Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

34.

Tarling beugte sich nieder und löste die Knoten, mit denen Milburgh an das Bett gebunden war. Der große, starke Mann war kreidebleich und zitterte. Tarling mußte ihn halb stützen und halb hochheben, damit er in eine sitzende Stellung kam. Milburgh saß nun auf der Bettkante und vergrub das Gesicht in den Händen. Tarling und Whiteside beobachteten ihn scharf.

Whiteside hob die Kleiderfetzen auf, die Ling Chu Milburgh vom Leib gerissen hatte und legte sie auf das Bett neben Milburgh. Tarling winkte den Polizeiinspektor in das größere Zimmer.

»Was hat das alles zu bedeuten?« fragte Whiteside.

»Mein Freund Ling Chu hat auf seine eigene Art und Weise herausbringen wollen, wer Thornton Lyne ermordet hat. Glücklicherweise hat er seine Absicht noch nicht ausgeführt. Wahrscheinlich hat er innegehalten, als ihm Milburgh erzählte, daß Miss Rider in Gefahr ist.«

Er schaute auf den kraftlosen, matten Menschen.

»Er ist zwar größer als ich«, meinte er, »aber ich glaube schon, daß er meine Kleider tragen kann.«

Er ging schnell in sein Schlafzimmer und kam bald darauf mit einigen Kleidungsstücken zurück.

»Milburgh, stehen Sie auf und ziehen Sie sich an!«

Der halbnackte Mann schaute auf. Er war noch ganz außer sich, und seine Lippen und Hände zitterten.

»Ich glaube, es ist besser, Sie nehmen diese Kleider, als daß Sie in der Tracht eines Geistlichen herumlaufen. Sie werden Ihnen zwar nicht besonders gut stehen«, fügte er sarkastisch hinzu.

Milburgh stand auf, und die beiden zogen sich ins Wohnzimmer zurück. Nach kurzer Zeit öffnete sich die Tür, Milburgh schwankte herein und sank in einen Stuhl.

»Fühlen Sie sich stark genug, daß Sie gehen können?« fragte Whiteside.

»Gehen?« Milburgh schaute verstört auf. »Wohin denn?«

»Zur Polizeistation«, sagte Whiteside trocken. »Ich habe einen Haftbefehl gegen Sie in der Tasche, Milburgh, weil Sie im Verdacht stehen, vorsätzlichen Mord, Brandstiftung, Diebstahl und Unterschlagung begangen zu haben.«

»Vorsätzlichen Mord?« rief Milburgh mit schriller Stimme und hob seine zitternden Hände. »Dessen können Sie mich nicht anklagen – ich schwöre Ihnen, daß ich unschuldig bin!«

»Wo haben Sie Thornton Lyne zuletzt gesehen?« fragte Tarling.

Milburgh riß sich nur mit größter Anstrengung zusammen.

»Ich sah ihn zuletzt lebend in seinem Büro«, begann er.

»Wann haben Sie Thornton Lyne zuletzt gesehen«, wiederholte Tarling scharf. »Ganz gleich, ob er noch lebte oder schon tot war.«

Milburgh antwortete nicht. Whiteside legte seine Hand auf die Schulter des Mannes und sah zu Tarling hinüber.

»Es ist meine Pflicht als Polizeibeamter, Sie zu warnen, daß alles, was Sie jetzt sagen, als Beweis gegen Sie beim Gerichtshof vorgebracht werden wird.«

»Warten Sie«, erwiderte Milburgh. Seine Stimme war heiser, und er konnte kaum atmen. »Kann ich ein Glas Wasser haben?« bat er und feuchtete seine trockenen Lippen mit der Zunge an.

Tarling brachte ihm die Erfrischung, und er trank das Glas gierig mit einem Zug aus. Das Wasser schien ihm etwas von seiner alten Anmaßung und von seinem Übermut zurückzugeben, denn er stand plötzlich von seinem Stuhl auf, zog den Rock zurecht – er trug einen alten Jagdanzug von Tarling – und lächelte zum erstenmal wieder.

»Meine Herren«, sagte er in seinem gewohnten Ton. »Es wird Ihnen schwerfallen, mir nachzuweisen, daß ich in die Mordaffäre Thornton Lyne verwickelt bin. Ebenso schwer dürfte es sein, zu beweisen, daß ich etwas mit dem Brand der Firma Dashwood & Solomon zu tun habe. Ich vermute, daß Sie das meinten, als Sie eben von Brandstiftung sprachen. Und am schwersten wäre es nachzuweisen, daß ich die Firma Thornton Lyne bestohlen habe. Das Mädchen, das diese Tat beging, hat bereits ihr Eingeständnis schriftlich niedergelegt, wie Sie ja wohl am besten wissen, Mr. Tarling.« Er schaute den Detektiv lächelnd an, der seinen Blick erwiderte.

»Ich weiß von keinem Eingeständnis«, sagte er nachdrücklich.

Mr. Milburgh neigte den Kopf grinsend vor. Obgleich man ihm noch deutlich den Schrecken ansah, den ihm die Behandlung und die Drohungen Ling Chus eingejagt hatten, hatte er doch bis zu einem gewissen Grade seine alte Sicherheit wiedererlangt.

»Dieses Schriftstück wurde verbrannt, und zwar haben Sie das getan, Mr. Tarling. Und nun glaube ich, daß Sie mich lange genug geblufft haben.«

»Geblufft«, fragte Tarling erstaunt. »Was meinen Sie damit?«

»Ich meine damit den Haftbefehl, von dem Sie mir immer vorgefaselt haben.«

»Das ist kein Bluff«, sagte Whiteside und zog ein gefaltetes Dokument aus der Tasche, öffnete es und hielt es ihm vor die Nase. »Und für alle Fälle habe ich dies«, fuhr er fort, nahm ein Paar starke Handschellen aus der Tasche und fesselte den entsetzten Milburgh.

Milburgh mochte seinem Glück zu sehr vertraut haben, oder vielleicht hatte ihn auch das Bewußtsein aufrechterhalten, daß er alle Spuren seiner Vergehen und Verbrechen so gut verwischt hatte. Aber jetzt brach er zusammen. Tarling war verwundert, daß dieser Mann seine herausfordernde Haltung bis zuletzt bewahrte, obwohl es ihm klar war, daß die Beweisgründe gegen Milburgh wegen Brandstiftung und Unterschlagung noch gar nicht vollständig waren. Vor allen Dingen war ja die Anklage wegen Mordes im Vergleich zu den anderen Straftaten die Hauptsache. Milburgh schien das gleiche zu denken, denn er sprach nicht mehr über die geringeren Vergehen. Er saß zusammengekauert in einem Stuhl, und bei jeder Bewegung seiner Hände klirrten die Fesseln leise. Er legte sie auf den Tisch vor sich und richtete sich mit Anstrengung auf.

»Wenn Sie mir dies abnehmen würden, meine Herren«, sagte er und hob die gefalteten Hände, »dann kann ich Ihnen verschiedenes sagen, das Sie wegen der Ermordung Thornton Lynes beruhigt.«

Whiteside sah Tarling fragend an, und dieser nickte. Gleich darauf waren die Handschellen abgenommen.

Der Psychologe, der einen Versuch gemacht hätte, die Geistesverfassung Tarlings zu analysieren, hätte sich einer schweren Aufgabe gegenübergesehen. Er war außer sich vor Sorge um Odette in seine Wohnung geeilt, um mit Ling Chu die Verfolgung Sam Stays aufzunehmen. Und nur die Gewißheit, daß Ling Chu schon auf der Spur des Geisteskranken war, hatte seine aufgeregten Nerven beruhigt, sonst hätte er nicht so viel Zeit geopfert, sich mit Milburgh zu befassen und auf dessen Geständnisse zu warten.

Trotzdem kam ihm plötzlich Odettes gefährliche Lage wieder zum Bewußtsein, und er wollte so schnell wie möglich hier fertig werden. Am besten wäre es gewesen, Milburgh ins Gefängnis einzuliefern und sich nur noch der Auffindung Odettes zu widmen.

»Bevor Sie anfangen, sagen Sie mir, was Sie Ling Chu gestanden haben, daß er Sie hier allein ließ?«

»Ich habe ihm von Miss Rider erzählt – und ich sprach eine Vermutung aus – es ist allerdings nur eine Vermutung –, was ihr zugestoßen sein könnte.«

»Ich verstehe«, sagte Tarling. »Nun erzählen Sie schnell, was Sie zu berichten haben, mein Freund, und halten Sie sich möglichst an die Wahrheit. Wer hat Thornton Lyne ermordet?«

Milburgh lächelte schon wieder.

»Wenn Sie mir erklären würden, wie der Tote von Odettes Wohnung zum Hydepark kam, könnte ich Ihnen sofort antworten, denn bis zu diesem Augenblick glaube ich und bin fest davon überzeugt, daß Thornton Lyne von Odette ermordet wurde.«

Tarling atmete tief und hörbar.

»Das lügen Sie!« rief er.

Aber Mr. Milburgh war nicht im mindestens verwirrt.

»Nun gut«, sagte er, »dann werde ich Ihnen jetzt erzählen, was ich von der Sache weiß und was ich persönlich erlebt habe.«


 << zurück weiter >>