Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

22.

Von dem stattlichen Gebäude der Firma Dashwood & Solomon blieb nur eine verräucherte Frontmauer übrig. Tarling erkundigte sich bei dem Offizier der Feuerwehr, der die Löscharbeiten leitete.

»Es wird Tage dauern, bevor wir dort eindringen können, und ich fürchte, daß nichts mehr zu holen ist. Das ganze Gebäude ist ausgebrannt. Sie sehen ja selbst, daß der Dachstuhl schon eingestürzt ist. Ich glaube nicht, daß man noch irgendwelche Papiere oder Aktenstücke finden wird, es sei denn, daß sie in einem feuersicheren Schrank eingeschlossen waren.«

Dicht neben Tarling stand Sir Felix Solomon und starrte in die Flammen. Er schien durch die Zerstörung seiner Büroräume nicht sehr betroffen zu sein.

»Unser Schaden ist durch die Versicherung gedeckt«, sagte er mit philosophischer Ruhe. »Es ist auch nichts Wichtiges verbrannt, natürlich mit Ausnahme der Akten und Geschäftsbücher der Firma Lyne.«

»Waren sie denn nicht in einem feuerfesten Gewölbe aufbewahrt?« fragte Tarling.

»Nein, sie waren nur diebessicher untergebracht. Merkwürdigerweise brach gerade in diesem Raum das Feuer aus. Und selbst wenn wir sie in einem feuerfesten Gelaß untergebracht hätten, hätte das auch nicht viel genützt, denn das Feuer brach zwischen den Akten wie von selbst aus. Diese erste Nachricht erhielten wir durch einen Angestellten, der in die Keller hinunterstieg und sah, daß zwischen den Eisengittern des Raumes 4 die Flammen herausschlugen.«

Tarling nickte.

»Ich brauche wohl nicht zu fragen, ob die Bücher, die Mr. Milburgh heute schickte, auch dort aufbewahrt wurden?«

Sir Felix sah ihn erstaunt an.

»Sie wurden natürlich zu den anderen Akten und Büchern der Firma gelegt. Sie waren ja noch bei mir im Büro, als das geschah. Aber warum fragen Sie danach?«

»Weil es meiner Meinung nach keine gewöhnlichen Bücher waren. Wenn ich mich nicht vollständig irre, enthielt das Paket drei große Kontobücher, die innen ausgehöhlt und deren äußere Hüllen zusammengeleimt waren. Innen befand sich Thermit und ein Uhrwerk, das es zu einer bestimmten Zeit durch eine Stichflamme in Brand setzte.«

Sir Felix sah ihn erstaunt an.

»Sie machen wohl einen Scherz!«

Aber Tarling schüttelte den Kopf.

»Nein, es ist mein voller Ernst.«

»Aber wer sollte denn so etwas Furchtbares tun? Einer meiner Angestellten wäre beinahe dabei umgekommen!«

»Der Mann, der dieses Verbrechen begangen hat, ist derselbe, der die Nachprüfung der Geschäftsbücher unter allen Umständen verhindern wollte.«

»Sie meinen doch nicht etwa –«

»Ich will im Augenblick keinen Namen nennen, und wenn ich aus Versehen den Mann, von dem ich spreche, zu deutlich gekennzeichnet habe, so hoffe ich, daß Sie meine Mitteilung als vertraulich ansehen«, erwiderte Tarling.

»Kein Wunder, daß Milburgh wegen der bevorstehenden Revision so zuversichtlich war«, sagte er bitter. »Der Teufel hat das Paket mit den Büchern dorthingeschleppt und hat den Zeitzünder auf die Minute eingestellt. Nun, heute abend können wir nichts mehr unternehmen – was Milburgh angeht.«

Er schaute auf seine Uhr.

»Ich gehe jetzt zu meiner Wohnung zurück und fahre später nach Hertford.«

Er hatte sich noch keinen festen Plan gemacht, was er in Hertford unternehmen wollte. Er hatte nur eine unklare Vorstellung, daß ihn seine dortigen Nachforschungen, wenn sie nur sorgfältig und mit Umsicht durchgeführt würden, der Aufklärung des Geheimnisses näherbringen würden. Diese hübsche Dame, die in solchem Luxus lebte und deren Gatten man so selten zu sehen bekam, konnte ihm vielleicht weitere Auskunft geben.

Es war schon dunkel, als er zu dem Hause von Mrs. Rider kam. Er hatte diesmal keinen Wagen genommen und ging den weiten Weg von der Station nach dem Hause zu Fuß, da er unter allen Umständen vermeiden wollte, daß man auf ihn aufmerksam wurde. Das Gebäude lag an der Hauptstraße, hinter einer hohen Mauer. Auf der anderen Seite bildete ein Gestüt die Grenze.

Man gelangte durch ein großes schmiedeeisernes Tor in den Garten. Bei seinem ersten Besuch hatte es offengestanden, und er war damals glatt hindurchgegangen und hatte ohne weiteres das Haupthaus erreicht. Heute war das Tor geschlossen.

Er leuchtete mit seiner Taschenlampe umher und fand eine elektrische Klingel, die anscheinend in der Zwischenzeit angelegt worden war. Er läutete nicht, sondern setzte seine Untersuchungen fort. Etwa fünf bis sechs Meter vom Tor entfernt lag ein kleines Häuschen, aus dem ein Lichtschimmer drang. Vermutlich das Gärtnerhaus, zu dem auch die Klingelleitung führte. Jetzt hörte er ein Pfeifen. Schnelle Fußtritte näherten sich, und er verbarg sich im Schatten. Jemand trat in das Tor, die Klingel läutete schwach, und eine Tür öffnete sich.

Es war der Zeitungsjunge, der mehrere Blätter durch die Eisenstäbe reichte und wieder fortging. Tarling wartete, bis die Türen des Pförtnerhauses wieder geschlossen wurden. Dann machte er einen Rundgang um das Grundstück in der Hoffnung, einen anderen Zugang zu finden. Auf der hinteren Seite fand er einen kleinen Eingang für die Dienerschaft, aber auch dieser war geschlossen. Als er mit seiner Taschenlampe umherleuchtete, sah er, daß auf der Mauer keine Glasscherben befestigt waren wie auf der Vorderseite. Kurz entschlossen sprang er in die Höhe, erfaßte den Rand der Mauer, zog sich empor und saß bald rittlings oben.

Er sprang auf der anderen Seite ins Dunkle und kam wohlbehalten unten an. Dann tastete er sich vorsichtig durch die Dunkelheit zu dem Gebäude. Es wäre ungemütlich für ihn gewesen, wenn Hunde das Haus bewacht hätten. Aber offensichtlich war das nicht der Fall, und er kam ungehindert vorwärts.

Weder in den oberen noch in den unteren Zimmern sah er Licht, bis er zur Rückfront kam. Hier lag eine Pfeilerhalle in der Mitte. Darüber schien sich ein Wintergarten zu befinden. Unter dem Vorbau bemerkte er eine Tür und ein vergittertes Fenster. Als er sich genauer umschaute, sah er einen schwachen Schein durch die Ritze des Oberbaues dringen. Er sah sich vergeblich nach einer Leiter um und versuchte es dann mit Klettern. Die Schwierigkeiten waren nicht größer als bei der Gartenmauer. Er kam auf eine Fensterbank, stemmte sich gegen einen der Pfeiler und konnte von hier aus eine eiserne Stange erreichen. Er faßte sie und schwang sich auf das Geländer des Wintergartens. Nach außen führten große Fenster, von denen eines offenstand. Er lehnte sich vorsichtig auf das Fensterbrett und lauschte.

Der Raum war leer. Der Lichtschimmer kam aus einem inneren Zimmer, das neben dem glasgedeckten Wintergarten lag. Schnell schlüpfte er durch das Fenster und verbarg sich im Schatten eines großen Oleanderbaumes. Die Luft in dem Raum war von Blumenduft und erdigem Geruch erfüllt. Als er umhertastete, fühlte er die Röhren der Wasserleitungen. Er sah mehrere Fenster in der inneren Wand, schlich leise hin und spähte durch den Vorhang des einen Fensters. Drinnen sah er Mrs. Rider. Sie saß an einem kleinen Schreibtisch, hielt einen Halter in der einen Hand und hatte das Kinn in die andere gestützt. Sie schrieb nicht, sondern sah nachdenklich auf die gegenüberliegende Wand, als ob sie sich irgend etwas überlegte.

Der Raum wurde durch eine größere Alabasterhängelampe erleuchtet, und Tarling konnte das Innere gut übersehen. Der Raum war einfach, aber sehr vornehm ausgestattet und hatte den Charakter eines Arbeitszimmers. Neben dem Schreibtisch war ein grüner Geldschrank halb in die Wand eingemauert. Einige Gemälde hingen an den Wänden, ein paar Stühle und eine Couch standen in dem Raum. Er hatte erwartet, Odette Rider bei ihrer Mutter zu sehen, und war nun enttäuscht, denn er hatte den Eindruck, daß außer Mrs. Rider überhaupt niemand im Hause war.

Tarling kniete vor dem Fenster und beobachtete sie ungefähr zehn Minuten lang. Plötzlich hörte er von draußen ein Geräusch, schlich vorsichtig zurück und schaute aus dem Fenster des Wintergartens hinaus. Er kam gerade noch rechtzeitig, um eine Gestalt zu sehen, die schnell den Weg heraufkam. Später bemerkte er, daß es ein Radfahrer war, aber das Rad hatte keine Lampe. Obgleich er sich sehr anstrengte, konnte er doch nicht unterscheiden, ob es ein Mann oder eine Frau war. Er hörte, wie das Rad gegen einen Pfeiler gelehnt wurde. Dann drehte sich ein Schlüssel, und eine Tür unten öffnete sich.

Mrs. Rider hatte offensichtlich das Geräusch nicht gehört, denn sie saß noch ebenso unbeweglich da und schaute vor sich hin. Aber plötzlich wandte sie sich um, und ihre Blicke gingen zur Tür. Tarling schaute auch angestrengt dorthin. Er konnte alles genau übersehen, er entdeckte sogar den elektrischen Schalter an der Wand. Langsam öffnete sich die Tür, und er bemerkte, daß Mrs. Riders Gesicht freudig aufleuchtete. Dann hörte er, wie jemand etwas in flüsterndem Ton fragte. Er konnte ihre Antwort verstehen:

»Nein, mein Liebling, niemand.«

Tarling wartete in atemloser Spannung. Plötzlich wurde das Licht in dem Raum ausgeschaltet. Es mußte aber jemand in den Raum eingetreten sein, denn Schritte näherten sich dem Fenster, und gleich darauf wurden die Jalousien an den Fenstern des inneren Raumes heruntergelassen. Kurze Zeit später ging das Licht wieder an, aber er konnte nun nichts mehr sehen und hören.

Wer mochte dieser geheimnisvolle Besucher sein? Es gab für Tarling nur eine Möglichkeit, das zu entdecken. Er mußte wieder nach unten klettern und dort aufpassen. Aber er wartete noch eine Weile und hörte, daß die Tür des Geldschrankes drinnen geschlossen wurde. Dann stieg er wieder durch das Fenster und kletterte hinunter. Das Rad lehnte an einem Pfeiler. Er konnte nichts sehen und wagte nicht, seine Lampe anzudrehen, aber seine feinfühligen Hände betasteten das Gestell. Er unterdrückte mit Mühe einen Ausruf der Überraschung – es war ein Damenrad! Er wartete noch einen Augenblick, dann versteckte er sich in einem Gebüsch, das der Tür gerade gegenüberlag. Er brauchte nicht lange zu warten, bis sie sich wieder öffnete. Jemand stieg auf das Rad. Im selben Augenblick sprang Tarling aus seinem Versteck hervor und drückte auf den Schalter seiner elektrischen Lampe, aber sie leuchtete nicht auf.

»Bleiben Sie stehen!« rief er und streckte die Hände aus.

Er verfehlte die Gestalt um ein paar Zentimeter, aber er sah, wie das Rad einen Augenblick schwankte und hörte einen schweren Gegenstand zu Boden fallen. In der nächsten Sekunde war der Radfahrer in der Dunkelheit verschwunden.

Nun betrachtete er seine Lampe. Eine Verfolgung ohne Laterne war unmöglich. Er verwünschte den Fabrikanten und ersetzte schnell die Batterie durch eine neue. Dann suchte er den Boden nach dem Gegenstand ab, den der Radfahrer hatte fallen lassen. Er glaubte einen Ausruf hinter sich zu hören und drehte sich schnell um. Aber er konnte im Umkreis seiner Lampe niemand entdecken. Als er sich wieder dem Weg zuwandte, sah er eine Ledertasche liegen und hob sie auf. Sie war sehr groß und schwer. Als er sie beim Schein der Laterne genauer untersuchen wollte, hörte er von oben eine Stimme.

»Wer ist dort unten?«

Es war Mrs. Rider. Tarling antwortete nicht, da er im Augenblick nicht gesehen werden wollte. Er drehte das Licht aus und verschwand in den Büschen. Kurz darauf erreichte er die Mauer wieder an der Einstiegsstelle.

Die Straße war leer und von dem Radfahrer nichts zu sehen. Es blieb ihm nur übrig, so schnell wie möglich zur Stadt zu fahren und den Inhalt der Ledertasche in aller Ruhe zu untersuchen. Sie war für ihre Größe außerordentlich schwer. Der Weg nach Hertford, den er wieder zu Fuß zurücklegen mußte, wurde ihm sehr lang, und die Uhren im Ort schlugen ein Viertel nach zehn, als er die Bahnstation erreichte.

»Nach London fährt kein Zug mehr«, sagte der Bahnbeamte. »Vor fünf Minuten ist der letzte abgefahren!«


 << zurück weiter >>