Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

V.

Ich blieb bei ihm und ich durfte wiederkommen – jeden Tag! Er sagte in seiner strengen und trotzigen Art:

»Wenn Du das Fieber bekommst, so geschieht Dir recht, denn warum hast Du mich lieb! Ueberhaupt – was hast Du mich lieb zu haben?!«

Er that, als spräche er im Ernst. Warum ich ihn lieb hatte, wußte ich freilich nicht. Ich konnte eben nicht anders.

Seine Mutter war so arm, daß er nicht in die Betschul gehen konnte – eine andere Schule hatte man zu jener Zeit für die Ebräer nicht – sondern er mußte, trotz seines Siechtums, seiner Mutter Tag für Tag bei ihren Lumpen helfen. Da erzählte ich ihm denn alles, was ich sah und hörte, seitdem ich unsere heilige Schule besuchte, was bereits seit einiger Zeit geschah – seit meinem dreizehnten Jahre. Jetzt schämte ich mich, weil ich sowohl in irdischen wie in himmlischen Dingen gar so unwissend war. Denn mein Mose wußte mehr als ich, und ihn hatte niemand etwas gelehrt. Es brauchte ihn auch niemand etwas zu lehren; es war alles in ihm. Er belehrte mich und machte, daß ich über vieles nachdachte. Er legte mir alles aus. Alsdann meinte er aber doch: »Du mußt ein großer Talmudist werden und dem Volke die Bücher der Weisheit auslegen und das Volk frei machen von seiner Knechtschaft durch Deine Lehre.« Das verstand ich nicht. Ich mußte ihn ansehen, wie er zu mir sprach gleich der Erzengel einem. Was für Dinge er bei seinen Lumpen bedachte! »Siehe,« so sprach er zu mir, »dieser Fetzen ist aus dem Kleide eines Kardinals und dieses hat einst eine große christliche Dame als Schleier getragen. Nun liegen sie bei den Lumpen, welche Bettler und wir stinkenden Juden am Leibe gehabt haben: also werden wir dermaleinst vor Gott alle gleich sein.«

Ich erkenne nun, welche teuflische Irrlehre das war; dieweilen niemals Christen und Juden – niemals Gerechte und Ungerechte vor das Antlitz des Herrn kommen können; sondern es ist und bleibt der Jude verdammt zum ewigen Tode, von dem der Christ aufersteht zur ewigen Seligkeit.

Meine Eltern wußten um meine Liebe zu dem Knaben der armen Witib und sie willfahrten mir darin, achteten auch nicht der bösen Luft in der Via Fiumara, sondern sprachen: »Der Herr wird ihn behüten, daß er uns nicht zu Schaden komme. Wir stellen unsern Sohn in die Obhut des Herrn.« Also waren meine Eltern – ich bleibe des Fluches stets eingedenk – gar fromme Leute; nur daß sie einem falschen Glauben ergeben und ihnen daher alle Frömmigkeit nichts helfen wird. Ja, je inbrünstiger sie ihren Gott anbeten, desto verworfener und schändlicher sind sie vor den Augen meines Herrn. Ach, diese Kümmernisse um das Seelenheil meiner Eltern und aller Ebräer sind Dinge, um derentwillen ich mir den Kopf einstoßen möchte am ersten besten Stein. Gott führe mich nicht in Versuchung.

Mit unsäglicher Trauer gewahrte ich gar bald in dem Herzen meines Mose einen wilden und ganz schrecklichen Haß gegen die Christen. Doch war diese Wut nicht gegen ihren Gott und dessen Sohn gerichtet, den er, so glaube ich, hoch und heilig hielt, sondern vielmehr wider die Priester dieser Gottheiten und die Gemeinden der Priester. Er schmähte jene falsche Verkündiger Gottes und schändliche Ausleger seines allergöttlichsten Wortes. Und es fuhr seine Rede dahin wie eine Flamme im Sturm, daß ich in großen Aengsten bei ihm saß. Also suchte er mich in seinem Hasse gegen die Gemeinde der Christen zu belehren; ich war aber ein grober Schüler, der seinen Meister nicht begriff, wofür ich nunmehr dem Himmel alle Tage heißen Dank sage.

Einmal geschah es, daß seine Mutter schwer krank darniederlag. Ach, wie war da mein Mose voll Jammers und Geschrei wider den Herrn. Es waren wiederum die Christen und die jüdische Knechtschaft, wogegen er seine Stimme erhob. Was mußte ich da erfahren von der Seele meines Mose! Und wie er in seiner Seele unablässig auf Rache sann, er, der doch noch ein Knabe war! Er hatte auch die Rache schon ausgesonnen: für das ganze Volk Israel, an dem ganzen Volke der Christen.

»Sie sperren uns ein und werfen uns ihre Lumpen vor wie den Hunden Knochen und Abfall. Wir aber sitzen in unseren Ställen und machen uns ihre Lumpen zu Gold. Jeder Haufen stinkender Fetzen, den Du hier siehst, ist ein Haufen köstlichen Goldes. Das Gold tragen wir aus unseren Höhlen in die Paläste der Christen. Wir bringen ihnen unsere Schätze; wir bringen sie ihnen in tiefer Demut, mit gebeugtem Rücken, den Boden küssend, den ihr Fuß tritt. Aber in unserer Seele ist ein großes Jubeln und Frohlocken. Denn unsere Feinde nehmen aus unseren Händen unser Gold; Kaiser und Papst, Fürst und Edelmann nehmen es. Sie speien dem Juden ins Gesicht, sie sprechen: ›Pfui, der stinkende Jud!‹ Aber sie nehmen sein Geld und übergeben sich damit seiner Rache. Und ich sage Dir: es wird auf Erden eine zweite Sintflut kommen: Gold! Gold! Gold! Es werden die Juden die Erde überschwemmen mit Gold, daß die Christen darin untergehen, und es wird ein schreckliches, aber gerechtes Gericht gehalten werden; erachten die Christen die Juden gleich wilden Tieren, so werden die Juden wilde Tiere sein und die Christen zerreißen.«

Also sprach Mose, mein Freund, und ich weinte um ihn.

Aber je trauriger ich ward in meinem Gemüte um Mose, meinen lieben Bruder, um so wilder schrie dieser seinen Haß gegen die Christen in mich hinein, so daß ich umherging, die Seele gleichsam voller Posaunen, welche wider die Christen schmetterten. Doch sie vermochten nichts in mir zu wecken, als eitel Leid. In dieser Zeit geschah es, daß eines Sabbaths im Frühling mein Mose zu mir sprach:

»Laß uns in die römische Stadt gehen, woselbst die Christen ihr Frühlingsfest begehen. Sehen wir zu, wie sie guter Dinge sind, auf daß auch wir unsere Freude daran haben.«

Wie ich da fröhlich ward in meinem Herzen, weil Mose auch einmal die Freude der Kreatur sehen wollte. Wir gingen also. Aber es war mein Mose gar elend an seinem Leibe, die Füße dick geschwollen vom beständigen Sitzen unter den feuchten Lumpen, in dem moderigen Loche. Er hatte auch wieder das Fieber, so daß er sich kaum schleppen konnte und ich ihn beim Arm fassen mußte, damit er nicht hinfalle. Ich bat ihn daher herzlich, bei seiner Mutter zu bleiben; aber er wollte nicht, lachte mich aus und ließ meinen Arm fahren. Wir kamen zuerst an den Ort im Ghetto, den man den Hellen der Oktavia nennt. Es hat daselbst einstmals ein Tempel der heidnischen Römer gestanden; davon sind bis auf den heutigen Tag herrliche Säulen und Hallen bewahrt geblieben, welche in Unrat und Kot stecken; ein greulicher Gestank von Fisch, der nahebei in einer Gasse aus Steintischen zum Verkaufe ausgelegt wird, herrscht daselbst. Auf diesen Ort weisend, sagte mein Mose:

»O Dahiel, hier ist eine Stätte großer Trübsal für unser Volk; denn hier hat es sich begeben, daß die Römerkaiser Vespasianus und Titus, von denen Du mir erzählt aus der Schul, einen grausamen Triumph über unser gefangenes und in Knechtschaft geführtes Volk gehalten haben. Und ich weiß von meinem Vater Elia, der es gehört hat von seinem Vater Samuel, daß an dieser Stätte der Schmach Israels bei den römischen Kaisern ein jüdischer Mann, Flavius Josephus, gestanden ist, welcher mit den Feldherren der Unterwerfung seines Volkes zugeschaut, auch alles aufgezeichnet hat, wie es zugegangen, da das Römervolk Israel die Stirn brannte mit dem schändlichen Merkmal. Waren der Feinde Israels tausend und abertausend, alle prächtig gekleidet und die Häupter umkränzt. Jeder gemeine Mann, der geholfen, unser Volk in den Staub niederzutreten, hat ein seiden Hemd getragen und war mit Lorbeer geschmückt wie ein Feldherr und Kaiser. Und es war da ein Glanz von Gold, heller als die Sonne; es waren da der Perlen und Edelsteine wie Sand am Meer und des Purpurs eine solche Menge, daß man damit die ganze römische Stadt und alle sieben Hügel hätte bedecken können. Auch die gefangenen Juden sind einhergezogen zu aber und abertausenden, behängt mit Gold und köstlichem Gestein, und es ist solches geschehen, damit die Römer nicht Aergernis nähmen an dem Anblick ihrer Leiber, die siech waren durch Gebresten und schrecklich anzusehen durch das Elend der Knechtschaft. Bei diesem Triumphzug wurde den Römern vorgeführt, wie es zugegangen in der Schlacht wider die Juden, also deutlich und wirklich, daß die Zuschauer es sehen konnten, als hätten sie mitgeholfen, Israel zu verderben. Es hat das Volk in dem Zuge die Schlachtreihen der Römer und Juden erblickt, den ganzen Kampf, Fliehende und Gefangene, Sterbende und Tote; wie auch die Felder der Juden zu sehen waren, verheert und zerstampft, die Städte der Juden, zerstört und im Brand auflodernd, der Juden Tempel, geplündert und beraubt. Zu sehen waren ferner: alle ihre Heiligtümer, hinweggeführt aus ihren Tempeln, viele Schiffe, angefüllt mit köstlicher jüdischer Beute, darunter Weiber und Kinder. Und als die Römer den ganzen Tag geschaut, also, daß viele tot hinsanken vor Ermattung, da wurden die Tempelgefässe aus Jerusalem herbeigebracht: der goldene Tisch, der Leuchter und die Bundeslade mit den Gesetzen. Es erhoben die Römer ein großes Siegesgeschrei und des Jubels ist kein Ende gewesen. So sind sie auf ihren heiligen Berg Capitolinus gezogen, daselbst sie ihren Göttern geopfert und viele der gefangenen Juden getötet haben; alle Fürsten und Feldherren und was sonst vornehm war, auch Weiber und Kinder. Alle wurden sie zuvor mit Ruten gepeitscht, dann erdrosselt und vom Felsen gestürzt. Solchermaßen haben die, welche heute Christen sind, an unserem Volk gethan. Das merke Dir wohl.«

Darauf gehen wir weiter und gelangen an eine Stätte, Berg Giordano geheißen. Hier bleibt mein Mose stehen, deutet auf den Platz, sieht mich an mit seinen brennenden Augen und spricht:

»An diesem Ort sind die Juden zur Schau gestanden vor allem Volk, jedesmal wenn den Christen ein neuer Oberpriester gegeben worden und sie dem Mann, den sie den Stellvertreter Gottes auf Erden nennen, in ihrer Stadt den Triumph bereiteten. Es standen an diesem Platze die Vornehmsten und Aeltesten unseres heiligen Volkes, auf den harrend, der über ihr Leben Macht besaß, wie Jehovah, der Herr. Sie trugen den Pentateuch, bedeckt mit einem Schleier, und warteten auf den Göttlichen unter Zittern und Zagen. Und mit ihnen warteten viele Christen, sich der Schmach der Juden zu freuen, sie laut zu verhöhnen und anzuspeien, die Männer sowohl wie ihr Heiligtum. Die Ebräer trugen hohe gelbe Mützen, damit sie schon von weitem allen kenntlich seien durch das leuchtende Schandzeichen und jeder Christ ihnen ausweichen könne: ›Sehet da, ein stinkender Jude!‹ Es kam der Erwählte. Vor diesem warf sich unser Volk in den Staub wie vor Jehovah, dem Herrn, und der Oberrabbiner reichte dem Papst die Gesetzesrolle. Darin las der heilige Christ, las und sprach: ›Wir bestätigen das Gesetz, aber das jüdische Volk verdammen wir.‹ Sprach's und ritt davon, und mochte jeder thun mit den verdammten Juden, was ihm gefiel. Also ist es viele hundert Jahre gewesen. Das merke Dir wohl.«

Wir gingen weiter. Mein Mose ward vom Fieber geschüttelt; aber wenn ich um ihn zu jammern anhub, schaute er mich an, als wollte er mir die Seele versengen, daß ich ganz stille ward und nur im Herzen über die Not unseres Volkes in der römischen Knechtschaft und über Mose, meinen lieben Bruder, wehklagte. Ich hätte gern die Christen grimmig gehaßt, konnte sie aber nicht hassen, und schämte mich, daß ich ein solcher falscher und schändlicher Jude sei und flehte zu Gott, mich im Haß wider unsere Feinde zu unterrichten, damit ich meinem lieben Bruder ähnlich würde. Ich lebte demnach in der Hoffnung, das Gnadengeschenk des Hasses vom Himmel zu empfangen wie eine Blume den Tau; also war ich zu jener Zeit mit Blindheit geschlagen, was mir noch alles zu büßen und abzubeten bleibt in schwerer Pönitenz.

Wir gelangten zu einem dritten Platz, dem Platz bei der Minerva. Daselbst steht ein wunderlich heidnisches Ding: ein Elefant mit einem hohen, spitzen Stein auf dem Rücken, und nahe dabei liegt ein gar herrliches Haus mit vielen gewaltigen Säulen und einem überaus hohen Kuppeldache, in der Sonne gleißend wie eitel Gold. Ach, und wiederum sprach mein Mose in wildem Haß: »Betrachte auch diese Stätte, wo der Jammer Israels aufstieg zum Himmel in feurigen Rauchsäulen unter Gewimmer und Gestöhn. Denn hier, mein Dahiel, haben sie unser Volk gebrannt zu Tausenden ihrem Gott zu Ehren: Greise, Weiber und Kinder. Also haben die Christen an unserem Volke gethan. Das merke Dir wohl.«

Ich schrie laut auf und sprach unter Thränen:

»O Mose, Mose, es ist gewißlich nicht wahr, was Du da sagst! Gehst Du doch nicht in unsere Schul und weißt nichts von Gelehrsamkeit. Wie willst Du solches wissen können?«

Er erwiderte:

»Um solches zu wissen, brauche ich keine Schul und Gelehrsamkeit; solches schreien in Rom die Steine den Juden zu; Du wirst es auch noch vernehmen. Wenig weiß ich von den Dingen der Erde, aber was den Juden von den Christen geschehen und was sie erduldet und gelitten haben von den Christen, darüber besitze ich große Weisheit und darin will ich Dir Lehren geben, auf daß Dein Geist erfüllt werde von meinem Geiste. Es ist alles wahr und geschehen, wie ich Dir gesagt habe, und es ist erst ein Tropfen aus dem Meere der Thränen und Trübsal Israels. Das glaube mir.«

Wehe uns, daß wir weiter gingen!

Wie ich berichtet habe, feierten die Christen ein großes Fest. Dieses ist, wie ich jetzt weiß, kein frommes und Gott willkommenes Freuen, sondern eine gänzlich heidnische und dem Teufel wohlgefällige Feier, so den Namen Carnevalis führt. Es war, als sei die ganze Stadt vom bösen Feinde besessen. Schon als wir unsern Ghetto verlassen hatten, waren uns bei dem Bogen der Oktavia viele Satansfratzen entgegengesprungen, böses Gesindel in weißen Hemden und am ganzen Leibe mit Schellen behangen, zuchtlose Weiber in hochgeschürzten bunten Röcken, die Haare gelöst und Blumen oder Eppich darein gewunden. Diese Satansbräute schwangen die Teufelsmusika, Tambourin geheißen, und entblödeten sich nicht, auf offener Gasse mit den Männern schamlose Tänze aufzuführen. Es tönte die Stadt vom Geschrei und Gekreisch, wie es in einem Narrenhause zugehen mag, so daß es mir davon wüst und wirr zu Sinn wurde. Auch auf dem Platze, wo die Juden gebrannt worden, gab es viel wilden Volkes, johlend und sinnlos das Elefantentier umspringend, als wäre dieses das goldene Kalb. Ich fürchtete mich sehr und wäre gern wieder im Ghetto gewesen bei meinen lieben Eltern; aber mein Mose war besessen von einem wilden Geist, der ihn weiter führte und weiter, und mich mit ihm.

Je näher wir dem Orte kamen, der eine mächtig lange, schnurgerade Straße ist, Corso benannt, desto gewaltiger wuchs der Lärm der Larven und vom Teufel Besessenen, also daß ich vermeinte, wir würden beide erdrückt. Viel Volk war in den Fenstern zu sehen, aus denen prächtige rote Decken herabhingen, Teppiche, mit Silber und Gold ausgeziert. In den Fenstern und auf den Balkonen waren die Weiber und Töchter der Christen in göttlicher – wollte sagen satanischer Schönheit; viele herrlich gekleidet, mit Perlen und Edelgesteinen um den leuchtenden Hals. Auf der Gasse fuhren gewaltige Wagen, mit Pferden und Rindern bespannt, mit bunten Tapeten behangen und mit Blumen überschüttet, darauf geputztes Volk, wie man es sich gar nicht denken kann, wohl aus fremden Ländern und Weltteilen.

Wir standen nahe der christlichen Kirche San Carlo und es mochte um die dreiundzwanzigste Stunde sein, das ist eine Stunde vor Untergang der Sonne. Um diese Stunde mußten alle Wagen aus der Gasse weichen und zu beiden Seiten standen die Römer in solchen Mengen, daß kein Apfel zur Erde hätte fallen können; alles war dicht von schauendem Volk besetzt und gleich einer großen Erwartung lag es über der Menge. Mose stand neben mir; ich fühlte, wie ein Zittern durch seinen armen, kranken Leib ging und sprach:

»Das Fieber hat Dich wieder gepackt. Laß uns nach Hause gehen zu Deiner Mutter, die in Sorgen um ihren lieben Sohn ist.«

Doch er wollte nicht und erwiderte:

»Gleich wirst Du dieses Volk jauchzen und schreien hören und gleich werde ich Dir sagen, was an dieser Stätte geschehen, viele hundert Jahre fast bis auf den heutigen Tag. Das höre wohl an und das merke Dir wohl; denn solches haben die Christen an unserem Volk gethan.«

Er hatte kaum gesprochen, als rings um uns ein greulich Schieben und Drängen, ein Gepfeif und Geheul entstand, als sei die Hölle losgekommen; zugleich vernahm ich ein Getrappel und Gestampf wie von einem Heer böser Geister. Und vom Platze des Volkes her kam eine Herde Pferde angerast, den Leib mit Flittern bedeckt und seidene Bänder in die Mähnen und Schweife verflochten, desgleichen Blumen und Silber. Alles Volk schrie die Tiere an, davon diese wie toll wurden und die lange Gasse hinunter sprengten dem venetianischen Palast zu, als hätten sie eine Schar Dämonen hinter sich, wie denn auch das Volk sich als solche geberdete, nicht minder die schönen, reichgeschmückten Frauen an den Fenstern und auf den Balkonen. Ich glaubte nicht anders, als daß mein letztes Stündlein gekommen sei, und umfaßte meinen Mose, mit dem zusammen ich meinen Geist aufgeben wollte. Der aber drängte mich von sich und rief mit einer Stimme, wie ich zuvor niemals aus seinem Munde vernommen, und es war, als käme der Geist Gottes über den Knaben:

»Wie jetzt diese Pferde, so sind viele hundert Jahre in dieser Gasse zur Lust der Christen die Juden gelaufen: Greise, Jünglinge, Kinder. Wie jetzt diese Pferde, so wurden viele hundert Jahre die Ebräer von den Christen mit Heulen und Pfeifen gehetzt, bis sie auf der Gasse unter dem Gelächter der Christen hinfielen und viele von den jüdischen Bestien sind nicht mehr aufgestanden. Das merke Dir, Dahiel, Du Jude, auf daß wachse in Dir und groß werde der Haß gegen die Schinder und Henker unseres heiligen Volkes.«

Es war Gottes Wille, daß viele Christen meinen Mose also reden hörten. Selbige waren trunken von Wein und Teufelslust und wußten nicht, was sie thaten. Sie schrieen: »Der Judenknabe soll laufen!«, warfen sich auf ihn und rissen ihm die Kleider vom Leibe; zumalen thaten die Weiber so schamlos. Ich hielt meinen Mose eng umfangen; also, daß sie auch mir die Kleider abrissen, mich stießen und mir großen Schmerz zufügten. Da warf ich mich nieder in den Staub der Gasse und bat sie mit aufgehobenen Händen, meines Mose Leben zu schonen: er sei krank von Fieber und ganz ermattet. Doch sie heulten – zumalen die Weiber – daß der Judenknabe laufen müsse, denn er habe sie geschimpft und Schinder und Henker geheißen.

So wollten sie ihn denn schinden. Ich aber flehte sie an, mich statt seiner zu nehmen. Und sie riefen:

»Du sollst auch laufen, Jud!«

Mein Mose stand da, bis zu den Lenden entblößt – wie auch ich war – und hatte einen Schein in seinem Gesicht, als sollte er in die Glückseligkeit eingehen. Ich habe einen solchen Glanz nur noch auf den Gesichtern der gemalten christlichen Märtyrer und Heiligen geschaut. – Da faßte ich meines Mose Hand und wir liefen vor den Christen.

Wir liefen die lange Gasse hinunter, dem venetianischen Palast zu, den nämlichen Weg, den die wütenden Rosse genommen. Und wie hinter den Pferden her, also hinter uns höllisches Pfeifen und Heulen. Auch spieen sie uns an, bewarfen uns mit Kot, schlugen nach uns und beschimpften uns. Es hat mir indessen von alledem nichts Schmerzen bereitet, weil ich immer nur an meinen Mose dachte und daß mein Mose nun sterben würde. Plötzlich freute ich mich, daß ich auch nicht am Leben bleiben würde, und dachte dabei weder an Vater noch an Mutter. Auch das weiß ich noch, daß ich gar keinen Haß wider unsere Schinder und Mörder zu empfinden vermochte, sondern nur Trauer, daß solcher Haß möglich sei auf der Welt.

Aber alsdann habe ich alle Gedanken verloren und bin hingefallen, vermeinend, meine Seele auszuhauchen.

Herr, Herr, Herr, warum hast du mich in jener Stunde nicht vom Leben erlöset?!

.


 << zurück weiter >>