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28.

Am nächsten Morgen um zehn Uhr saßen Whiteside und Tarling in Hemdsärmeln auf dem Sofa und tranken Kaffee. Tarling sah angegriffen und müde aus.

Sie saßen in dem Zimmer, in dem Mrs. Rider ermordet worden war. Die dunkelroten Flecken auf dem Teppich waren beredte Zeugen der unheimlichen Tragödie, die sich hier in der vergangenen Nacht abgespielt hatte.

Sie saßen schweigend nebeneinander, und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Tarling hatte aus gewissen persönlichen Gründen nicht alles erzählt, was er in der Nacht erlebt hatte.

Auch die Begegnung mit dem geheimnisvollen Fremden an der Parkmauer hatte er nicht erwähnt.

Whiteside steckte sich eine Zigarette an, und dieses Geräusch weckte Tarling aus seinen Träumereien auf.

»Was halten Sie von der ganzen Sache?« fragte er.

Whiteside schüttelte den Kopf.

»Wenn irgend etwas gestohlen worden wäre, könnte man eine einfache Erklärung geben. Aber das ist ja nicht der Fall – mir tut nur das arme Mädchen leid.«

Tarling nickte.

»Es ist schrecklich. Der Doktor mußte ihr erst ein Betäubungsmittel geben, sonst wäre es unmöglich gewesen, sie von hier fortzubringen.«

»Die ganze Geschichte ist äußerst verworren«, sagte der Polizeiinspektor und strich sich nachdenklich mit der Hand über die Stirn. »Hat denn das junge Mädchen keine Angaben machen können, aus denen man Anhaltspunkte gewinnen könnte, wer der Täter ist?«

»Nein, sie konnte nicht das geringste darüber aussagen. Sie hatte ihre Mutter aufgesucht und die hintere Tür aufstehen lassen, da sie ursprünglich das Haus wieder auf demselben Weg verlassen wollte, nachdem sie mit ihrer Mutter gesprochen hatte. Aber Mrs. Rider ließ sie zur Vordertür hinaus. Offenbar hat sie jemand beobachtet und wartete, bis sie wieder herauskommen sollte. Als sie aber nicht wieder erschien, schlich er sich ins Haus.«

»Das war doch bestimmt Milburgh«, meinte Whiteside.

Tarling antwortete nicht. Er hatte seine eigenen Ansichten, aber er äußerte sich im Augenblick noch nicht.

»Es ist ganz klar, daß es Milburgh war«, sagte Whiteside. »Er kommt in der Nacht zu Ihnen – wir wissen, daß er sich in Hertford aufhält. Wir wissen auch, daß er Sie zu ermorden versuchte, weil er glaubte, daß das Mädchen ihn verraten hätte und Sie hinter sein Geheimnis gekommen wären. Und nun hat er die Mutter getötet, die wahrscheinlich viel mehr von dem geheimnisvollen Tod Thornton Lynes weiß als ihre Tochter.«

Tarling schaute auf die Uhr.

»Ling Chu müßte eigentlich schon hier sein«, sagte er dann.

»Ach, Sie haben nach Ihrem Chinesen geschickt?« fragte Whiteside erstaunt. »Nehmen Sie denn an, daß er irgend etwas über diese Geschichte weiß?«

Tarling schüttelte de Knopf.

»Nein. Ich glaube, was er mir erzählt hat. Als ich seine Geschichte damals an Scotland Yard weiterberichtete, erwartete ich nicht, daß auch Sie sich davon überzeugen ließen. Aber ich kenne Ling Chu genau. Er hat mich noch nie belogen.«

»Mord ist eine böse Sache«, entgegnete Whiteside. »Und wenn ein Mann nicht lügt, um vom Galgen freizukommen, lügt er überhaupt nicht.«

Unten hielt ein Auto, und Tarling trat ans Fenster.

»Das ist Ling Chu«, sagte er. Einige Minuten später trat der Chinese geräuschlos ins Zimmer. Tarling erwiderte seinen Gruß mit einem kurzen Nicken und erzählte ihm dann ohne alle Umschweife, was sich hier ereignet hatte. Er sprach englisch zu ihm, so daß Whiteside folgen konnte, der manchmal eine kleine Bemerkung einwarf. Der Chinese lauschte, ohne ein Wort zu sagen, und als Tarling geendet hatte, machte er eine seiner kurzen Verbeugungen und verließ den Raum.

»Hier sind die Briefe«, sagte Whiteside, nachdem Ling Chu gegangen war.

Zwei Stöße mit Briefen lagen in schöner Ordnung auf dem Schreibtisch von Mrs. Rider. Tarling zog sich einen Stuhl heran und setzte sich.

»Sind das alle?«

»Jawohl. Ich habe das ganze Haus seit heute morgen um acht Uhr durchsucht und kann weiter nichts finden. Die auf der rechten Seite sind alle von Milburgh. Sie sind nur mit einem Anfangsbuchstaben unterzeichnet, das ist eine Eigenheit von ihm, aber auf allen Briefen steht seine Stadtadresse.«

»Haben Sie sie einmal durchgesehen?« fragte Tarling.

»Ich habe sogar alle gelesen, aber ich habe nichts gefunden, was Milburgh irgendwie belasten könnte. Es sind gewöhnliche Briefe, die sich meistens um kleine Geschäfte und um Investierungen drehen, die Milburgh im Namen seiner Frau machte – oder besser im Namen von Mrs. Rider. Man kann leicht daraus ersehen, wie tief die arme Frau in die ganze Sache verwickelt war, ohne etwas von Milburghs Verbrechen zu wissen.«

Tarling nahm die Briefe nacheinander aus den Umschlägen, las sie durch und legte sie wieder zurück. Er war bei der Hälfte des Stoßes angelangt, als er plötzlich innehielt und mit einem Brief zum Fenster trat.

»Hören Sie einmal zu«, sagte er zu Whiteside.

»Verzeihe mir, daß ich dir diesen befleckten Bogen schicke, aber ich bin in furchtbarer Eile und habe mir die Finger mit Tinte beschmutzt, weil ich die Flasche umgestoßen habe.«

»Aber da ist doch weiter nichts dabei!« entgegnete Whiteside.

»An den Worten sicher nicht«, gab Tarling zu. »Aber unser Freund hat auf diesem Briefbogen einen brauchbaren Daumenabdruck hinterlassen. Ich schließe wenigstens aus der Größe, daß es ein Daumenabdruck ist.«

»Geben Sie mir bitte einmal den Bogen.«

Whiteside war erregt aufgesprungen, ging um den Tisch herum und schaute Tarling über die Schulter, der den Brief noch in der Hand hielt. Er wurde sehr erregt und packte Tarling am Arm.

»Jetzt haben wir ihn! Er kann uns nicht mehr entwischen!«

»Was meinen Sie damit?«

»Ich kann einen Eid darauf leisten, daß dieser Fingerabdruck mit den blutigen Spuren identisch ist, die wir auf der Kommodenschublade in Miss Riders Wohnung gefunden haben!«

»Sind Sie Ihrer Sache ganz sicher?«

»Absolut«, erwiderte Whiteside schnell. »Sehen Sie doch einmal diese Spirale, diese Linienführung – es ist genau dieselbe. Ich habe die Fotografie des blutigen Abdrucks bei mir.« Er suchte in seinem Notizbuch und fand die Vergrößerung.

»Vergleichen Sie doch!« rief Whiteside triumphierend. »Linie für Linie, Furche für Furche stimmt genau. Das ist Milburghs Daumenabdruck, und Milburgh ist der Mann, den wir suchen!«

Er zog schnell seinen Rock an.

»Wohin wollen Sie?«

»Zurück nach London«, sagte der Polizeiinspektor grimmig, »um einen Haftbefehl gegen George Milburgh ausstellen zu lassen, gegen den Mann, der Thornton Lyne und seine eigene Frau ermordete – den schwersten Verbrecher, den es augenblicklich gibt!«


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