die Zusammenhänge nicht erkennen. Wer hat –« Plötzlich hielt sie inne und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, als ob ihr etwas einfiele.

»Oh, das ist entsetzlich – ganz entsetzlich! Daran hätte ich selbst im Traum nicht gedacht! Es ist einfach furchtbar!«

Tarling legte freundlich seine Hand auf ihre Schulter.

»Miss Rider, Sie haben jemand im Verdacht, der das Verbrechen begangen haben muß. Würden Sie mir nicht den Namen sagen?«

Sie schüttelte den Kopf, ohne aufzusehen.

»Ich darf es nicht.«

»Aber sehen Sie denn nicht, daß aller Verdacht auf Sie fällt? Auf Lynes Schreibtisch wurde ein Telegramm gefunden, in dem er gebeten wurde, an dem verhängnisvollen Abend in Ihre Wohnung zu kommen.«

Sie schaute schnell auf. »Wie? Ein Telegramm von mir? – Ich habe ihm kein Telegramm geschickt!«

»Gott sei Dank!«

»Ich kann immer noch nicht verstehen. Wurde tatsächlich ein Telegramm an Mr. Lyne geschickt, das ihn aufforderte, in meine Wohnung zu kommen? Ist er denn dort gewesen?«

»Allem Anschein nach ja«, sagte er ernst. »Denn der Mord wurde in Ihrer Wohnung begangen.«

»Mein Gott!« stieß sie hervor. »Das wollen Sie doch nicht etwa behaupten? Aber nein, das ist doch ganz unmöglich!«

Er teilte ihr nun alle Entdeckungen mit, die er gemacht hatte. Er wußte, daß sein Verhalten vom Standpunkt der Polizei aus vollkommen verfehlt und unrichtig war. Er sagte ihr alles und gab ihr dadurch die Möglichkeit, sich zu verteidigen und Ausflüchte zu ersinnen. Er erzählte ihr von dem großen Blutflecken auf dem Teppich, er beschrieb ihr das Nachthemd, das um Thornton Lynes Körper geschlungen war.

»Es gehört mir«, sagte sie einfach und ohne im mindesten zu zögern. »Aber, bitte, erzählen Sie mir noch mehr, Mr. Tarling.«

Er berichtete ihr von dem blutigen Daumenabdruck auf der Schublade der Kommode.

»Auf Ihrem Bett«, fuhr er fort, »fand ich Ihre kleine Reisetasche halb gepackt.«

Sie schwankte wieder und streckte die Hände abwehrend aus.

»O wie schlecht von ihm! Wie gemein! Das konnte er tun!«

»Wer?« fragte Tarling schnell. Er faßte sie am Arm. »Wer hat das getan? Sie müssen es mir sagen – Ihr Leben hängt davon ab! Verstehen Sie denn nicht, Odette, daß ich Ihnen helfen will? Sie haben doch eine bestimmte Person im Verdacht, und Sie müssen mir den Namen nennen!«

»Ich kann es Ihnen nicht sagen«, erwiderte sie mit schwacher Stimme, »und ich kann auch weiter nichts sagen. Ich wußte nichts von dem Mord, bis Sie mir davon erzählten. Ich hatte nicht die geringste Ahnung davon ... Ich haßte Thornton Lyne, ja, ich haßte ihn, aber ich hätte ihm niemals das geringste zuleide getan ... Es ist schrecklich!«

Plötzlich wurde sie ruhiger.

»Ich muß sofort nach London zurück – würden Sie mich mitnehmen?«

Sie sah seine Bestürzung und verstand plötzlich den Zusammenhang.

»Sie haben – Sie haben ja den Haftbefehl!«

Er nickte stumm.

»Weil ich Lyne ermordet haben soll?«

Er nickte wieder.

Sie sah ihn eine Weile schweigend an.

»Ich bin in einer halben Stunde fertig.«

Tarling verließ ohne ein weiteres Wort das Krankenzimmer.

Er ging in das Büro des Arztes zurück, der schon ungeduldig auf ihn wartete.

»Das ist doch alles Unsinn, daß die junge Dame als Zeugin vernommen werden soll. Ich zweifelte gleich daran und habe daraufhin noch einmal die Mitteilung von Scotland Yard durchgelesen, die ich schon vorgestern erhielt. Nach der Beschreibung ist es ganz klar, daß die junge Dame Odette Rider ist. Man will sie verhaften, weil sie des Mordes verdächtig ist.«

Tarling ließ sich schwer in einen Sessel fallen.

»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich rauche?«

»Nein, durchaus nicht«, sagte der Doktor liebenswürdig. »Vermutlich nehmen Sie die Dame gleich mit?«

Tarling nickte.

»Ich kann mir kaum denken, daß so ein Mädchen einen solchen Mord begangen hat«, meinte Dr. Saunders. »Sie verfügt nicht über die notwendigen Kräfte, um all das auszuführen, was der Mörder tat. Ich habe alle Einzelheiten im ›Morning Globe‹ gelesen. Thornton Lyne ist doch hundert Meter weit von seinem Wagen fortgeschleppt worden. Aber dieses junge Mädchen könnte ja kaum ein schweres Kind heben.«

Tarling nickte zustimmend.

»Außerdem hat sie auch nicht das Aussehen einer Mörderin. Ich will nicht sagen, daß sie die Tat nicht ausführen konnte, weil sie so schön ist. Aber ich habe schon viele Menschen gesehen und kenne mich ein wenig aus. Ihr Typ ist von einer inneren, vergeistigten Schönheit. Ich halte es für ausgeschlossen, daß sie einen Mord begehen könnte.«

»Ich bin ganz Ihrer Ansicht«, entgegnete Tarling. »Ich bin fest davon überzeugt, daß sie unschuldig ist, obwohl alle Anzeichen gegen sie sprechen.«

Das Telefon läutete in diesem Augenblick. Der Doktor ging an den Apparat und sprach einige Worte.

»Ein Gespräch von außerhalb.« Er reichte dem Detektiv den Hörer über den Tisch. »Für Sie, ich glaube, man spricht von Scotland Yard aus.«

»Hier ist Whiteside«, hörte Tarling eine Stimme. »Sind Sie dort, Mr. Tarling? Wir haben den Revolver gefunden.«

»Wo?« fragte Tarling schnell.

»In der Wohnung von Miss Rider.«

Entsetzen zeigte sich in Tarlings Gesicht, aber schließlich war diese Entdeckung ja zu erwarten. Für ihn unterlag es keinem Zweifel, daß Thornton Lyne in Odettes Wohnung ermordet worden war, und wenn das stimmte, war es nur natürlich, daß man auch die Waffe am Tatort fand.

»Wo haben Sie denn die Pistole gefunden?«

»Sie lag in dem Nähkorb, ganz unten auf dem Boden, und war mit Wollknäueln, Flicken und Bandstücken bedeckt.«

»Was war es denn für ein Revolver?« fragte Tarling.

»Eine Browning-Pistole. Es waren noch sechs Patronen im Rahmen und eine im Lauf. Offensichtlich war sie abgefeuert worden, denn der Lauf war innen ganz mit Pulverschleim überzogen. Wir haben auch das Geschoß im Kamin gefunden. Haben Sie Miss Stevens dort getroffen?«

»Jawohl«, sagte Tarling ruhig. »Miss Stevens ist identisch mit Odette Rider.«

Er hörte den andern am Telefon pfeifen.

»Haben Sie sie verhaftet?«

»Noch nicht«, entgegnete Tarling. »Kommen Sie, bitte, und holen Sie mich vom Zug ab. Ich werde in einer halben Stunde von hier abfahren.«

Er hängte ein und wandte sich zu dem Arzt.

»Ich vermute, man hat eine Pistole gefunden?« fragte der Doktor interessiert.

»Ja.«

»Hm«, sagte der Doktor, und schaute nachdenklich auf Tarling. »Das ist eine böse Sache. Was war denn eigentlich dieser Thornton Lyne für ein Mensch?«

Tarling zuckte die Schultern.

»Er war gerade nicht der Beste. Aber selbst der schlechteste Mensch hat ein Anrecht auf den Schutz des Gesetzes, und der Mörder wird unter allen Umständen bestraft werden –«

»Sie meinen die Mörderin?« fragte der Doktor lächelnd.

»Nein, der Mörder«, sagte Tarling kurz. »Die Strafe wird nicht davon beeinflußt, ob der Tote einen guten oder einen schlechten Charakter hatte.«

Dr. Saunders blies dichte Rauchwolken von sich.

»Es ist ganz verfehlt, ein Mädchen wie Miss Rider mit einem solchen Mord zu belasten.«

Es klopfte an die Tür, und die Oberin trat herein.

»Miss Stevens ist fertig«, sagte sie.

Tarling erhob sich. Auch Dr. Saunders stand auf, trat an sein Pult, nahm das große Krankenbuch herunter, legte es auf den Tisch, schlug es auf und griff zur Feder.

»Ich muß nur noch kurz die Entlassung eintragen«, sagte er und blätterte verschiedene Seiten um. »Hier. Miss Stevens, leichte Gehirnerschütterung und Quetschung.«

Plötzlich schaute er den Detektiv an.

»Wann wurde der Mord begangen?«

»Am Abend des 14.«

»Am 14.«, wiederholte der Doktor in Gedanken. »Um wieviel Uhr?«

»Der Zeitpunkt liegt nicht ganz fest«, entgegnete Tarling ungeduldig. Er hätte am liebsten die Unterhaltung abgebrochen, der geschwätzige Arzt fiel ihm auf die Nerven. »Wahrscheinlich kurz nach elf.«

»War es bestimmt nach elf? Wäre es nicht möglich, daß die Tat früher begangen wurde – wann hat man denn Mr. Lyne das letzte Mal gesehen?«

»Um halb zehn«, antwortete Tarling etwas ironisch. »Wollen Sie denn auch Detektiv werden, Doktor?«

»Nein, das nicht«, sagte Saunders lächelnd, »aber ich freue mich, daß ich die Unschuld des Mädchens beweisen kann.«

»Ihre Unschuld beweisen? Wie meinen Sie das?«

»Der Mord konnte also nicht vor elf Uhr geschehen. Der Ermordete wurde das letzte Mal um halb zehn gesehen.«

»Nun, und?«

»Um neun Uhr hat der Zug, mit dem Miss Rider von Charing Cross abfuhr, die Station verlassen, und um halb zehn wurde sie mit einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus eingeliefert.«

Einen Augenblick lang war Tarling ganz ruhig. Dann ging er auf Doktor Saunders zu, ergriff die Hand des erstaunten Mannes und drückte sie kräftig.

»Das ist die beste Nachricht, die ich je in meinem Leben hörte«, sagte er heiser.


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