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33.

Milburgh hatte viel erlebt, seitdem er Sam Stay verlassen hatte und hier aufgefunden wurde. Er hatte in der Zeitung von dem Mord gelesen, und es war ihm sehr nahegegangen, ja, er war auf seine Art sogar tief traurig darüber gewesen.

Er hatte jedoch den Brief nach Scotland Yard nicht geschrieben, um Odette Rider zu retten, sondern um an dem Mann Rache zu nehmen, der die einzige Frau ermordet hatte, die er je liebte. Auch hatte er nicht die geringste Absicht, Selbstmord zu verüben. Er hatte alle Pässe schon seit einem Jahr für die Flucht vorbereitet, auch das Gewand eines Geistlichen hatte er sich schon lange beschafft, und zwar ausschließlich zu diesem Zweck. Er konnte England in jedem Augenblick verlassen und war jetzt entschlossen, es zu tun.

Die Fahrkarten steckten in seiner Tasche, und als er den Boten nach Scotland Yard schickte, befand er sich auf dem Weg zur Waterloo-Station, um den Zug nach Le Havre zu besteigen. Er wußte wohl, daß die Polizei den Bahnhof bewachte, aber er glaubte, daß man ihn unter der Maske eines ehrwürdigen Landgeistlichen nicht erkennen würde, selbst wenn schon ein Haftbefehl gegen ihn erlassen sein sollte.

Er kaufte gerade bei dem Bahnhofsbuchhändler einige Zeitungen und Bücher, um sich die Zeit während der langen Reise zu vertreiben, als er fühlte, wie sich eine Hand auf seinen Arm legte. Eine merkwürdige Furcht beschlich ihn. Er wandte sich um und sah in das braune Gesicht des Chinesen, den er kannte.

»Nun, mein Lieber«, fragte Milburgh lächelnd, »was kann ich für Sie tun?«

»Kommen Sie mit mir«, sagte Ling Chu, »und es wird besser sein, wenn Sie kein Aufsehen erregen.«

»Sie irren sich offenbar.«

»Ich irre mich durchaus nicht«, erwiderte Ling Chu ruhig. »Sie brauchen ja nur dem Polizisten drüben zu sagen, daß ich Sie mit Mr. Milburgh verwechsle, den die Polizei sucht, weil er unter dem Verdacht steht, einen Mord begangen zu haben. Dann werde ich in große Schwierigkeiten kommen«, fügte er ironisch hinzu.

Milburghs Lippen zitterten. »Ich komme mit«, sagte er mit heiserer Stimme.

An Ling Chus Seite verließ er den Waterloo-Bahnhof. Die Fahrt nach Bond Street blieb wie ein schrecklicher Traum in seiner Erinnerung. Er war nicht gewohnt, auf einem Autobus zu fahren, denn er war immer auf persönlichen Komfort bedacht gewesen und hatte in dieser Beziehung nicht gespart. Ling Chu dagegen hatte eine Vorliebe für Autobusse und schien sich sehr wohl darin zu fühlen.

Sie sprachen unterwegs kein Wort. Milburgh war darauf gefaßt, Tarling gegenüberzutreten, denn er glaubte, daß der Chinese nur ein Abgesandter des Detektivs war, um ihn zu sich zu holen. Aber er konnte in der Wohnung nichts von Tarling entdecken.

»Nun, mein Freund, was wollen Sie von mir?« fragte er. »Es ist wahr, daß ich Milburgh bin, aber wenn Sie eben behaupteten, daß ich einen Mord begangen habe, so ist das eine infame Lüge.«

Milburgh hatte wieder etwas von seiner alten Kühnheit zurückgewonnen. Zuerst hatte er erwartet, daß ihn Ling Chu direkt nach Scotland Yard bringen würde und daß man ihn dort gefangensetzte. Daß er zu Tarlings Wohnung geführt wurde, glaubte er so deuten zu können, daß seine Lage nicht so verzweifelt war, wie er sich eingebildet hatte.

Ling Chu stand plötzlich vor Milburgh, packte ihn am Handgelenk und drehte es halb um. Bevor Milburgh recht wußte, was geschah, lag er mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden, und Ling Chu stemmte ihm das Knie in den Rücken. Er fühlte, daß etwas Ähnliches wie eine Schlinge um seine Handgelenke gewunden wurde, und er empfand einen durchdringenden Schmerz, als der Chinese die beiden Handschellen aneinanderkettete.

»Stehen Sie auf«, sagte Ling Chu hart. Milburgh spürte dessen erstaunliche Kraft.

»Was wollen Sie mit mir anfangen?« fragte er erschrocken.

Ling Chu antwortete nicht, sondern packte ihn mit der einen Hand, öffnete die Tür mit der anderen und schob ihn in einen kleinen, spärlich möblierten Raum. Er stieß ihn auf die Bettstelle, die an der Wand stand, so daß er in sich zusammensank.

Der Chinese ging mit einer erstaunlichen Sicherheit, mit einer fast wissenschaftlichen Gründlichkeit ans Werk. Erst befestigte er einen langen seidenen Strick oben an dem Querriegel des Kopfendes, dann knüpfte er kunstgerecht eine Schlinge um Milburghs Hals, so daß sich dieser nicht bewegen konnte, wenn er nicht erdrosselt werden wollte.

Ling Chu legte ihn dann der Länge nach aufs Bett, löste die Handschellen und band die Handgelenke an die Bettpfosten, dasselbe tat er mit den Füßen.

»Was wollen Sie mit mir machen?« winselte Milburgh, aber er erhielt keine Antwort.

Ling Chu zog ein furchtbar aussehendes Messer aus seiner Bluse, und Milburgh begann zu schreien. Er war außer sich vor Entsetzen, aber er sollte noch viel schrecklichere Dinge erleben. Der Chinese unterdrückte sein Wehgeheul dadurch, daß er ihm ein Kissen über das Gesicht warf. Dann schnitt er Milburghs Kleider am Oberkörper auf und entfernte sie.

»Wenn Sie schreien«, sagte er ruhig, »wird man glauben, daß ich singe. Die Chinesen haben keine musikalischen Stimmen, und die Leute sind schon oft nach oben gekommen, wenn ich chinesische Lieder gesungen habe, weil sie annahmen, daß jemand in großen Schmerzen um Hilfe schrie.«

»Das dürfen Sie nicht tun«, keuchte Milburgh, »das ist gegen das Gesetz!« Er machte einen letzten Versuch, seine Lage zu retten. »Für Ihr Verbrechen werden Sie ins Gefängnis kommen.«

»Das soll mich sehr freuen«, sagte Ling Chu, »das ganze Leben ist eine Gefangenschaft. Aber Ihnen wird man einen Strick um das Genick legen und Sie an einem Galgen aufknüpfen.«

Er hatte das Kissen von Milburghs totenbleichem Gesicht wieder weggenommen, so daß dieser allen Bewegungen des Chinesen folgen konnte! Ling Chu betrachtete sein Werk mit großer Genugtuung.

Dann ging er zu einem Wandschränkchen und nahm eine kleine braune Flasche heraus, die er auf einen Tisch neben dem Bett stellte. Er selbst setzte sich auf den Bettrand und sprach zu seinem Gefangenen. Sein Englisch war fließend, obgleich er dann und wann eine kleine Pause machte, um ein Wort zu suchen, das ihm entfallen war. Manchmal brauchte er hochtrabende und hochfahrende Phrasen, manchmal war er auch ein wenig pedantisch. Er sprach langsam und mit großem Nachdruck.

»Sie kennen die Chinesen nicht? Sie waren nicht in China, haben nicht dort gelebt? Wenn ich Sie nun frage, ob Sie dort gelebt haben, meine ich nicht, daß Sie einige Wochen in einem guten Hotel in einer der Küstenstädte zugebracht haben. Ihr Mr. Lyne hat das so gemacht, und er hat natürlich auch nichts von seinem Aufenthalt gehabt.«

»Ich weiß nichts von Mr. Lyne«, unterbrach ihn Milburgh, der fühlte, daß Lingh Chu ihn in irgendeiner Weise mit dem schlechten Betragen dieses Mannes in Verbindung brachte.

»Gut«, sagte Ling Chu und schlug mit der flachen Klinge seines Messers auf die Hand. »Wenn Sie in China gelebt hätten – ich meine in dem wirklichen China –, dann würden Sie vielleicht eine Ahnung von unserem Volk und seinen charakteristischen Eigentümlichkeiten haben. Es ist bekannt, daß die Chinesen weder Tod noch Schmerz fürchten. Das ist natürlich ein wenig übertrieben, denn ich habe viele Verbrecher gekannt, die sich vor beidem fürchteten.«

Seine dünnen Lippen verzogen sich einen Augenblick zu einem Lächeln, als ob er sich gerne an derartige Schreckensszenen erinnerte, aber dann wurde er wieder ernst.

»Vom Standpunkt der Europäer aus sind wir noch ungebildet, nach unserer eigenen Ansicht aber haben wir eine alte Kultur, die höher steht als die des Westens. Das wollte ich Ihnen einmal einschärfen.«

Milburgh war starr vor Schrecken, als Ling Chu ihm jetzt die Spitze seines Messers auf die Brust setzte. Aber er hielt es so leicht, daß Milburgh kaum die geringste Berührung spürte.

»Wir achten das Recht der Persönlichkeit nicht so hoch, wie die Europäer. Zum Beispiel«, erklärte er Milburgh sorgfältig, »gehen wir nicht sehr zart mit unseren Gefangenen um, wenn wir der Meinung sind, daß wir sie durch Anwendung von ein wenig Gewalt zu Geständnissen bringen können.«

»Was haben Sie mit mir vor?« fragte Milburgh entsetzt, denn es kam ihm plötzlich ein fürchterlicher Gedanke.

»In England und auch in Amerika – obgleich die Amerikaner schon etwas schlauer sind – wird ein Verbrecher nach seiner Verhaftung nur dauernd verhört. Dabei hat er Gelegenheit, den Richtern so viel vorzulügen, wie ihm seine Phantasie eingibt. Man legt ihm Fragen vor, immer nur Fragen, und fragt ihn ohne Ende weiter. Und man weiß nicht, ob er lügt oder die Wahrheit sagt.«

Milburgh atmete schwer.

»Haben Sie jetzt verstanden, worauf ich hinauswill?«

»Ich weiß nicht, was Sie wollen«, erwiderte Milburgh mit zitternder Stimme. »Ich weiß nur, daß Sie ein schreckliches Verbrechen –«

Ling Chu brachte ihn durch eine Handbewegung zum Schweigen.

»Ich weiß sehr genau, was ich tue. Hören Sie, was ich Ihnen jetzt sage. Vor einer Woche ungefähr wurde Mr. Thornton Lyne, Ihr Chef, tot im Hydepark aufgefunden. Er war nur mit Hemd und Hose bekleidet, und jemand hatte ein seidenes Gewand auf seine Brust gelegt, um das Blut zu stillen. Er wurde in der Wohnung der kleinen jungen Frau getötet, deren Namen ich nicht richtig aussprechen kann. Aber Sie wissen, wen ich meine.«

Milburgh starrte den Chinesen an und nickte schwach.

»Er wurde von Ihnen ermordet«, sagte Ling Chu langsam, »weil er entdeckte, daß Sie ihn bestohlen hatten, und Sie fürchteten, daß er Sie der Polizei übergeben würde.«

»Das ist nicht wahr!« brüllte Milburgh. »Das ist eine Lüge! Ich sage Ihnen, es ist nicht wahr!«

»Das werden wir gleich heraushaben, ob es wahr ist oder nicht!«

Er steckte seine Hand in die Tasche. Milburgh beobachtete ihn mit weitaufgerissenen Augen, aber es kam nur ein silbernes Zigarettenetui zum Vorschein. Ling Chu nahm sich eine Zigarette und rauchte einige Augenblicke schweigend, wobei er Milburgh dauernd ansah. Dann erhob er sich, ging zu dem Schrank, holte noch eine größere Flasche und stellte sie neben die kleine braune.

Wieder rauchte Ling Chu, dann warf er den Rest der Zigarette in den Aschenständer am Kamin.

»Es liegt im Interesse aller Beteiligten«, sagte er ruhig und langsam, »daß die Wahrheit herauskommt, sowohl im Interesse meines verehrten Herrn Lieh Jen, des Jägers der Menschen, als auch der verehrten kleinen jungen Frau.«

Er nahm das Messer und beugte sich über den vor Schreck halbtoten Milburgh.

»Um Gottes willen, lassen Sie mich frei!« schrie er, und seine Worte wurden durch Schluchzen halb erstickt.

»Das wird Sie weiter nicht verletzen«, sagte der Chinese und zog mit dem Messer vier schwache, gerade Linien über die Brust des anderen. Das scharfe Dolchmesser schien die Haut Milburghs kaum zu berühren, aber man sah deutlich die roten Stellen, die nicht stärker waren, als ob Milburgh sich gekratzt hätte. Der Gefangene fühlte nur ein Kitzeln und dann einen leichten, brennenden Schmerz. Der Chinese legte das Messer auf den Tisch und griff zu der kleineren Flasche.

»In diesem Gefäß befindet sich ein Extrakt aus gewissen Pflanzen, und hier in dieser Flasche«, er zeigte auf die größere, »ist ein chinesisches Öl, das sofort die Schmerzen aufhebt, die der Pflanzensaft hervorruft.«

»Was wollen Sie tun, Sie Hund, Sie Teufel?«

Ling Chu betrachtete seinen Gefangenen aufmerksam, und als der seinen Mund öffnete, um zu schreien, stieß er ihm schnell ein Taschentuch in den Mund.

»Warten Sie, warten Sie«, gurgelte Milburgh. »Ich muß Ihnen etwas sagen – etwas, was Ihr Herr wissen muß.«

»So, das ist sehr gut«, sagte Ling Chu kühl und entfernte das Taschentuch wieder. »Also, nun sagen Sie mir die Wahrheit.«

»Was soll ich Ihnen denn sagen?« fragte Milburgh, dem der Angstschweiß auf der Stirn perlte.

»Sie sollen gestehen, daß Sie Thornton Lyne getötet haben, das ist die einzige Wahrheit, die ich hören will.«

»Aber ich schwöre Ihnen, daß ich ihn nicht getötet habe – ich schwöre es – hören Sie, ich sage die Wahrheit!« rief Milburgh halb wahnsinnig vor Furcht und Schrecken. »Nein, warten Sie, warten Sie!« winselte er, als Ling Chu wieder das Taschentuch aufnahm. »Wissen Sie, was mit Miss Rider geschehen ist?«

»Was ist mit Miss Lider?« fragte er schnell. (Die Chinesen können kein R aussprechen.)

Milburgh erzählte atemlos und gebrochen, wie er Sam Stay getroffen hatte und wiederholte in seiner Angst getreu Wort für Wort seiner Unterhaltung mit ihm. Ling Chu saß auf dem Bettrand und hörte mit halbgeschlossenen Augen zu.

»Mein Herr wünscht, daß die kleine junge Frau nicht in Gefahr gerät«, sagte er. »Heute abend wird er nicht zurückkommen, deshalb muß ich selbst zum Krankenhaus gehen – Ihr Verhör kann noch warten.«

»Lassen Sie mich los«, rief Milburgh, »ich will Ihnen helfen!«

Ling Chu schüttelte den Kopf.

»Nein, Sie bleiben hier«, sagte er mit einem drohenden Lächeln.

»Ich werde erst zum Krankenhaus gehen, und wenn alles in guter Ordnung ist, komme ich wieder zu Ihnen zurück. Dann werden wir weitersehen, was Sie zu gestehen haben.«

Er nahm ein reines weißes Handtuch aus dem Schrank, breitete es über das Gesicht seines Opfers und sprengte einige Tropfen von dem Inhalt einer dritten Flasche, die er ebenfalls aus dem Schrank nahm, darüber. Milburgh verlor das Bewußtsein und konnte sich auf nichts mehr besinnen, bis er, ungefähr eine Stunde später, in das verwunderte Gesicht Tarlings blickte.


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