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8.

Sam Stay hielt sich in London auf. Die Polizei kannte seine Wohnung und ließ ihn Tag und Nacht scharf bewachen. Ihm selbst war es keine Neuigkeit, stets einen harmlos dreinschauenden Detektiv hinter sich zu wissen, aber zum erstenmal in seinem Leben beunruhigte ihn diese Tatsache nicht im mindesten. Seine Gedanken waren viel zu sehr mit dem für ihn furchtbaren Ereignis beschäftigt.

Der Tod Thornton Lynes war der schwerste Schlag, der ihn jemals getroffen hatte. Und selbst wenn sie ihn hinter Schloß und Riegel gesetzt hätten, wäre es ihm vollständig gleichgültig gewesen. Denn dieser unverbesserliche Verbrecher mit dem langen, melancholischen, von vielen Furchen durchzogenen Gesicht, das ihm das Aussehen eines alten Mannes gab, hatte Thornton Lyne über alle Maßen geliebt und verehrt. Lyne war für ihn eine Erscheinung mit übermenschlichen Gaben und Fähigkeiten gewesen, die sonst niemand entdeckt hatte. In Sams Augen konnte Lyne nichts Unrechtes getan haben, er war der Inbegriff alles Guten und Schönen, alles Hohen und Erhabenen.

Thornton Lyne war tot! Nie wieder würde er zum Leben erwachen! Tot!

Jeder Schritt schien ein Echo dieses schrecklichen Wortes zu sein. Sam Stay war vollständig abgestumpft, alle seine anderen Sorgen und Kümmernisse waren gegenüber dieser einen fürchterlichen Erkenntnis verstummt.

Und wer war an allem schuld? Durch wessen Verrat war das Leben dieses wunderbaren Menschen so schnell zu einem furchtbaren Ende gekommen? Er biß die Zähne wütend aufeinander bei diesem Gedanken. Niemand anders als – Odette Rider! Dieser Name stand in Flammenschrift vor ihm. Alle Beleidigungen, die sie seinem Wohltäter zugefügt hatte, rief er sich ins Gedächtnis zurück, er erinnerte sich an jedes Wort der langen Unterhaltung mit Lyne an dem Morgen seiner Entlassung, an alle Pläne, die sie zusammen ausgedacht hatten.

Er konnte ja nicht wissen, daß sein abgöttisch verehrter Held ihm nicht die Wahrheit gesagt, sondern in seinem Zorn und in seiner beleidigten Eitelkeit Anschuldigungen aus der Luft gegriffen und Beleidigungen von Odette Rider erdichtet hatte, die niemals vorgekommen waren. Er wußte nur, daß Thornton Lyne dieses Mädchen haßte, und von seinem Standpunkt aus war dieser Haß vollkommen gerechtfertigt. Sie allein war an dem Tod dieses großen Mannes schuld.

Ziellos wanderte er nach Westen und kümmerte sich nicht im mindesten um den Polizeibeamten, der ihm folgte. Als er das Ende von Piccadilly erreicht hatte, fühlte er, daß jemand höflich seinen Arm berührte. Er wandte sich um und sah mürrisch in das Gesicht eines alten Bekannten.

»Sie brauchen nichts zu fürchten, Sam«, sagte der Detektiv mit einem Lachen. »Es liegt nichts gegen Sie vor. Ich möchte nur ein paar Fragen an Sie stellen.«

»Die Polizei hat mich schon so ausgefragt, Tag und Nacht, nachdem das – das Schreckliche passiert ist.«

Trotzdem ließ er sich beruhigen und ging mit dem anderen.

»Ich spreche ganz offen mit Ihnen, Sam. Wir haben gar nichts gegen Sie, sondern wir sind davon überzeugt, daß Sie uns viel helfen können. Sie kannten Mr. Lyne sehr gut, er war Ihnen gegenüber immer hilfreich und liebenswürdig.«

»Hören Sie davon auf!« rief Sam wild. »Ich will nicht mehr darüber sprechen! Ich darf auch nicht mehr daran denken! Hören Sie, können Sie denn das nicht verstehen? Der größte Mensch, der jemals lebte, war Mr. Lyne. Ach mein Gott, mein Gott!« jammerte er, und zum größten Erstaunen des Beamten verbarg dieser harte Verbrecher sein Gesicht in den Händen und schluchzte.

»Ich verstehe Ihren Schmerz vollkommen, Sam. Ich weiß, wie gut er gegen Sie war. Hat er denn keine Feinde gehabt? – Vielleicht hat er mit Ihnen darüber gesprochen und hat Ihnen Dinge anvertraut, die er nicht einmal seinen Freunden mitteilte.«

Sam schaute ihn mit rotgeweinten Augen mißtrauisch an.

»Wird mir auch nachher kein Strick daraus gedreht, wenn ich Ihnen jetzt etwas sage?«

»Durchaus nicht, Sam«, entgegnete der Polizist schnell. »Seien Sie doch vernünftig, und helfen Sie uns, soviel Sie können. Vielleicht drücken wir auch einmal ein Auge zu, wenn Sie wieder was ausgefressen haben. Sie verstehen doch, worauf es uns ankommt? Wissen Sie jemand, der mit ihm verfeindet war, der ihn gehaßt hat?«

Sam nickte.

»War es eine Frau?« fragte der Detektiv scheinbar gleichgültig.

»Ja, die war es!« rief Sam fluchend. »Zum Henker noch mal, sie war es! Mr. Lyne hat sie gut behandelt, sie war vollständig heruntergekommen, halb verhungert hat er sie aus dem Schmutz aufgelesen und hat ihr eine gute Stellung gegeben. Und sie hat ihn zum Dank dafür beschuldigt, verleumdet, die schlimmsten Anklagen gegen ihn vorgebracht!« Sams Zorn und Wut gegen das Mädchen ergossen sich in einem Strom wüster Beschimpfungen und Schmähungen, wie sie der Detektiv noch nie gehört hatte.

»Solch ein gemeines Subjekt war sie, Slade«, fuhr er fort. Er redete den Beamten nur mit seinem Namen an, wie das alte Verbrecher gewöhnlich zu tun pflegen. »Sie verdiente überhaupt nicht zu leben –«

Seine Stimme überschlug sich, und er schluchzte wieder.

»Wollen Sie mir denn nicht ihren Namen sagen?«

Wieder sah Sam ihn argwöhnisch von der Seite an.

»Slade, hören Sie einmal. Überlassen Sie mir doch die ganze Sache mit ihr. Die soll von mir schon ihre Keile kriegen, darauf können Sie sich verlassen!«

»Aber Sam, das bringt Sie doch nur wieder in neue Schwierigkeiten. Sagen Sie uns doch den Namen. Fängt er nicht mit R an?«

»Woher soll ich das wissen?« brummte Sam. »Ich kann nicht mehr buchstabieren. Sie hieß Odette.«

»Rider?«

»Ja, so heißt sie. Sie war früher Kassiererin in Lynes Warenhaus.«

»Also nun beruhigen Sie sich einmal und erzählen Sie mir alles vernünftig hintereinander, was Ihnen Lyne über sie mitgeteilt hat.«

Sam Stay starrte ihn an, und plötzlich zuckte ein listiges Blitzen in seinen Augen auf.

»Wenn sie es war!« sagte er atemlos. »Wenn ich sie nur dafür bestrafen könnte!«

Nichts konnte die Geistesverfassung dieses Mannes besser kundtun als die Tatsache, daß er noch nie daran gedacht hatte, Odette Rider durch die Polizei fangen zu lassen. Das war ja ein ganz großartiger Gedanke. Wieder schaute er den Detektiv merkwürdig lächelnd an.

»Ich werde euch helfen«, sagte er schließlich. »Aber ich will es einem höheren Beamten sagen, nicht Ihnen!«

»Das ist auch ganz in Ordnung, Sam«, erwiderte der Detektiv freundlich. »Sie können es Mr. Tarling oder Mr. Whiteside berichten, die wissen auch besser Bescheid damit.«

Der Beamte rief einen Wagen an, und sie fuhren zusammen nicht nach Scotland Yard, sondern zu Tarlings kleinem Büro in der Bond Street. Tarling wartete hier mit Whiteside auf die Rückkehr des Beamten, den er ausgeschickt hatte, um Sam Stay zu holen.

Sam trat langsam in das Zimmer, schaute bedrückt vom einen zum andern, nickte dann beiden zu und lehnte den Stuhl ab, den man ihm anbot. Sein Kopf schmerzte, und seine Gedanken waren verwirrt, noch nie in seinem Leben hatte er sich so elend gefühlt. Er hörte merkwürdige Geräusche und ein Summen in den Ohren, das er nie wahrgenommen hatte, bevor er in diesen ruhigen stillen Raum kam und Tarlings klaren, durchdringenden Blick auf sich fühlte. Er erinnerte sich nicht mehr, diesen Mann früher schon gesehen zu haben.

»Nun, Stay«, begann Whiteside, der den Verbrecher von früher her gut kannte, »wir möchten gern von Ihnen hören, was Sie von diesem Mord wissen.«

Stay preßte die Lippen aufeinander und antwortete nicht.

»Setzen Sie sich doch«, sagte Tarling freundlich, und diesmal gehorchte Stay. »Nun, mein Lieber, ich habe erfahren, daß Sie ein Freund von Mr. Lyne waren.« Tarling konnte, wenn er jemand überreden wollte, so sanft und freundlich sprechen, wie man es ihm nie zugetraut hätte.

Sam nickte.

»Er war gegen Sie immer sehr gut, nicht wahr?«

»Sie sagen nur gut?« Sam atmete schwer und tief. »Ich hätte meinen letzten Tropfen Blut für ihn gegeben, um ihn vor Schmerz zu bewahren. Alles hätte ich für ihn getan! Wenn ich lüge, will ich gleich tot umsinken! Er war ein Engel in Menschengestalt. Mein Gott, wenn ich jemals dieses Mädchen erwische, drehe ich ihr das Genick um! Ich will ihr das Lebenslicht ausblasen! Ich werde nicht eher ruhen, bis ich sie in Stücke gerissen habe!«

Seine Stimme wurde immer lauter, Schaum stand vor seinem Mund, und sein ganzes Gesicht war von Haß verzerrt.

»Sie hat ihn bestohlen! Er hat sich um sie gesorgt, hat sie geschützt, und sie hat ihn belogen und in eine Falle gelockt!«

Er schrie auf und erhob sich, als ob er zu dem Schreibtisch gehen wollte. Seine beiden Fäuste waren geballt, und die Finger waren so krampfhaft ineinander verschlungen, daß seine Knöchel weiß wurden. Tarling sprang auf, denn er kannte diese Symptome. Aber bevor er noch ein Wort sprechen konnte, sank Sam in sich zusammen und fiel wie tot zu Boden.

Tarling war sofort neben dem Bewußtlosen und legte ihn auf den Rücken. Er hob ein Augenlid und betrachtete die Pupille.

»Ein epileptischer Anfall oder noch etwas Schlimmeres«, sagte er. »Es war zuviel für den armen Kerl – Whiteside, telefonieren Sie bitte nach einem Krankenwagen.«

»Soll ich ihm etwas Wasser geben?«

»Nein, er wird stundenlang nicht mehr zum Bewußtsein kommen, wenn er diesen Anfall überhaupt überlebt. Wenn Sam Stay etwas Belastendes über Odette Rider weiß, so wird er sein Wissen vielleicht ins Grab mitnehmen.«

Und im Innersten seines Herzens fühlte Tarling eine gewisse Genugtuung, daß der Mund dieses Mannes nicht anklagen konnte.


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