Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

31.

»Ich habe Sie bestimmt schon irgendwo gesehen?«

Der stattliche Geistliche mit der tadellos weißen Halskrause beugte sich liebenswürdig zu dem Mann hinab, der ihn fragte, und schüttelte dann mit einem freundlichen Lächeln den Kopf.

»Nein, mein lieber Freund, ich kann mich durchaus nicht besinnen, Ihnen jemals begegnet zu sein.«

Es war ein kleiner Mann mit einem abgetragenen Anzug, der ungewöhnlich blaß und krank aussah. Sein Gesicht war mager und von vielen Furchen durchzogen. Seit Tagen hatte er sich nicht mehr rasiert, und die vielen kleinen Bartstoppeln gaben ihm ein düsteres Aussehen.

Der Geistliche hatte gerade Temple Gardens verlassen, als ihn der andere ansprach. Er sah als Pastor wohlwollend aus und trug einen großen Band unter dem Arm.

»Ich habe Sie aber doch schon gesehen«, sagte der kleine Mann beharrlich. »Ich habe Sie sogar im Traum gesehen.«

»Wollen Sie mich jetzt bitte entschuldigen«, erwiderte der Geistliche. »Ich kann mich nicht länger mit Ihnen aufhalten. Ich habe eine wichtige Verabredung.«

»Warten Sie, ich muß mit Ihnen sprechen«, rief der unscheinbare Mann so heftig, daß der andere stehenblieb. »Ich sage doch, daß ich von Ihnen geträumt habe, ich habe gesehen, daß Sie mit vier nackten schwarzen Teufeln tanzten. Und sie sahen alle fett und häßlich aus.«

Er hatte die letzten Worte leise gesprochen, aber mit einer eindringlichen, monotonen Stimme.

Der Geistliche trat erschrocken einen Schritt zurück.

»Mein lieber Mann«, sagte er ernst. »Sie können nicht andere Leute auf der Straße anhalten, um ihnen derartigen Unsinn zu erzählen. Ich habe Sie früher nie getroffen. Mein Name ist Reverend Josiah Jennings.«

»Sie sind Milburgh, ganz bestimmt, jetzt weiß ich es. Er hat oft von Ihnen gesprochen, dieser wunderbare Mann. Hören Sie doch zu!« Er faßte den Geistlichen am Ärmel, und Milburgh – er war es wirklich – wurde blaß, denn der andere hatte ihn wütend gepackt und sprach nun leidenschaftlich und wild. »Wissen Sie, wo er jetzt ist? Er liegt in einem schönen Gewölbe, das ist so groß wie ein Haus und steht auf dem Highgate-Kirchhof. Zwei Türen führen hinein, sie sind so schön und so groß wie Kirchentüren. Und dann muß man eine kleine Marmortreppe hinuntersteigen.«

»Wer sind Sie eigentlich?« fragte Milburgh. Er war so von Furcht gepackt, daß seine Zähne klapperten.

»Sie kennen mich nicht?« Der kleine Mann schaute, ihn scharf an. »Sie haben doch gehört, wie er Ihnen von mir erzählt hat? Ich bin Sam Stay – ich habe mehrere Tage im Warenhaus gearbeitet. Alles, was Sie haben, stammt von ihm. Jeden Pfennig, den Sie verdienten, haben Sie von Mr. Lyne bekommen. Er war freundlich zu allen Menschen, zu den Armen und Elenden, selbst zu einem Verbrecher, wie ich es bin.« Seine Augen füllten sich mit Tränen.

Mr. Milburgh sah sich um, ob ihn auch niemand beobachtete.

»Reden Sie keinen Unsinn«, sagte er leise. »Und hören Sie einmal zu. Wenn Sie jemand fragt, ob Sie Mr. Milburgh gesehen haben, dann sagen Sie nein, haben Sie mich verstanden?«

»Ich habe Sie wohl verstanden. Ich kenne Sie ganz genau. Ich kenne alle Leute, mit denen er in Verbindung stand. Er hat mich aus dem Schmutz aufgelesen.«

Sie waren zusammen langsam weitergegangen und hatten eine stille Ecke im Park erreicht. Milburgh setzte sich auf eine Bank und ließ den anderen neben sich Platz nehmen.

Zum erstenmal war er mit der Wahl seiner Verkleidung zufrieden. Der Anblick eines Pastors, der mit einem abgerissenen Mann sprach, mochte wohl auffallend sein, aber er konnte unter keinen Umständen Verdacht erregen. Es gehörte ja zu den Pflichten eines Geistlichen, die Armen und Elenden zu trösten, und man konnte annehmen, daß sie ein ernstes religiöses Gespräch miteinander führten.

Sam Stay schaute neugierig und mißtrauisch auf das schwarze Gewand und den weißen Kragen.

»Seit wann sind Sie denn Pastor geworden?« fragte er.

»Das ist schon eine ganze Weile her«, sagte Milburgh glatt. Er versuchte sich alle Tatsachen ins Gedächtnis zurückzurufen, die er über Sam Stay gehört hatte, aber er wurde dieser Mühe durch den anderen enthoben.

»Man hat mich irgendwo im Land eingesperrt, aber Sie wissen ja ganz genau, daß ich nicht verrückt war, Mr. Milburgh. Er hätte sich doch nie mit jemand abgegeben, der nicht richtig im Kopf ist. Und Sie sind nun mit einemmal Geistlicher geworden?« Er nickte plötzlich klug und verständig. »Hat er Sie zum Geistlichen gemacht?« fragte er dann neugierig. »Mr. Lyne konnte wunderbare Dinge tun. Haben Sie die Leichenrede über ihn gehalten, als er begraben wurde? Sie wissen doch, in dem schönen kleinen Gewölbe in Highgate? Ich habe ihn dort gesehen. Ich gehe jeden Tag dorthin. Ich fand es ganz durch Zufall. Zwei kleine Türen führen hinein. Sie sind wie Kirchentüren.«

Mr. Milburgh seufzte lange und tief. Er erinnerte sich jetzt daran, daß Sam Stay in eine Irrenanstalt gebracht worden war. Er hatte auch erfahren, daß er von dort wieder ausgebrochen war. Es war gerade nicht sehr angenehm, sich mit einem entsprungenen Wahnsinnigen zu unterhalten. Aber man konnte ja auch hieraus seinen Vorteil ziehen. Mr. Milburgh war ein Mann, der keine günstige Gelegenheit vorübergehen ließ. Wie konnte er sich dies zunutze machen? Wieder wurde er durch Sam Stay selbst darauf gebracht.

»Ich werde die Sache mit diesem Mädchen noch in Ordnung bringen –«, sagte er, hörte aber plötzlich auf zu sprechen und biß sich auf die Lippen, dann schaute er auf und sah Milburgh verschmitzt lächelnd an. »Ich habe nichts gesagt, Mr. Milburgh, nicht wahr? Ich habe nichts gesagt, was mich verraten könnte?«

»Nein, mein Freund«, erklärte Milburgh mit dem wohlwollenden Tonfall eines Geistlichen. »Von welchem jungen Mädchen sprechen Sie denn?«

Das Gesicht Sam Stays verzerrte sich zu einer wütenden Grimasse.

»Es gibt nur ein Mädchen, das ich meinen könnte«, sagte er böse. »Aber ich werde sie noch kriegen! Mit der will ich einmal abrechnen! Ich habe hier etwas für sie –«, er faßte suchend in die Tasche, »ich dachte, ich hätte es bei mir, ich habe es doch so lange mit mir herumgetragen. Aber ich habe es schon irgendwo, ich weiß es bestimmt!«

»Also dann sind Sie auf Miss Rider nicht gut zu sprechen?« fragte Milburgh. »Hassen Sie sie denn so sehr?«

»Ja, ich hasse sie!«

Der kleine Mann stieß es wütend hervor. Sein Gesicht hatte sich dunkelrot gefärbt, seine Augen leuchteten in unheimlichem Feuer, und seine beiden Hände zuckten krampfhaft.

»Ich dachte, ich hätte sie in der vorigen Nacht erwischt«, begann er, plötzlich aber hielt er inne.

Milburgh wußte nicht, worauf sich seine Worte bezogen, denn er hatte an diesem Tag noch keine Zeitung gelesen.

»Hören Sie mal«, fuhr Sam fort. »Haben Sie jemals eine Person in Ihrem Leben wirklich liebgehabt?«

Milburgh schwieg. Odette Rider bedeutete ihm nichts. Aber ihrer Mutter war er unendlich zugetan.

»O ja, ich glaube, daß ich jemand sehr liebe«, sagte er nach einer Pause. »Aber warum fragen Sie mich danach?«

»Nun, dann können Sie verstehen, wie ich fühle«, sagte Sam Stay heiser. »Dann wissen Sie, warum ich die Person kriegen muß, die ihn unter die Erde gebracht hat. Sie hat ihm aufgelauert, ihn verleumdet, ach, mein Gott –«

Er bedeckte das Gesicht mit den Händen und schwankte.

Milburgh schaute sich verzweifelt um. Aber plötzlich kam ihm ein Gedanke. Es war niemand in der Nähe.

Odette war die Hauptzeugin gegen ihn, und dieser Mann haßte sie bis auf den Tod. Er liebte Odette nicht – sie war die einzige Zeugin, die in einem Prozeß gegen ihn auftreten konnte, nachdem er seine Schuldbeweise vernichtet hatte. Wie konnte man ihn anklagen, wenn Odette nicht gegen ihn aussagte?

Er überlegte die Sache kaltblütig, wie ein Kaufmann irgendein Geschäft abwägt. Er hatte erfahren, daß Odette in einem Krankenhaus in London lag, er wußte allerdings nicht, welche traurigen Ereignisse sie dorthin gebracht hatten.

Er hatte am Morgen bei der Firma angerufen, um herauszubringen, ob man Nachforschungen nach ihm angestellt hätte. Dabei hatte er gehört, daß mehrere Kleidungsstücke für Odette nach dem Krankenhaus geschickt worden waren, und so hatte er die Adresse erfahren. Er hatte sich zwar gewundert, daß sie zusammengebrochen war, aber er hatte sich das mit den vielen Aufregungen erklärt, die sie in der letzten Zeit, besonders in der vorigen Nacht in Hertford, gehabt hatte.

»Wenn Sie nun Miss Rider treffen würden, was würden Sie dann tun?«

Sam Stay zeigte grinsend die Zähne.

»Sie werden sie in der nächsten Zeit wohl nicht zu sehen bekommen, denn sie liegt in einem Krankenhaus, Cavendish Place 304.«

»Cavendish Place 304«, wiederholte Sam. »Das ist doch in der Nähe der Regent Street, nicht wahr?«

»Ich weiß es nicht genau«, sagte Milburgh. »Sie liegt dort in einem Krankenhaus, und Sie werden sie wahrscheinlich nicht zu sehen bekommen.«

Milburgh stand auf. Er sah, daß der Mann zitterte.

»Cavendish Place 304«, sagte er noch einmal, dann kehrte er Mr. Milburgh den Rücken und entfernte sich.

Der würdige Geistliche schaute ihm nach, schüttelte den Kopf, erhob sich und ging in der anderen Richtung davon. Er überlegte, daß es ebenso leicht war, am Waterloo-Bahnhof eine Fahrkarte nach dem Festlande zu lösen wie in Charing Cross.


 << zurück weiter >>