Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Hanne Badekow war eingeschlafen. In ihrem Lehnstuhl; auf ihrem Platz am Fenster.
Mieke war singend hereingetappt; sie war sehr vergnügt, Schwager Hirsekorn, der am Abend zuvor dagewesen war, weil die Mutter einen Schwindel bekommen hatte und Atemnot, hatte ihr gesagt, daß, wenn die Puppe erst da wäre, auf die sie jetzt lauerten, sie recht oft zum Besuch zu ihnen kommen sollte. Schwager Hirsekorn war doch der netteste von allen, und die Marianne war auch sehr nett. »Mutter«, schrie Mieke, »weißte was? Wenn erst wieder Kornblumen sind, denn mach ich denen 'nen jroßen Kranz – oder ob ich ihm lieber Staublappen stricke? Was meinste, Mutter?«
Sie hatte keine Antwort bekommen.
»Ein seliges Ende«, sagte Doktor Hirsekorn und beugte sich über das frische Gesicht mit den sanft geschlossenen Augen. »Sie hat den Tod und seine Schrecken nicht gefühlt. Möge es uns auch mal so gehen!« Die anderen weinten laut. – –
Und nun war Hanne Badekow begraben. Das Erbbegräbnis der Badekows war voll, sie hatte die letzte Stelle bekommen.
Die Trauerglocken waren verstummt, aber im Trauerhaus waren die Leidtragenden noch versammelt. Es war eine große Beteiligung gewesen. Die Fernerstehenden hatten sich nun verabschiedet, nachdem sie noch ein Gläschen von dem stärkenden Wein genommen hatten, den Mieke präsentierte. Man konnte etwas Erwärmendes gebrauchen, es war noch immer wie Winter, obgleich im Kalender Frühlingsanfang stand. Ein schweres Jahr – aber es mußte ja nun bald wieder grün und auch wieder besser werden!
Grete, die hochroten Wangen heute noch röter, im langen, schleppenden Trauerkreppkleid und schwarzer Jettkette, lud die Geschwister ein, drüben bei ihnen einen Löffel Suppe zu nehmen. Ein Duft von Hammelbraten und gedämpftem Rotkohl zog schon durch das Haus.
»Ach, ich kann ja doch nich essen«, schluchzte Lene. »Ich will lieber hier bleiben, hier in Mutterns Zimmer!«
»Na, na!« Gottfried klopfte seiner Frau auf den Rücken. »Komm du man mit. Versuch man, du wirst schon können. Es is jar nich nach Mutterns Sinn, det de nu immerlos trauerst un det Nächstliegende verjißt!«
Ja, Gottfried hatte recht, es half nichts, man mußte essen, man war sowieso in all der Aufregung der letzten Tage und der Unruhe, die ein Trauerfall mit sich bringt, kaum zum Essen gekommen.
Grete hatte eine lange Tafel gedeckt, das Zimmer reichte kaum aus. Daran saßen sie nun alle. Obenan Johann, als der Älteste; neben ihm auf der einen Seite Marianne und ihr Mann, auf der anderen Seite die Schwägerin Julie aus Britz und Jakob. Die anderen reihten sich an. Unten bei den Kindern saß Mieke.
Es war eine ganze Schar Kinder da, außer Johanns Zwillingen und den zwei Lietzows die fünf Ältesten von Jakob und Julie. Die Kinder waren nicht traurig: Großmutter war tot, es war alles so merkwürdig! Sie aßen und tranken und ließen sich's wohl sein. Aber auch die Erwachsenen aßen und tranken.
»Wir sind Menschen«, sagte der Doktor, »wir brauchen uns deß nicht zu schämen – ja, danke, ich nehme noch 'n Stück Braten – unsere liebe Mutter war die allererste, Mensch zu sein. So ein richtiger Vollmensch, mit all dem, was einen Menschen liebenswert macht und den anderen verständlich …!«
Sie sahen ihn etwas verwundert an, so recht begriffen sie nicht, was er eigentlich damit meinte. Aber Marianne faßte unterm Tisch nach seiner Hand, sie fühlte, er hatte lieb von ihrer Mutter gesprochen.
Lene führte wieder das Taschentuch an die Augen.
Gottfried nahm sein Glas und stieß es leise an das des Doktors: »Wat Sie da sagen von ›liebenswert‹, det is wahr. Die Olle war 'ne Frau, ick hab keine famosere jekannt. Wat hatte se für'n Docht! Wir beide sind ausgezeichnet mit 'nander ausjekommen. Ick wer' ihr sehr vermissen!«
Das würden sie alle. Man hatte sich bei ihr immer zu Hause gefühlt, und mit allem hatte man zu ihr kommen können. Nun stand man auf einmal so allein da, so – so – man wußte nicht, wie.
Johann saß verlegen obenan, er fühlte, es war an ihm, er hätte jetzt eigentlich sagen müssen: ich werde die Familie zusammenhalten. Er räusperte sich auch schon dazu, aber dann schluckte er es wieder herunter: Grete und er hatten doch die Absicht, fortzuziehen, der Söhne wegen nach Berlin hinein, und hier zu verkaufen – wer weiß, wie dann alles kam! Ein Gefühl der Unsicherheit lastete auf ihm, er seufzte aus Herzensgrund. Was wohl die Mutter dazu sagen würde?!
Johanns lautem Seufzer folgte ein Schweigen. Sie seufzten alle, bis der Pudding aufgetragen wurde, ein Pudding, wie ihn Grete sonst nur zu großen Festen bereitete, mit viel Mandeln, viel Rosinen, viel Korinthen, viel Zitronat und einer geschlagenen Weinsauce dazu.
Lene sah es mit einer kleinen Eifersucht: die geborene Schellnack konnte auch gut kochen! Sie bat um das Puddingrezept. Wenn er Gottfried denn so gut schmeckte!
Es schmeckte allen ausgezeichnet. Es war gut, daß Grete noch für einen zweiten gesorgt hatte, der erste reichte nicht weit.
Nur Auguste konnte nicht essen. Sie fühlte von allen den Tod der Mutter am schmerzlichsten. Ach, und sie hatte einmal gedacht, dann käme sie wieder zu ihrem Glück! Wie hatte sie nur so etwas Schreckliches denken können?! Jetzt war sie erst recht unglücklich. Paschke war in Amerika, die Scheidung eingeleitet, und sie hatte nun niemanden mehr, bei dem sie sich ausweinen konnte. Eine bittere Sehnsucht stieg auf in ihr nach der alten Frau: könnte sie die doch wieder lebendig machen! Wie anders sollte es dann sein! Die Geschwister waren verheiratet, gingen alle ihre eigenen Wege, Mieke war nicht zu zählen, sie blieb einsam zurück!
Die geschiedene Frau senkte tief den Kopf, eine schwere Träne nach der andern sickerte still über ihre blassen Wangen.
Da beugte sich jemand über sie. Marianne war hinter ihren Stuhl getreten: »Ach, Guste, sitz nich so da, komm, rutsch 'n bißchen zu uns rauf!«
Auguste schüttelte den Kopf. »Laß mich nur«, sagte sie bitter, mühsam ein Schluchzen unterdrückend. »Ich bleibe ja doch alleine. Ich bin ja doch nur da, um die Gräber zu begießen!«
Ein Ausdruck des Mitleids verschönte Mariannes Gesicht, sie legte ihre Hand fest auf die Schulter der Schwester: »Komm man, komm! Ich will es nich haben, daß du so dasitzt und grübelst. Friedrich«, rief sie ihrem Manne zu, »rück 'n bißchen, laß Auguste mal zwischen uns!« Sie zog die Schwester an der Hand mit oben an den Tisch.
»Ja, ja, Jannchen«, sagte Jakob da plötzlich, als er das blasse Gesicht Augustens sich gegenüber sah, »wenn wir dich nich hätten!« Er hob sein Glas gegen die Doktorin, führte es an den Mund und grüßte sie dabei mit den Augen. Sagen konnte er nicht viel. Nicht, daß er sich vor Julie gescheut hätte, aber es schwoll ihm etwas in der Kehle. Er sah von der Seite seine Frau an: die war ganz vergnügt, man konnte es ja auch nicht verlangen, daß der Tod der Schwiegermutter ihr sonderlich nahe ging – ihr Vergnügtsein hatte auch gar nichts verletzendes, es war mehr ein beruhigtes Zufriedensein. Und dann sah er hinunter zu seinen Kindern: denen hatte das halbe Jahr Britz auch schon gut getan, sie waren andere Pflanzen geworden! Er sah wieder zu seiner Schwester hin und hatte soviel Dank im Blick, daß sie errötete.
Sie nickte ihm zu: »Ihr fühlt euch wohl in Britz, ja? Na, das is ja schön!«
Er blickte sie, wie in Gedanken verloren, eine Weile starr an, dann sagte er, plötzlich aufstrahlend: »Ich habe nämlich 'ne famose Idee. Ich werde Rosen ziehen, Rosen en gros!«
»Ach was!« Johann schüttelte den Kopf: wieder so ein Plan, der nicht Hand und Fuß hatte!
Aber Hirsekorn nickte mit einem glücklichen Lächeln, seine Frau dabei ansehend: »Britz hat guten Rosenboden!« Er wußte es ja.
»Na, und?« Gottfried war neugierig. »Wat willste denn mit soviel Rosen, wenn ick fragen darf? In mehr als eene kannste deine Nase doch nich rinstecken!«
»Ich will sie nach Berlin verkaufen. Jeden Morgen und jeden Abend 'ne Fuhre Rosen nach Berlin, da sollt ihr mal sehn, was das einbringt!«
»Na, na!« Johann zweifelte sehr daran.
Aber Marianne sagte rasch: »Ich habe immer prachtvolle Rosen gehabt, Rosen wie ein Wunder. Der Garten muß ja doch ganz neu hergerichtet werden – und denn nimmst du noch das Feld dahinter zu, Jakob. Einen Morgen Rosen kannst du schon immer riskieren!«
» Einen Morgen? Zehn Morgen!« Jakob lachte hell auf. »Und später noch mehr. Viel mehr. Lauter Rosenkulturen. Ich weiß ja, was Rosen in Berlin kosten, 'n Heidengeld. Ich kann sie billiger liefern. Nur die erste Anlage kostet was – aber dann! Ich überschwemme den Markt. An jeder Ecke sollen meine alten Weiber stehen: ›Rosen – Rosen – Britzer Rosen! Langstielige: 'n Silberjroschen det Stück! Kurze zweie für'n Sechser!‹«
»Du kannst es ja versuchen!« Marianne lächelte freundlich.
»Det is noch lange nich dumm!« brummte Gottfried beistimmend. Hatten sein seliger Vater und er selber nicht mit der Gemüsegärtnerei en gros ganz anständig verdient, warum sollte Jakob nicht auch mit der Rosengärtnerei zu was kommen? Das war doch noch mal ein Projekt, über das sich sprechen ließ!
Sie hatten nun fertig gegessen, es hatte gut geschmeckt; Gottfried stand auf und zog Jakob in eine Ecke: »Na, sag mal, wie biste eijentlich auf die Idee mit den Rosenkulturen jekommen? Et interessiert mir!« Er ließ sich Näheres erzählen.
»Rosen, Rosen, nichts als Rosen«, hörte Marianne ihren Bruder ganz begeistert sagen. Sie lächelte. Gott sei Dank, nun hatte er doch etwas! Jetzt war er ganz in seinem Element. Wie sich die Mutter wohl darüber gefreut hätte! Befriedigt ging sie aus dem Zimmer; sie war ein wenig müde, drüben wollte sie noch eine Weile ruhen.
Als der Doktor nach einer halben Stunde kam, aus der dichten Wolke des Zigarrenqualms hinüberging in die stille Stube, um seine Frau zum Aufbruch zu mahnen, fand er sie im Lehnstuhl am Fenster. Sie saß auf dem Platz der Mutter. Die Hände hielt sie gefaltet über ihrem gesegneten Schoß, ein leichtes Lächeln lag auf ihrem Gesicht; sie schlummerte.
Ihr zu Füßen hockte Mieke wie ein wachsamer Hund: »St, se schläft!«
Hirsekorn küßte seine Frau auf die Stirn.
Sie wachte auf: »Nee, ich habe nich geschlafen, o nee!«
Er neckte sie: »Nein, du hast gar nicht geschlafen, nein. Aber komm, mein Herz, es ist angespannt!«
Der Abschied war doch schwer. Nun waren sie noch einmal alle zusammen gewesen im alten Stammhaus der Badekows – würde das noch lange stehen? Es war baufällig geworden. Und der Geist der Mutter war nicht mehr darin.
»Weine doch nicht«, sagte Hirsekorn zu seiner Frau, als sie sich aufschluchzend in die Wagenecke zurücklehnte; sie hatte noch lange aus dem Fenster geblickt. Nun fuhren sie im Trab über die Chaussee auf die Stadt los.
»Was wird aus Mieke?« sagte Marianne da plötzlich. »Ich möchte sie gerne zu uns hinnehmen, nun Mutter nich mehr ist. Ja?«
»Du Mutterchen!« Er küßte sie innig; und dann lächelte er. »Wir haben ja nun bald ein Kind, da können wir ja auch gleich zweie haben. Meinetwegen, nimm sie!«
»Ach, Friedrich, nun bin ich aber froh!« Marianne atmete erleichtert auf, zärtlich drückte sie seine Hand: »Laß uns aussteigen, das letzte Ende zu Fuß gehen, ich kann nich mehr fahren!«
Auf der Höhe der Sandhügel, der alten Tempelhofer Berge, die jahrhundertelang ihren weißen Sand wie eine Düne vor das weite Meer der Felder geschoben hatten, stand der Doktor still. Er führte seine Frau.
»Wie sich das hier angebaut hat«, sagte Marianne förmlich erschrocken. Es war ihr, als würde ihr das heute erst so recht klar. »Überall schon so hohe Häuser. Und wie ich klein war, war hier noch gar nichts. Wie muß das erst der Mutter gewesen sein!«
»Und unseren Kindern wird es noch anders sein!« Er drückte ihren Arm fester an sich. »Die werden keine Erinnerungen mehr haben an Dorf und Stadt. Ja, Berlin wächst schnell. Verschlingt alles rund um sich: Brache und Acker, fruchttragenden Boden und unfruchtbaren, Hof und Hütte, und den Bauern selber mit. Schade drum! Bauern – groß in ihrer Liebe, groß in ihrem Haß!«
Er wandte sich zurück nach Tempelhof, er nahm den Hut ab wie zum Gruß.
Aber der Wind des freien Feldes wehte ihm die Haare durcheinander und schnaubte ihn so kräftig an, daß er den Hut wieder aufsetzte. »Es zieht! Aber weißt du, was ich doch möchte, Marianne? Ich möchte nicht immer in der Stadt bleiben. Ja, noch 'ne Weile. Aber wenn wir dann müde sind, dann ziehen wir raus. Irgendwohin vor die Tore, ins Grüne. Da bekommt man wieder Kraft, Widerstandsfähigkeit, Lebenssaft – wir verjüngen uns. Und unsere Kinder gehen dann vielleicht noch weiter, und deren Kinder noch weiter, und so fort, bis die Städter wieder zu Bauern werden, aus denen sie vormals zu Städtern geworden sind!«
»Ach, das glaube ich nicht«, sagte Marianne Badekow. »Sie wollen doch jetzt alle lieber in der Stadt wohnen!«
»Das ist nur ein Übergang, das Stadttor ist ein Durchgang. Es ist ein beständiges Kommen und Gehen. Ich glaube trotz allem und allem: unserer Kräfte Wurzeln ruhen hier. Hier!«
Er wies hinunter auf den Boden, dessen einstmalige Ackerkrume noch zu erkennen war, selbst unter Sparren und Steinen, unter Mörtel und Schutt; unter der ganzen Last, die Bautätigkeit und fiebernde Gier, die die große Stadt und ihre Kultur ihm aufgebürdet hatten auf den duldenden Rücken.
*