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15.

Die letzten Nebelschwaden waren verschwunden, als Tarling am nächsten Morgen aus dem Fenster seines Schlafzimmers schaute. Die Straßen waren voll von hellem Sonnenschein durchflutet, und eine warme schöne Frühlingsluft stimmte die geduldigen Londoner nach den dichten Winternebeln froh und heiter.

Tarling reckte sich und gähnte. Er freute sich seines Lebens. Dann kleidete er sich an und frühstückte. Ling Chu bediente ihn dabei.

Der Chinese stand in seinem blauseidenen Gewand hinter dem Stuhl seines Herrn, goß Tee ein und legte eine Zeitung auf die eine Seite des Tisches, die Briefe auf die andere. Tarling hatte schweigend gegessen.

»Ling Chu«, sagte er jetzt, »ich werde meinen Namen als Jäger der Menschen verlieren, denn dieser Fall gibt mir größere Rätsel auf als irgendein anderer.«

»Herr«, erwiderte der Chinese, »in allen diesen Fällen kommt ein Augenblick, in dem man fühlt, daß man eine Pause machen und sich auf sich selbst besinnen muß. Ich selbst hatte dieses Gefühl, als ich hinter Wu Fung her war, dem Würger von Hankau. Und doch habe ich ihn eines Tages gefunden, und er schläft jetzt in den Gefilden der Nacht«, setzte er mit philosophischer Ruhe hinzu.

Er benützte den schönen symbolischen Ausdruck, mit dem die Chinesen den Tod bezeichnen.

»Gestern habe ich die kleine junge Frau gefunden«, sagte Tarling nach einer Pause. Er meinte Odette Rider.

»Du magst die kleine junge Frau gefunden haben, aber damit hast du noch nicht den Mörder gefunden«, erwiderte Ling Chu, der an der Seite des Tisches stand und seine Hände respektvoll in den weiten Ärmeln verbarg. »Denn die kleine Frau hat den Mann mit dem weißen Gesicht nicht umgebracht.«

»Woher weißt du denn das?«

»Die kleine junge Frau hat nicht genug Kraft, Herr, auch hat sie nicht genügend Verstand, um einen schnellen Wagen zu fahren.«

»Meinst du damit ein Auto?« fragte Tarling schnell, und Ling Chu nickte.

»Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Natürlich, der Mörder Thronton Lynes muß ja auch das Auto zum Hydepark gefahren haben. Aber woher weißt du denn, daß sie das nicht kann?«

»Ich habe mich danach erkundigt«, sagte der Chinese einfach. »Viele Leute in dem großen Geschäft kennen die kleine junge Frau, und sie haben mir alle gesagt, daß sie es nicht kann.«

Tarling dachte eine Weile nach.

»Ja, das stimmt, die kleine junge Frau hat den Mann mit dem weißen Gesicht nicht getötet, denn sie war viele Meilen weit entfernt, als der Mord geschah. Es bleibt aber immer noch die Frage offen, wer es getan hat.«

»Das wird der Jäger der Menschen noch entdecken«, sagte Ling Chu zuversichtlich.

»Wir wollen sehen«, meinte Tarling.

Er kleidete sich an und ging nach Scotland Yard, wo er sich mit Whiteside verabredet hatte. Später wollte er Odette Rider in die Polizeidirektion begleiten. Als Tarling in das Büro trat, besah sich Whiteside gerade einen Gegenstand, der auf einem Stück Papier vor ihm lag und matt glänzte. Es war eine kurze automatische Pistole.

»Hallo!« rief Tarling interessiert. »Ist das die Waffe, mit der Thornton Lyne ermordet wurde?«

»Ja, wir haben sie in dem Nähkorb von Miss Rider gefunden«, erwiderte Whiteside.

»Die Pistole kommt mir so bekannt vor«, sagte Tarling und nahm die Waffe in die Hand. »Ist sie noch geladen?«

»Nein, ich habe alle Patronen und auch das Magazin entfernt.«

»Sie haben wahrscheinlich die Beschreibung der Pistole und ihre Fabriknummer schon allen Waffenschmieden bekanntgegeben?«

Whiteside nickte.

»Es wird zwar nicht viel nützen, denn es ist eine amerikanische Pistole, und wenn sie nicht in England gekauft worden ist, haben wir wenig Aussicht, den Besitzer festzustellen.«

Tarling betrachtete die Waffe von allen Seiten.

Als er den Handgriff der Pistole näher untersuchte, stieß er plötzlich einen Ausruf aus. Whiteside war auch aufmerksam geworden und entdeckte zwei tiefe Rillen, die quer über den Griff liefen.

»Was ist denn das?« fragte er.

»Es sieht so aus, als ob vor Jahren zwei Geschosse auf den Besitzer dieser Waffe abgefeuert worden wären, die aber nicht ihn, sondern nur den Pistolengriff trafen.«

Whiteside mußte lachen.

»Woher wollen Sie denn das wissen, Mr. Tarling?« fragte er. »Sind das Schlußfolgerungen?«

»Nein, das ist eine Tatsache. Die Pistole gehört nämlich mir!«


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