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36.

Odette Rider lehnte sich in den weichen Sitz des Autos zurück. Sie schloß die Augen, denn es kam plötzlich eine Schwäche über sie. Die Aufregungen und Anstrengungen der letzten Zeit waren zuviel für sie gewesen. Aber der Gedanke, daß Tarling sie brauchte, hatte ihr die Kraft gegeben, bis zu dem Auto zu gehen.

Die Fahrt ging durch endlos lange Straßen. Sie wußte nicht, in welcher Richtung, das war ihr in ihrem jetzigen Zustand auch gleichgültig. Sie hatte ja nicht einmal die genaue Lage des Krankenhauses erfahren. Einmal sah sie, als sie über eine belebte Straße fuhren, daß sich Leute nach dem Wagen umdrehten.

Nur dunkel kam ihr die Kühnheit des Chauffeurs zum Bewußtsein, der mit allen Schwierigkeiten des Verkehrs in erstaunlicher Weise fertig wurde. Erst als sie entdeckte, daß sie eine Landstraße entlangfuhren, schöpfte sie Verdacht, daß nicht alles in Ordnung sein könnte. Aber auch dann wurden ihre Zweifel wieder beseitigt, als sie an gewissen Anzeichen erkannte, daß sie sich auf der Straße nach Hertford befand.

Plötzlich hielt der Wagen an, fuhr rückwärts in einen Seitenweg und kehrte dann nach der Richtung um, von wo er gekommen war. Kurz darauf hielten sie an. Sam Stay schaltete den Motor aus und zog die Bremse an.

»Komm 'raus«, sagte er mit rauher Stimme.

»Was – was?« begann das entsetzte Mädchen. Doch bevor sie weitersprechen konnte, hatte er sie schon bei der Hand ergriffen und zog sie so heftig heraus, so daß sie auf der Straße niederfiel.

»Wie – du kennst mich nicht?« Er packte sie wild an den Schultern, daß sie vor Schmerzen fast laut aufgeschrien hätte. Sie lag nun auf den Knien und bemühte sich vergeblich aufzustehen.

»Ich erkenne Sie wieder«, sagte sie atemlos. »Sie sind der Mann, der versuchte, in meine Wohnung einzubrechen!«

Er grinste.

»Ich kenne dich auch –«, lachte er rauh. »Du bist das schreckliche, teuflische Geschöpf, das ihm aufgelauert hat – diesem besten Menschen in der Welt! Er liegt jetzt in dem Gewölbe auf dem Friedhof von Highgate – die Türen an dem Grabgewölbe sind gerade wie Kirchentüren – dort will ich dich heute nacht hinbringen – du verdammte Kreatur!«

Er hatte sie an den Handgelenken gepackt und schaute ihr ins Gesicht. Es lag so etwas Wildes, Gemeines, Unmenschliches in diesen von Wahnsinn lodernden Augen des Geisteskranken, daß sie vor Furcht keinen Laut mehr hervorbringen konnte.

»Was, ohnmächtig? Das ist noch zu früh!« rief er heiser.

Er ließ sie in das Gras gleiten, das auf der Seite des Weges stand, zog einen Gepäckriemen heraus, den er unter seinem Sitz verwahrt hatte, und fesselte ihre Hände. Dann nahm er das Halstuch, das sie trug, und band es um ihren Mund.

Endlich packte er sie, hob sie auf und legte sie in eine Ecke des Wagens. Nachdem er die Tür zugeworfen hatte, setzte er sich auf den Führersitz zurück und fuhr mit voller Geschwindigkeit nach London. Als sie die Grenze von Hampstead erreichten, sah er ein Lichtsignal an einem Zigarrenladen. Er hielt den Wagen gleich darauf an, als er den dunkelsten Teil der Straße erreicht hatte. Er schaute schnell in das Innere – das Mädchen war von dem Sitz auf den Boden herabgeglitten und lag regungslos dort.

Dann eilte er in den Zigarrenladen, an dem er das Lichtsignal einer öffentlichen Fernsprechzelle gesehen hatte. Es war ihm plötzlich in seinem verworrenen Gehirn der Gedanke gekommen, daß er sich noch an einem anderen rächen könnte, an diesem furchtbar dreinschauenden Kerl, der ihn verhört hatte, als er den Zusammenbruch hatte – Tarling! Ja, das war sein Name! Er blätterte in dem neuen Telefonbuch und fand die Nummer, die er suchte.

Er hängte den Hörer wieder an und trat aus der kleinen Zelle heraus. Der Ladeninhaber, der seine harte, schrille Stimme gehört hatte, sah ihm argwöhnisch nach. Aber Sam Stay war das alles ganz gleich. Er lief zu seinem Wagen zurück, sprang auf seinen Sitz und fuhr weiter.

Zum Kirchhof von Highgate! Dieser Gedanke hatte ihm immer vorgeschwebt. Die Haupttore würden geschlossen sein, aber er konnte seinen Plan trotzdem ausführen. Vielleicht wäre es besser, wenn er sie zuerst umbrächte und dann über die Mauer schaffte? Aber es würde eine viel größere Rache sein, wenn er sie in den Friedhof zerrte und lebend zu dem Toten in das kalte, feuchte Grabgewölbe hinunterstieß.

Er stieß einen Schrei aus und sang irgendein häßliches Lied, so freute er sich bei dieser Vorstellung. Fußgänger, an denen der Wagen vorüberfuhr, drehten sich erstaunt um, aber Sam Stay war glücklich, so glücklich wie vorher niemals in seinem Leben. Aber der Friedhof von Highgate war geschlossen. Die düsteren Eisentore versperrten den Zugang, und die Mauern waren sehr hoch. Diese Stelle gefiel ihm nicht, denn ringsherum standen Wohnhäuser. Er suchte lange, bis er einen geeigneten Platz fand, an dem die Mauern niedriger waren. Niemand war in der Nähe, und er brauchte nicht zu fürchten, daß er gestört werden würde. Er schaute in den Wagen hinein und sah eine zusammengekauerte Gestalt auf dem Boden liegen. Sie war also noch bewußtlos.

Er fuhr dicht an die Kirchhofsmauer heran, trat an den Wagenschlag und riß ihn auf.

»Komm heraus!« schrie er wütend. Er streckte seine Hand aus, aber plötzlich sprang jemand aus dem Innern des Wagens und warf sich mit aller Kraft auf ihn, packte ihn an der Kehle und drückte ihn gegen die Mauer.

Stay kämpfte mit der Kraft und dem Mut eines Wahnsinnigen, doch vergeblich suchte er sich dem festen Griff Ling Chus zu entwinden, dessen Hände sich wie Stahl um seine Kehle schlossen.


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