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Der Sommer stand auf der Höhe, seine Sonne brütete auf dem staubigen Feld. Kein Quell, kein Schatten. Schon bei der Frühjahrsparade waren verschiedene Mann umgefallen, bei den großen Herbstparaden konnte es auch noch schlimm werden. Wer von Berlin kam, war froh, das Feld hinter sich zu haben; aber wenn man erst in Tempelhof war, dann war man gut daran. Da gaben die alten Lindenbäume köstlichen Schatten, im Park der Engländer leuchteten die Rosen; man genoß den starken ländlichen Geruch, der sich mit dem Blumenduft der Gärten vermengte.
Berlin hatte erst jetzt, seit die Pferdebahn ging, Tempelhof so richtig entdeckt. Nun waren Landpartien nach Tempelhof an der Tagesordnung; Schulklassen, Vereine, kinderreiche Großstadtfamilien, alles ergoß sich dorthin. Sonntags war bei Kiekebusch kein Platz zu finden und in der neuen Restauration draußen beim Birkenwäldchen am Wege nach Schöneberg, konnten Familien Kaffee kochen.
Während die Birken sonst so still dagestanden, dem Wetzen der Sichel, dem Dengeln der Sense gelauscht, dem Sämann zugeschaut hatten und dem fleißigen Pflüger, wurden jetzt ihre schlanken Stämmchen umtobt vom Lärm der Pfänderspiele, vom Lachen und Kreischen der losgelassenen Stadtmenschen. Die Bäume der einsamen Heide sahen jetzt weiße Unterröcke flattern und bunte Schärpen.
Die Wachtel im nahen Kornfeld war verstummt, ihr Püttperütt ließ sie nicht mehr hören. Und die Ähren standen dünn; sie hingen wie müde, der Hauch der Großstadt war über sie hingefahren. Das nächste Jahr schon sah hier kein Kornfeld mehr. Das Hämmern und Klappern des großen Krankenhausbaues hatte die Wachtel vertrieben. Der Lärm rückte der Stille immer näher und näher.
Kiekebusch vermietete jetzt an Sommergäste, das ganze Haus hatte er voll Berliner. Auch andere Familien vergaben Sommerwohnungen: warum sollte man sich's nicht zunutze machen, daß die erholungsbedürftigen Städter gern im Dorfe wohnen wollten?! Nur die alten reichen Geschlechter hielten ihre Türen noch zu.
Hanne Badekow war jedesmal ganz empört, wenn so ein Berliner anklingelte und fragte, ob Sommerwohnung zu haben sei. Das sollte ihr fehlen! Sie hatte ohnedies genug von dem Berlin. Das war nicht das Berlin mehr, dem sie vormals etwas gebracht hatte, das war das Berlin, das ihr etwas wegriß, eines nach dem andern mit Gewalt.
Die alte Frau hatte nichts darüber gehört, kein Mensch hatte etwas davon zu ihr gesagt, aber sie fühlte, sie wußte: sowie sie die Augen zugetan hatte, suchte auch Johann zu verkaufen. Grete sprach immer davon, was sie der Erziehung der Zwillinge schuldig seien, und daß man hier auf dem Dorfe nichts für seine Kinder tun könne. Ach ja, nach Berlin! Hanne Badekow seufzte. Drei Kinder hatte sie der Stadt schon hingegeben, den Jakob, die Marianne und die Auguste. Denn wenn die Auguste auch wieder hier lebte, ihr Herz war doch nicht in Tempelhof.
Die erste Wärme des Wiederheimfindens, das Gefühl des Geborgenseins waren Auguste entschwunden und mit ihnen der heftige Zorn der Kränkung, die ihr von Paschke angetan worden war. Sie begriff jetzt manchmal nicht, wie sie ihm hatte so mir nichts dir nichts fortlaufen können. Sie hätte ihn wenigstens doch erst einmal anhören sollen. Es war am Ende gar nicht so schlimm! Sie zürnte, daß Johann und Gottfried sie gar nicht mehr mit ihm hatten reden lassen. Aber so waren die ja immer gewesen, einfach über sie weg wurde bestimmt. Auguste vergaß ganz, daß sie selber es so gewollt hatte – nein, nein, nie, nie wollte sie ihn mehr sehen! – Bruder und Schwager hatten mit Paschke verhandeln müssen. Unter vielen Tränen hatte sie ihre Sachen dann ausgepackt, die man Paschke abgefordert hatte. Wenn es auf sie angekommen wäre, sie hätte ihm alles gelassen, denn hatten nun diese Möbel, dieses Leinen, diese Kochtöpfe noch einen Wert für sie?! Aber die Familie hatte darauf bestanden: es waren Augustes Sachen, von Augustes Geld gekauft; mochten sie lieber jetzt auf dem Speicher stehen! Und Gottfried hatte gesagt: »Verkloppen tut er sie ja doch in vierzehn Tagen«.
Wie es ihm wohl gehen mochte? Manche Nacht lag Auguste noch im Bett und dachte an ihren Mann. Und am Tage saß sie oben am Fenster ihrer Mädchenstube und träumte hinaus in die Lindenwipfel. Sie konnte von hier aus nicht nach Berlin hinsehen, aber in Gedanken sah sie immer dorthin. Wo er jetzt wohl wohnen mochte?! »Er wird wieder möbliert jezogen sein, bei seine alte Liebste, die Amanda in der Lindenstraße. Du kennst ja die Nummer«, hatte der Schwager auf ihre Frage geantwortet. Da fragte sie nicht mehr. Es war ihr unangenehm, an jene Zeit erinnert zu werden, sehr schmerzlich – sie hatten nie Verständnis für ihre Liebe gehabt.
Nutzlos, tatenlos, verträumte die Frau, die nun wieder Mädchen sein sollte und doch kein Mädchen mehr war, den Sommer. Ihr Mann erschien ihr jetzt in der Erinnerung anders, als er in Wirklichkeit gewesen war. Nun wurde er wieder ganz so wie vor der Verheiratung. Die blasse Auguste wurde glühend rot, wenn sie sich vorstellte, da – da unter den Linden käme er plötzlich heranspaziert! Er klingelt an der Haustür: »Gebt mir meine Auguste raus!«, – wenn er doch käme!
Sie vergaß alle die Enttäuschungen, die sie erlebt hatte von Anfang an. Heimliche Tränen hatte sie freilich oft vergießen müssen, daß sie nicht hübscher war, und sich gehärmt: wo blieb er, was trieb er?! Von alledem wußte sie jetzt nichts mehr. Und auch nichts von den Küssen, die er jenem Dienstmädchen aufgedrückt hatte. Ach, was war sie doch dumm voreilig gewesen!
Es gefiel Auguste nicht bei der Mutter, sie konnte sich gar nicht mehr daheim zurechtfinden. Nein, und sie wollte auch nicht immer parieren! Ihr alter Eigensinn wachte auf. Was, die Scheidungsklage sollte sie einreichen?! Bald – jetzt – am liebsten morgen schon? Alle in der Familie rieten dazu; selbst Marianne, und die wußte doch jetzt selber, wie schön es ist, einen lieben Mann zu haben.
Man bedrängte die Zurückgekehrte. Fast am meisten tat das die Mutter. Die alte Frau fühlte jetzt oft eine Mattigkeit, sie war müde geworden vom Leben: ach ja, es müßte schön sein, nun ganz auszuruhen! Aber es war ihr ein unerträglicher Gedanke, ihre Auguste dann noch als Paschkes Frau zurückzulassen. Wie würde er das schutzlose Mädel behandeln?! Auguste mußte sich scheiden lassen.
Johann und Gottfried bestärkten die Mutter: Auguste mußte sich scheiden lassen, die ganze Erbschaft war sonst in einem Jahre dahin. Denn was war der Paschke jetzt? Wieder Stadtreisender in Zigarren; ganz klein, ganz erbärmlich, und dazu hatte er noch einen Haufen Schulden abzuzahlen. Wie alles nach dem großen Aufschwung jetzt abgeflaut war, so war es auch mit ihm geschehen. »Heute noch auf stolzen Rossen, morjen durch die Brust jeschossen«, summte Gottfried. Eigentlich hatte er doch seinen Spaß an dem Paschke: ein Windhund, aber doch ein Kerl, nicht tot zu kriegen. Der kam schon nicht unter die Räder. Darum Vorsicht, doppelte Vorsicht – Auguste mußte sich scheiden lassen!
Man würde Auguste so lange zureden, sie antreiben wie ein störrisches Pferd, bis sie sich endlich doch dazu aufraffte. Sie stellten es sich zur Aufgabe. Immer wieder hörte die blasse Frau das »Du mußt dich scheiden lassen!« Alle möglichen Schandtaten Paschke's wurden ihr hinterbracht; aber sie glaubte sie nicht.
Oben in der Mansarde baute sie sich sein Bild auf, das heißt, nur in Gedanken. Ihre einzigen guten Stunden waren die, in denen man sie ungestört da oben ihren Träumen nachhängen ließ. Ach, daß sie auch nichts, gar nichts mehr von ihm hörte! Ob er sie denn nicht doch vermißte? Sie war sicher, er dachte viel an sie. Wer weiß, was er alles zu Johann und Gottfried gesagt hatte? Er hatte sicherlich Tränen der Reue vergossen, sein Herz war ja so weich. Aber die beiden waren von Stein, die konnten hartherzig einen Menschen sich verzehren sehen vor Kummer. Ach, er konnte so um Verzeihung bitten! Er hatte gewiß den beiden so vieles für sie aufgetragen, Worte der Liebe, Bitten, aber die hatten ihr keine Silbe davon gesagt. Nein, sie ließen sich nicht scheiden, nein und nein und abermals nein – nun gerade nicht!
»Man redet jejen Aujusten an wie jejen 'ne Mauer«, klagte die alte Badekow. Sie konnte nicht mehr so wie früher, so wie damals im Wagen beim Einzug, sagen: »Aujuste, setze dir!« Die Kraft war ihr ausgegangen, jetzt konnte sie nur bitten. Und sie bat die Tochter. –
Auguste hatte einen Brief erhalten. Wie durch ein Wunder. Sie war zum Glück gerade im Flur gewesen, als der Postbote kam, darum war dieser Brief der Mutter nicht in die Hände gefallen. Sie hatte gleich die Handschrift erkannt, diese flotte Handschrift mit den kühnen Schnörkeln, und einen Augenblick gedacht, sie müsse umsinken. Zitternd hatte sie das Kuvert in die Tasche geschoben. Verwirrt, errötend, mit niedergeschlagenen Augen ging sie ins Zimmer zurück.
Sie konnte es kaum abwarten, bis sie wieder hinauf in ihre Mansarde kam. Aber da war Mieke, daß sie auch noch mit der die Stube teilen mußte, nicht einmal ein Loch hatte man für sich allein! Unsanft fuhr sie die Schwester an: »Geh doch runter!«
Aber Mieke griente. Sie kauerte sich zu Füßen der Schwester nieder, auf dem Tritt am Fenster, wo der Nähtisch stand, und schlang die Hände ums Knie.
Wenn sie so da saß, die kantige Stirn vorgestreckt, auf dem Gesicht das dumme Lachen, dann war nichts mit ihr anzufangen. Gierig fühlte Auguste nach ihrem Brief: was schrieb er, was wollte er von ihr? Ach was, wenn Mieke auch dabei war, die verstand ja von nichts etwas! Sie mußte es wissen, sie mußte gleich lesen, was er ihr schrieb:
»Fern von dir ist schal mein Leben,
ruhelos mein armes Herz,
und der Trennung Tage geben
nichts mir als der Sehnsucht Schmerz.
Ziellos ist, was ich vollbrachte,
ist nicht nahe mir dein Bild.
Schreib nur eine einz'ge Karte,
die des Herzens Glut mir stillt!«
Die letzten beiden Zeilen waren dick unterstrichen. Keine Unterschrift. Aber Auguste wußte, es kam von ihm! Die Stube fing an, sich mit ihr herumzudrehen; sie schloß die Augen, heiß quoll es auf in ihrem Herzen, eine Tränenflut brach ihr die geschlossenen Lider wieder auf und strömte hin über ihre bleichen Wangen. Sie schluchzte laut: »Ach Gott, Julius! Mein lieber Mann!« Er sehnte sich nach ihr! Sie löste sich auf in Weinen.
Mieke war ruhig sitzen geblieben, nun drehte sie ihr Gesicht der Schwester zu. »Weine man nich«, sagte sie gutmütig, »laß dir scheiden!« Sie redete nach, was sie so oft gehört hatte.
Aber da wurde Auguste wild: kam ihr dieses dummerhaftige Frauenzimmer auch damit? Schwapp, hatte Mieke eine Ohrfeige weg.
Das Mädchen verzog das Gesicht, man konnte nicht sehen, war es zum Weinen oder zum Lachen. »Na du«, sagte es und sah von unten herauf die Schwester an.
»Mach, daß du wegkommst!« Unsanft schob Auguste das Mädchen zur Tür hinaus.
Gott sei Dank, die Lästige war nun fort! Aufatmend schloß und riegelte Auguste sich ein: Gott sei Dank, jetzt war sie allein, jetzt konnte sie noch einmal seinen Brief in Ruhe lesen!
Und sie las und las immer wieder die Zeilen, die Julius, ihr Julius, gedichtet hatte. Ach, wie schön er alles sagte! Nichts hätte sie mehr von seiner Liebe und Sehnsucht in Kenntnis setzen können, und von seiner Reue. Denn sprach nicht aus jeder Zeile, aus jedem Worte heimlich die allerbitterste Reue?
Ja, er sollte das haben, was er erbat! Er sollte auch wissen, daß sie ihm noch immer gut war, und daß sie ihm nichts mehr nachtrug! Hastig kritzelte sie, ohne sich zu besinnen, auf ein Zettelchen und betaute es mit ihren Tränen:
»Mein teurer Julius! Ich danke Dir für Dein schönes Gedicht,
es hat mich sehr erfreut. Wenn Du wüßtest, was ich hier ausstehe! Sie wollen alle, ich soll mich von Dir scheiden lassen, aber ich tue es nicht. Auch mein armes Herz ist ruhelos. Ich bin noch immer
Deine A.«
Das trug sie, nachdem sie eine Stunde lang ihre roten Augen gekühlt hatte, zur Posthilfsstelle. Sie schützte einen Gang zum Kirchhof vor. Sie mußte so vorsichtig sein, sie paßten ja alle auf; aber was vermag treue Liebe nicht?!
Sie hatte auf gut Glück adressiert nach Lindenstraße 104, bei Fräulein Amanda Schulze. Und dann hatte sie noch eine Idee gehabt, auf die sie sehr stolz war. Wenn er ihr nun wieder einmal eine Nachricht zukommen lassen wollte, so hatte sie auf alle Fälle auf dem Kuvert als Absender vermerkt: »X. Y. Tempelhof. Post restante.« Sie würde dann nachfragen oder auch Mieke hinschicken, die merkte ja nichts.
Diese Nacht schlief Auguste süß. Schon am folgenden Nachmittag ging sie aufs Postbureau. »Post restante X. Y. was da?« fragte sie mit schüchterner Stimme und niedergeschlagenen Augen. Es konnte ja noch gar nichts da sein, aber sie hatte doch gehofft. Am folgenden Tage jedoch fand sich etwas für sie ein.
Auf dem Kirchhof las sie es, hinter der Erbbegräbnisstätte der Badekows verborgen, das verhärmte Gesicht von seligem Rot übergossen, die blassen Augen dunkler vor Glück.
»Meiner Auguste!
Du bist wie eine Blume,
so hold und schön und rein,
ich schaue dich an und Wehmut
schleicht mir ins Herz hinein.
Mir ist, als ob ich die Hände
aufs Haupt dir legen sollt,
betend, daß Gott dich erhalte
so schön und rein und hold.«
Ach Gott, Gott, wie der Julius dichten konnte! Dieses war ebenso schön wie das erste Gedicht. Die blasse Frau fühlte sich über sich selber emporgehoben. Auf einmal hatte sie Flügel, ihr war es, als schwebte sie über alles hinweg. Sie war nicht die unterdrückte, die unscheinbare, die unbedeutende Auguste mehr, die nichts galt in der Familie, sie war wie eine Blume, hold und schön und rein.
Am Hügel des Vaters sank die Tochter aus dem Hause Badekow nieder. Sie mußte knien, sie mußte danken, ihr Herz ward vor Freuden zum Himmel geführt.
Was war denn nur mit Auguste los? Mutter Badekow war verwundert. Wie freundlich die auf einmal war! Als läge ein Sonnenschein auf ihrem Gesicht. Und ein immerwährendes heimliches Lächeln spielte um ihren Mund. Das wäre wahrhaftig schön, wenn die Auguste es endlich einsehen wollte, wie gut man es doch mit ihr meinte!
Auguste war glücklich, glücklich, wie sie es nur in ihrer Brautzeit gewesen war. Wenn ihr auch mitunter sorgenvolle Gedanken kamen, sie schüttelte sie ab. Es würde schon alles noch gut werden, wenn sie nur treu zusammenhielten. Was Gott zusammenfügt, das soll der Mensch nicht scheiden! Nun könnten sie alle reden, was sie wollten, sie hatte nur ein verträumtes Lächeln dafür.
Die Korrespondenz wurde lebhaft, die Briefe flogen hin und her. Über Paschke schien ein wahrer Liebesfrühling gekommen zu sein, alle paar Tage kam ein Gedicht, eines immer schöner als das andere.
Auguste hatte nicht anders gekonnt – es mußte ja auffallen, wenn sie so oft hintereinander ins Postbureau ging – sie hatte Mieke ins Vertrauen gezogen. Sie versprach der jüngeren Schwester eins von den neuen blanken Markstücken, wenn sie hinging und für X. Y. nachfragte. »Aber ganz heimlich! Keinem Menschen 'n Wort sagen, hörste? Es is für Mutter – 'ne Überraschung!«
»'ne Überraschung«, griente Mieke und trottete ab. Für die Mark würde sie sich was beim Konditor kaufen, wenn sie mal nach Berlin hereinkam, oder bei Lietzows rote Bonbons.
»Heimlich«, hatte Auguste anbefohlen; Mieke kam aus der Poststube heraus und trug den Brief offen in der Hand. Da begegnete ihr Gottfried, er kam vom Frühschoppen bei Kiekebusch.
Donnerwetter, da lief ja die Mieke doch wieder alleine herum, und er hatte doch so davor gewarnt! Er stellte sie: »Was haste da?« Er sah den Brief in ihrer Hand.
»Es is heimlich«, sagte Mieke wichtig.
»Jieb mal her!« Der Schwager nahm ihr den Brief ab: was hatte es die Mieke denn damit so wichtig? »X. Y. postlagernd Tempelhof« – Donnerwetter noch mal, das war ja Paschkes Handschrift mit den auffallend kühnen Schnörkeln! Aber er hielt an sich. »Na, für wen holste denn X. Y., Miekechen?«
»Na, doch für Aujusten!« Miekes einfältiges Gesicht war sehr vergnügt. »'ne Mark hat sie mir for jejeben. Aber – st!« Sie legte die Hand auf den Mund.
»Selbstverständlich!« Gottfried steckte den Brief in die Tasche. »Na, ich schenke dir ooch 'ne Mark, Miekechen. Un denn sagste zu Aujusten: es war nischt da. Verstanden?«
Sie lachte übers ganze Gesicht: nun hatte sie noch eine Mark. Sie nickte und wiederholte: »Es war nischt da!« Aber dann fiel ihr ein: »Es soll doch 'ne Überraschung sein für Muttern!«
»Ja, ja, ich weiß!« Gottfried klopfte ihr die Pausbacken. »Sag man ja nischt, keen Wort, hörste? Denn wird es ooch 'ne Überraschung für Aujuste.«
Gottfried und Johann machten zusammen den Brief auf. Sie waren beide dabei etwas beschämt – aber handelten sie nicht so zu Augustes Bestem?
»O lieb, so lang du lieben kannst!
O lieb, so lang du lieben magst!«
Sie lasen beide zu gleicher Zeit; Johann guckte dem Schwager über die Schulter.
»Wo er det nur abgeschrieben hat?« Gottfried rieb sich die Nase. »Oder sollte er am Ende det selber jedichtet haben?!«
»Die Stunde kommt, die Stunde kommt,
wo du an Gräbern stehst und klagst!«
»Jar nich so übel!« Gottfried schlug eine mächtige Lache auf, aber Johann sagte ärgerlich: »Ich finde dabei jar nischt zu lachen. Wenn er sie so andichtet, will se sich natürlich nich scheiden lassen. Was machen wir nu?«
»Ick wer' ihm mal auf sein Jesäusel eins hinpfeffern«, beruhigte Gottfried. »Siehste so!« Er setzte sich an Johanns Zylinderbureau und schrieb mit verstellten Krakeln:
»Behalten Sie gefälligst Ihre Machwerke für sich, alter Schafskopp! In Tempelhof lacht man über so'n Gequatsche. X. Y.«
Aber Johann war dafür: lieber keine Antwort. Er würde jetzt gleich gehen und Augusten zur Rede stellen. Das sollte sie wohl bleiben lassen, mit dem Kerl sich zu schreiben!
Dafür war nun wiederum Gottfried nicht. Widerspruch machte Auguste immer erst recht eigensinnig. »So lange er bloß dichtet, is er nich so jefährlich. Laß man. Erst wenn er ihr anpumpt. Aber wir werden beizeiten 'nen Riegel vorschieben!«
Am Abend, ganz gegen seine Gewohnheit – er kegelte sonst immer bei Kiekebusch – erschien Lietzow bei der Schwiegermutter. Er hatte seine Pfeife mitgebracht und richtete sich nun zu längerem Bleiben ein auf der grünen Bank, die unterm Vorbau des Hauseinganges stand. Gemütlich streckte er die Beine von sich und hielt dann Auguste, die nach oben gehen, in ihrem Zimmer verschwinden wollte, mit starkem Arm fest. »Nee, nee, bleib du man hier!«
Es half ihr nichts, sie mußte sich neben ihn auf die Bank setzen. Gegenüber auf der anderen Bank saß Mutter Badekow, wollte stricken, ließ aber die Maschen fallen und sah dann nicht mehr scharf genug, um sie aufzunehmen. Die Augen fielen ihr zu; das passierte ihr jetzt öfter. Plötzlich schreckte sie auf.
Gottfried hatte dröhnend gelacht. »Na, wieso biste denn heute so empfindlich, Juste? Et is doch keene Beleidigung, wenn ick sage: mancher Mensch besitzt 'ne jroße Dichterbejabung. Et bedarf man bloß 'ner kleenen Veranlassung. Zum Beispiel: er liebt unjlücklich, er hat Schulden, oder er lebt von seiner Frau jetrennt, oder auch beides zusammen, denn dichtet er los, det et man so plätschert. Is't nich so, Aujuste?«
Diese war entsetzt aufgesprungen: ach Gott, er wußte alles! Hatte Mieke sie am Ende doch verraten, oder, oder – sie machte sich gar nicht alle Möglichkeiten klar. Sie zitterte am ganzen Leibe.
»Na, na«, sagte Gottfried gutmütig; er sah ihre Angst, und sie tat ihm leid. »Nischt für unjut, ick wollte dir ooch nich ärjern, Aujuste, ick wollte dir man bloß 'nen kleenen Wink jeben!« Er blinzelte der dem Weinen Nahen mit einem, wie es sie dünkte, ganz niederträchtigen Lächeln zu. Und rief ihr dann, als sie mit einem scheuen »Gute Nacht!« entschlüpfen wollte, in wohlwollendem Tone, der ihr aber boshaft klang, nach:
»O Gott, es war nicht bös gemeint,
der andre aber geht und klagt!«
Er schmunzelte in sich hinein: das hatte er aber mal fein gemacht, nun traute sich Auguste sicherlich nicht mehr.
Aber während Gottfried jetzt befriedigt zu Kiekebusch schob, saß Auguste oben in der Mansarde und schrieb. Ach, der Schwager mußte einen Brief von Julius abgefangen haben – wo hätte er sonst solche Verse her?! Vielleicht heute? Mieke hatte zwar gesagt, es wäre nichts dagewesen, aber –
Mieke schlief schon, Auguste sprang ans Bett und schüttelte sie unsanft: »Was haste ihm gesagt?«
»Jesagt?« Die Verschlafene sah sie dumm an.
»Ja, was?!« Auguste war so wütend, daß sie die Schwester am liebsten an den Haaren gerissen hätte. In zornige Tränen ausbrechend, schrie sie: »Du, du hast mich verraten!«
In den Augen des Mädchens funkelte etwas wie Schadenfreude: ha, nun ärgerte die Auguste sich! Sie gönnte der Älteren den Ärger; warum hatte sie ihr neulich eine Ohrfeige gegeben, sie aus der Stube herausgeschmissen?! »Weine man nich, laß dir scheiden«, kicherte sie und versteckte sich unter der Decke.
Auguste wandte sich ab: was half es, mit Mieke zu rechten?! Weinend setzte sie sich an den Tisch.
Und sie schrieb ihrem Julius jetzt, was sie ihm schon längst hatte schreiben wollen, wovon sie aber bisher noch etwas Unbestimmtes zurückgehalten hatte – eine Scham, ein Stolz –, daß sie sich sehne, ihn zu sehen, und daß sie sich treffen wollten wie ehedem. Er sollte ihr nur Platz und Stunde bestimmen. In der Dämmerung am Park der Engländer, oder auf dem alten Kirchhof oder am besten wohl draußen auf dem Tempelhofer Feld. Aber er durfte nicht mehr unter X. Y. schreiben; er sollte es lieber in die Seufzerecke der »Vossischen« setzen lassen, auf das letzte Blatt unten rechts, sie würde jeden Tag da nachsehen.
Eine feine Röte war langsam in das Gesicht der Badekowschen Tochter gestiegen, als sie dies schrieb. War sie ihm nicht doch zu weit entgegengekommen? Nein! Entschlossen leckte Auguste ihren Brief zu und wischte sich dann die Tränen ab: er war doch ihr Mann, sie war seine Frau, es war nichts Unrechtes dabei wie ehedem.
*
Jakobs Frau hatte vor Jahr und Tag auf der Rückkehr vom Familienabend im öden Feld, in unwirtlicher Schneenacht, sich hoch und teuer verschworen: nie mehr ging sie wieder nach Tempelhof. Die Familie ihres Mannes konnte ihr gestohlen werden! Aber nun kam sie doch. Und sie brachte ihre fünf Ältesten mit.
Wie die Orgelpfeifen standen die kleinen Berliner Badekows bei den Lietzows in der Stube. Julie war zuerst zu Gottfried gegangen. »Der is immer noch der beste von der Bande«, hatte sie damals zu ihrem Mann gesagt, und in heftigen Worten die ganze Schale ihres Zornes über die anderen ausgegossen.
Jetzt war sie still. So still saß sie da, zog nur ab und zu eins ihrer Kinder zu sich heran und zupfte verlegen an ihm herum, daß Lene auch ganz verlegen wurde. Da sie nichts zu sagen wußte, stopfte sie die fremden Kinder mit Kuchen und schenkte der Schwägerin immer wieder die Kaffeetasse voll.
Julie trank in durstigen Zügen; sie war mit den Kindern zu Fuß gekommen, den weiten, staubigen Weg, und nur langsam war es gegangen, die vierjährige Irma hatte krumme Beine und ließ sich zerren an der Mutter Kleid.
Gottfried beobachtete das magere Gesicht von Jakobs Frau: wie verhärmt die aussah, und so verängstigt. Wenn sie so still dasaß, ihren Mund nicht groß auftat, sah man der Jule doch an, daß sie einmal sehr hübsch gewesen sein mußte! Gottfried war kein Unmensch. Und sie tat ihm auch leid. Er vergaß, daß man sich schwer über sie geärgert hatte.
»Na, wie steht et denn mit Jakob?« fragte er gutmütig. »Noch immer so voll Pläne? Det is wirklich nett, daß Sie mal rausgekommen sind, Jule, da hört man doch mal wieder was von dem ollen Jungen!«
In die hohlen Augen der Frau schossen Tränen, ihre Lippen zuckten, als müßte sie weinen, aber sie bezwang sich. Sie schluckte die Tränen herunter und seufzte nur. »Danke, es jeht ihm so weit janz jut, wenn nur nich –«, sie schluckte wieder etwas herunter. Die Augen, die nicht mehr so unruhig brannten wie sonst, fast flehend auf Lietzow richtend, sagte sie hastig: »Ich möchte jerne mal mit seiner Mutter sprechen. Jlauben Sie wohl, daß sie mich annimmt?«
»I, warum denn nich?! Sie sind doch Jakob'n seine Frau!«
Etwas wie Genugtuung flog über Juliens Gesicht, aber ihr Ausdruck wurde doch gleich wieder unsicher. Leise sagte sie und senkte dabei den Kopf: »Ich dachte – ich meinte – se wäre vielleicht noch böse, weil –«
»Ach, Sie meinen wohl von wejen dazumal?« Gottfried gab ihr einen ermunternden Klaps auf die Schulter und lachte schalkhaft dabei: »Nee, da kennen Se die Olle schlecht. Darum können Se ruhig hinjehn!«
Es schien Julien eine Last vom Herzen genommen zu sein. Gottfried und Lene fragten sich, als sie mit den Fünfen abgezogen war: was wollte die nur? Sie kam doch nicht aus lauter Herzensneigung nach Tempelhof?! –
Bei der Schwiegermutter saß Julie. Die alte Badekow hatte Jakobs Frau freundlich willkommen geheißen und so, als käme die Schwiegertochter alle Tage. Sie hatte keine Verwunderung merken lassen und auch keine Empfindlichkeit. Seit jener verunglückten Zusammenkunft hatten die Berliner Badekows sich nicht mehr bei ihr sehen lassen.
»Jotte doch, wie die Kinderchens ranjewachsen sind, seit ich se nich jesehen habe«, sagte sie bloß und strich den fünf vermiekerten, blassen Stadtpflanzen über die blonden Köpfe. »Aber se müßten mehr raus an de frische Luft. Se sehn kümmerlich aus!«
Sonst wäre Julie aufgefahren – es gab ja für sie nichts Hübscheres und Blühenderes als ihre Kinder –, heute aber nickte sie beipflichtend. Einen schweren Blick ließ sie von einem Kind aufs andere fallen, dann sagte sie: »Wenn ich denke, wie ich ausjesehen habe, als ich 'n Kind war! So 'ne Arme! Un so 'ne Waden!« Sie zeigte den Umfang eines Riesenbeins. »Wahr is 't, es is nich jut für Kinder, wenn se so in der Stadt rin stecken!«
Das war etwas für Hanne Badekow. Zum ersten Mal war sie mit der Schwiegertochter ganz einverstanden: Jule war am Ende gar nicht so unvernünftig?! Und ob es denn wirklich wahr war, daß sie schon wieder erwartete?
Einen so prüfenden Blick ließ die alte Frau über die Gestalt der Jungen gleiten, daß diese, rot werdend, hastig versicherte: »Sie können sich beruhigen – nee, es is nischt los!«
Da nickte die Badekow befriedigt, und Julie fuhr gedrückt fort: »Die beiden Jüngsten zu Hause sind ja man noch so klein! Wir werden zu tun haben, daß wir se alle anständig groß kriegen!« Mit einem schmerzlichen Seufzer faßte sie sich plötzlich nach beiden Schläfen: »Es steht nich jut um uns!«
»Det habe ick mir jedacht!« Die Alte verzog keine Miene, nur ein etwas höheres Rot stieg in ihre Wangen, die jetzt verschrumpelt waren wie Borsdorfer Äpfelchen, mit denen es zur Neige geht. »Det hab ick mir jleich jedacht«, wiederholte sie nickend noch einmal, »jleich als ick dir heute hier rinkommen sah. So is et mit die Kinder: wenn der Karren in'n Dreck jefahren is, denn soll Mutter 'n wieder rausholen. Eher hören se nich!« Sie sagte es ohne Bitterkeit, sie stellte nur die einfache Tatsache hin.
Doch die Schwiegertochter erschrak: nun war die Alte doch böse! Wäre sie lieber nicht hergekommen! Aber dann sah sie ihre Kinder an, und eine Liebe, die etwas von der ängstlichen Fürsorge einer Glucke für ihre Brut hatte, preßte ihr die Worte heraus, von denen sie selber nicht genau wußte, wie sehr sie begründet waren, Worte voll unbestimmter Furcht: »Jakob muß Pech jehabt haben. Wann, wo? – ach Jott, Jenaues weiß ich ja nich!« Ihre Blicke irrten angstvoll-unsicher umher. Wenn sie ihn fragte, hörte sie ja nur: »Das verstehst du nicht!« Und doch, wenn sie auch nur im Winter hatte die Schule besuchen können – im Sommer hatte sie hüten gehen müssen, ohne Strümpfe und Schuh – dumm war sie darum noch lange nicht. Wenn er sich nur einmal so recht mit ihr aussprechen wollte!
Heute schämte sich Julie ihrer Magdschaft nicht, sie war der Ängste voll, und unter diesen drückenden Ängsten ging all ihr mühsam behauptetes städtisches Vornehmtun in Trümmer. Sie vergaß, daß sie immer gefürchtet hatte, von der reichen Verwandtschaft ihres Mannes über die Achsel angesehen zu werden. Mochten sie die Nase rümpfen über die Magd, sie ungern sehen als Jakobs Frau! Jetzt war ihr dieser Gedanke, bisher ihres Lebens Ehrgeiz, gar nicht so wichtig mehr. Was sollte werden? Die teuersten Wohnungen im Hause standen leer. Jakob war schon mit der Miete heruntergegangen, aber nur oben die zwei billigeren waren besetzt. Doch auch die waren zum Oktober wieder gekündigt. Dem Geheimen Rechnungsrat war es zu laut in der Friedrichstraße, auch wollte er nicht der Tänzerin gegenüber wohnen; und das Fräulein wiederum hatte keinen zahlenden Liebhaber mehr. Woher andere Mieter bekommen? Es standen auf einmal so viele, so entsetzlich viele Wohnungen leer. Und mit dem Aktienkonsumverein war's nichts geworden, und die Räume unten, die ganz darauf eingerichtet waren, standen nun auch leer. Was aber das allerschlimmste war – das verängstigte Weib riß die Augen auf und starrte in eine Ecke, als sähe es da Gespenster – der Laden, der Laden gegenüber in dem neuen Hause!
Die Sprache versagte Julie, sie konnte nicht weiter mehr, krampfhaft packte ihre Hand den Rock der alten Frau, als müsse sie sich daran halten. »Der – der is auch 'n Telekatessenjeschäft!« Sie stieß es heraus wie ein furchtbares Geheimnis.
Das war in der Tat für Jakob sehr unangenehm!
»Un wie das Jeschäft drüben jeht«, jammerte Julie auf. »Rein, raus, den janzen Tag; ich liege immer auf der Lauer. Un zu uns, zu uns kommen se nich!« Sie rang die Hände.
»Der Käse nich mit 'ne Jlocke zujedeckt, die französ'schen Trauben jeschimmelt – na ja«, sagte die Badekow langsam.
»Der verfluchte Laden! Der Teufel soll den Kerl holen! 'ne Jemeinheit, sich einem so auf die Nase zu setzen. Wir waren eher da, zu uns müßten se kommen, alle kommen – aber nee! Ach Jott, Jott, was soll aus uns werden!« Die verzweifelte Frau ballte die Fäuste, und dann packte sie sich in die frisierten Haare und riß sich daran. »Wenn Jakob die Zinsen nich bezahlen kann?! Ach, ich jlaube, er hat viel, schrecklich viel zu bezahlen! Wir werden rausjeschmissen, das Haus wird uns versteigert über'm Kopf – meine Kinder, meine armen Kinder!« Sie schrie auf; mit beiden Armen ihr Häuflein umfangend, riß sie es an sich und weinte laut.
Die erschrockenen Kinder weinten laut mit.
»Na, na, so schlimm wird det nich jleich«, tröstete die Alte.
»Doch, doch!« Die Junge ließ sich nicht trösten; wie eine Irrsinnige, wirr vor Angst, fuchtelte sie mit den Händen in der Luft: »Anspucken könnt ich den Kerl da drüben, totmachen!« Sie lachte wild auf. Und dann weinte sie wieder aufs neue: »Ach, die Kinder, die armen Kinder, un der Jakob – ach Jott, mein Mann, er kann ja auch nischt dafür!«
»Doch, det kann er wohl!« Die Badekow zog die Brauen zusammen und blickte sehr ernst. »Wat jibt er sich mit all so'n Berliner Schwindel ab! Mit eene Spiegelscheibe wär et ooch jenug gewesen – die war schon zu ville!« Aber dann kam ein Mitleid in ihr Gesicht, ihre Augen wurden freundlicher, sie sah die fünf Kinder an, die sich erschrocken zusammendrängten, und dann nahm sie die Hand der Schwiegertochter in ihre Hand. Sie klopfte auf die kalten Finger: »Na, na!« Aber sie war auch erregt. Sie konnte jetzt nicht mehr so an gegen alles. Kummervoll vor sich hinnickend, schlang sie die Hände ineinander: »Det Berlin, det Berlin!« Weiter sagte sie nichts. Bis sie, nach einer Weile sich aufraffend, der Schwiegertochter nochmals die Hand reichte: »Schicken Se 'n mir mal her!«
Das war ein Hoffnungsstrahl! Julie ging weit ruhiger fort, als sie gekommen war. Ja, die Alte, die würde sie nicht im Stiche lassen. Und so nett war sie mit den Kindern gewesen – ja, die fühlte es doch wohl nach, wie es einer Mutter zumute war! Jedem Kind hatte sie beim Adieusagen einen Taler ins Händchen gesteckt. Nun konnte man's sich getrauen, mit der Pferdebahn bis zum Tor heimzufahren, jetzt würde es keine zu große Ausgabe sein. – – –
Alle Tage wartete Mutter Badekow nun auf ihren Jakob. Es war merkwürdig, daß sie jetzt das Warten so wenig gut mehr vertragen konnte.
»Mutter wird recht klapprig, merkste's nich?« sagte Grete zu ihrem Mann.
Johann sagte: »So?« Er ging sogleich zur Mutter hinüber: »Fehlt dir was?«
»Nee, wieso denn?« Die Alte schüttelte den Kopf.
»Na, Jrete sagt doch, du wirst so klapprig!«
Da lächelte die Badekow recht wehmütig, aber ein bißchen von dem alten Humor war doch noch in dem Lächeln: »Ick jloobe, et wird nu Zeit, det ick abschramme; meine Kinder brauchen mein Jeld!«
Johann war betroffen von dieser Antwort: wie meinte sie das?! Er war aufrichtig besorgt um die Mutter, aber Grete hatte recht, man mußte sich doch mit dem Gedanken vertraut machen an ihren Tod. Es würde dann manche Veränderung geben.
Jakob war sehr böse auf Julie: wie konnte sie nur wieder nach Tempelhof laufen, wo sie sich so unmöglich gemacht hatte? Mit seinem Wissen hätte sie es nie gedurft. Und doch war etwas in seinem Herzen, das trieb auch ihn hin, trieb ihn mehr, als das ewige Darumbitten und Zureden seiner Frau ihn treiben konnten. Eine Angst hatte ihn ergriffen, alles war ihm verquer gegangen, nun war es ihm, als stürze auch sein neuer Bau ein über ihm. Und es waren doch nur seine Projekte, die zusammenbrachen. Nun hätte er seinen Kopf verstecken mögen wie als Kind unter der Mutter Schürze. Aber es war ihm zu peinlich, zu ihr zu gehen; was wollte er denn von ihr? Geld, Geld und wieder Geld. Nein, so einer wie dieser Paschke, von dem ihm Marianne erzählt hatte, so einer war er denn doch noch nicht!
Er saß bei der Schwester; heimlich war er gekommen, zu einer Zeit, da er den Doktor auf Praxis wußte. Nur seine Lieblingsschwester hörte ihn, sonst niemand. Da konnte er eingestehen, was er sich selber noch nicht gewagt hatte, ganz einzugestehen: daß er das Haus nicht mehr halten konnte. Es war mit Hypotheken zu schwer belastet; nun ihm die Wohnungen leer standen, brachte er die zu Oktober fälligen Zinsen nicht auf. Und wenn ihm Marianne auch das Geld vorstrecken würde – nein, er wollte das gar nicht. Das war nur eine Verlängerung der Hinrichtung; mit ihm war's doch aus. Die Altenburger Gesellschaft, für die er sich so ins Zeug gelegt, auf die er so viele schwindelnde Hoffnungen gesetzt hatte, die gab jetzt auch keine Dividende mehr. Nach dem großen Krach war eben alles aus, er konnte mit seinen Aktien sich das geheime Kabinett austapezieren. Mutlos saß er bei der Schwester, den Kopf hing er auf die Brust.
Marianne sah ihn bekümmert an: fahl, grau, alt war der Jakob geworden. Ein gebrochener Mann!
»Geh zu Muttern!« Er schüttelte verneinend, und doch sah sie auf seinem Gesicht etwas aufflimmern wie einen Hoffnungsschein. »Geh! Geh! Wenn du nich alleine willst, dann wer' ich mit dir kommen!«
Da nickte er bejahend. –
Während der ganzen langen Fahrt in der Pferdebahn hatte sie leise und eifrig auf ihn eingeredet: »Sag ihr nur alles, ganz gerade raus, das versteht Mutter am besten. Und denn wollen wir sehen!«
»Sie wird denken, ich komme bloß um Geld – und das alleine is es doch nich!« Er stöhnte so laut auf, daß sie ihn erschrocken anstieß. Als wären sie ganz allein, die Menschen nicht beachtend, stieß er jetzt heraus: »Geld allein kann mir nich helfen, mich nich glücklich machen. Mir fehlt sonst noch zu viel!«
»Julie?« fragte sie ganz leise und schob dabei ihre Hand in die seine.
Er nickte.
Da wurde ihr Gesicht tiefnachdenklich und ganz betrübt. –
»Mutter, hier ist Jakob«, sagte Marianne, als sie eintraten.
Die Mutter saß im Lehnstuhl. Ihre Augen waren offen, aber sie mußte doch wohl geschlafen haben, sie fand sich nicht gleich zurecht. »Wer?« fragte sie.
»Jakob!« Marianne hatte den Bruder hinter sich hergezogen, nun stieß sie ihn vor.
Über das Gesicht der alten Frau lief's wie ein Erzittern, sie machte die Augen wieder zu. »Ick habe schonst 'n janze Weile uf dir jelauert!«
Der Sohn wagte nicht, ihre Hand zu ergreifen. Dieser alten Frau sollte er nun den Kummer machen, ihr geradeheraus sagen: ich bin ruiniert? Nein, das konnte er nicht! In Scham und Scheu wich er zurück. Hatte er so lange die Mutter denn nicht gesehen, daß sie so alt geworden war?! Er war erschrocken.
»Ick hatte eben an dir jedacht. Ick muß wohl janz wunderlich jewesen sind«, sagte jetzt langsam die Badekow und machte die Augen auf.
»Det kommt von's Träumen. Na, nu setz dir mal hin. Nu sage mal, wat du noch willst!«
Er sagte kein Wort. Ein Ausdruck lag auf der Mutter Gesicht, der ihn befremdete. Ihre Miene war nicht streng, auch nicht kalt, aber auch nicht freundlich; sie war so, als wäre die Mutter mit ihren Gedanken nicht so recht bei der Sache mehr.
»Wat machen denn deine Kinderchens?« fragte die alte Frau. »Ach ja, wenn die Kinder klein sind, machen se Freude. Meine Kinder waren ooch mal klein!«
Das war ein Vorwurf! Jakob fühlte sich getroffen. Wollte die Mutter damit sagen, daß er ihr jetzt keine Freude mehr machte? Er biß sich auf die Lippen.
»Nee, nee, so meine ick det nich. Komm man her!« Sie streckte die Hand nach dem Sohn aus. »Ick weiß ja Bescheid, ooch wenn du nischt sagst. Siehste, mein Sohn, ick wer' det Jeld nich mitnehmen, ick will det ooch jar nich. Aber ick möchte dir ooch nich jerne allens jetzt rausjeben, wat du noch mal zu kriejen hast, det Berlin steckt dir zu sehr in de Knochen. Denn haste nachher, wenn deine Kinderchens jroß sind, mal nischt, um ihnen auszuhelfen. Ick denke immer bloß drüber nach, wie det mit dir am besten zu machen is, aber –« sie seufzte tief, und es rasselte dabei in ihrer Brust – »ick bin wohl zu alt, mir fällt jar nischt ein!«
»Wenn das Haus zur Subhastation kommt, ich übernehm' es«, sagte Marianne jetzt rasch. Sie hatte sich bis dahin ganz still verhalten. Nun nickte sie dem Bruder zu. »Ich wer' mit Friedrich über die Sache reden – ihm is 's aber recht, das weiß ich. Vielleicht, daß wir denn da in die erste Etage ziehen können. Jedenfalls übernehmen wir es!«
»Marianne!« Der Bruder wollte auffahren: nein, das durfte nicht sein! Er kam sich so tief gedemütigt vor.
Aber die alte Frau sagte: »Sei man janz stille. Marianne macht det Vergnügen; un se kann et ja ooch. Se wird ooch schon nischt bei verlieren!«
»Nee, sicher nich!« Marianne lachte fröhlich. »Ich kann es gut mit ansehen, wenn das Haus auch 'ne Weile nichts bringt. Und Friedrich denkt ganz so wie ich!«
»Jannchen!« Jakob hatte sie umgefaßt. Ja, es war ihm ein Stein vom Herzen! Das Haus, das Haus, das hatte ihn beinahe um den Verstand gebracht. Wenn er das mit nicht zu enormem Verlust loswerden könnte!
»Es ist zu gut von dir!« Mit einem Seufzer ließ er den Kopf auf die Schulter der Schwester sinken.
Es war ganz still in der Stube. Die Badekow sah sich die beiden an, und dann machte sie die Augen zu: die Marianne würde schon mit ihm fertig werden! Sie selber war heute so müde.
»Zu gut von dir«, stammelte Jakob an der Schwester Hals. »Es ist mir aber schrecklich, daß ich dir das aufladen muß!«
»Wieso denn?« Marianne klopfte ihm den Rücken. »Da schweig man von. Eine Hand wäscht die andere. Friedrich sagte neulich, wenn du den ganzen Krempel doch loswerden könntest! Denn solltest du rausziehen und unseren Hof verwalten!«
»Ich – ich, nach Britz?« Jakob hatte den Kopf gehoben, sehr erstaunt sah er die Schwester an. »Nach Britz, aus der Stadt so ganz raus?!«
Neigung und Abneigung stritten in seinem Gesicht.
»Du tätest uns 'n großen Gefallen damit!«
Marianne war eine gute Rechnerin, jetzt rechnete sie geschwind dem Verdutzten vor, was sie alles einbüßen würden, wenn nicht immer einer mit Augen, die wie aufs Eigene sahen, bei allem nachguckte. Mit dem Wirtschafter ging das doch nicht auf die Dauer. Und Friedrich hatte keine Zeit, sich um die Landwirtschaft zu kümmern, und sie keine Lust. Man hatte es bereits bei den letzten Monatsabschlüssen bemerkt, daß es mit dem Betriebe längst nicht mehr so wie früher war; ein Drittel Milch weniger war nach Berlin geliefert worden! Sie sprach sich in Eifer, ihre Wangen waren sehr rot. »Du sollst ja nich ›ja‹ sagen, wenn du nich willst«, redete sie auf den Zögernden ein, »nee, man ja nich! Es wäre ja auch nur, bis wir gut verkaufen könnten. Jetzt is Britz noch 'n bißchen weit ab. Aber nich mehr lange, meint Friedrich!«
»Ich bin kein Landwirt.« Jakob suchte eine Ausrede; es war ihm zu überraschend gekommen. Er ließ den Kopf hängen: »Alle meine Pläne!«
»Na, wenn schon!« Marianne lachte heiter. »Sind sie dir nich oft schon zu Wasser geworden? Denn machste eben wieder neue!«
»Und mein Geschäft?« fragte er.
Da machte plötzlich die Badekow die Augen wieder auf: »Über'n Käse keene Jlocke, schimmelige Beeren mang de Trauben – nee, dein Jeschäft da is nu jar nischt mit los!«
Darauf sagte der Sohn nichts mehr; er konnte nichts sagen, dazu war er zu ehrlich heute. Warum sollte er denen hier etwas vorlügen?! Die Mutter sah ihn mit Mariannes Augen, Marianne mit der Mutter Augen; die kannten ihn doch. Und sie hatten ihn beide sehr lieb.
Mit einer hastigen Wendung trat er an den Lehnstuhl, er ergriff der Mutter Hand: »Meinste denn wirklich, ich tue recht daran, ich kann Jannchen da auch wirklich von Nutzen sein?«
Die alte Frau erwiderte kein Wort, sie nickte nur.
Aber Marianne sagte schnell: »Für deine Frau und deine Kinder ist es sicher das Beste. Du sollst mal sehen, da is Julie am Platz. Die wird sich schon in Britz bewähren!«
»Det jloobe ick ooch!« Die Mutter hatte aufmerksam zugehört. Nun legte sie dem Sohn, der vor ihr stand, die Hand auf die Schulter; vielmehr sie versuchte es. Sie zog ihn zu sich herunter.
Er bückte sich.
»Die Jule is noch lange die Schlimmste nich«, sagte sie leise. »Die is nur janz aus die Fugen jejangen in dem Berlin. Laß die man wieder auf 'm Lande sein, denn jibt sich manches; denn fühlt se sich sicher, wo se jewöhnt is. Hab man Jeduld, mein Sohn!« Sie strich ihm mit kühler Hand über die heißgewordene Wange. »Freilich, die will jelernt sein. Ick habe jetzt Jeduld!«
»Mutter is müde«, sagte Marianne. Die alte Frau hatte die Augen geschlossen. »Schlaf man noch 'n bißchen Mutter, wir ruhen uns auch!«
Die Geschwister saßen ganz still auf dem Sofa. Der Regulator tickte, Fliegen summten unter der niedrigen Decke, ein Strauß Levkojen duftete süß; aber er duftete schon nach Herbst. Hanne Badekow hatte die Hände ineinandergefaltet, ein zufriedenes Lächeln war auf ihrem Gesicht.
»Es is Muttern 'ne große Beruhigung«, flüsterte Marianne.
Jakob flüsterte zurück: »Ja, ja!« Und ohne den Blick von der Schlummernden zu wenden, flüsterte er weiter: »Aber findest du nicht, sie hat seit letzten Winter sehr abgenommen?«
»Ach ja! Friedrich soll morgen mal rauskommen!«
Und dann schwiegen sie. –
Ein Pochen an der Stubentür unterbrach den stillen Frieden. Gottfried steckte den Kopf herein.
»St, Mutter schläft!« Marianne wollte ihm wehren.
Aber er trat hastig ein. Sein Gesicht war sehr rot; er war erregt, man sah es ihm an. »Die Hulda is weg!«
»Wer? Was für 'ne Hulda?!«
»Na, die Tochter von meinem Bruder, von Karl – det kleene Mächen! Sie jeht mit Johanna zur Schule. Die is weg. Seit jestern nachmittag schon. Un keen Mensch weiß wohin. Jestern haben se se weiter nich jroß jesucht – se wird wiederkommen, se is losjejangen mit den Teckeln – aber Karl hat die Nacht schon nich schlafen können, hat immer auf se jelauert. Nu is er wie vor den Kopp jeschlagen. Die Kleene, die Hulde – verflucht, wo se diesmal nur steckt?!«
»Es wird ihr doch nichts passiert sein?!« Mitleidiger Schreck sprach aus Marianne.
Gottfried zuckte die Achseln; eine tiefe Niedergeschlagenheit legte sich auf sein gutmütiges Gesicht. »Die Teckel sind wiederjekommen, janz abjehetzt, vor 'ner Stunde etwa – det Mächen nich!«
Da sagte plötzlich die Stimme der alten Frau wie aus dem Schlafe: »Wenn man seine Kinder lieb hat, denn kommen se immer wieder!«