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Draußen in Britz ging Doktor Friedrich Hirsekorn aus und ein. Er kam oft. Eigentlich öfter, als es nötig war, denn mit der Patientin ging es ganz leidlich, einen Tag wie den andern; die Sache selber schob sich noch länger hinaus, als die Familie in der ersten Bestürzung gedacht hatte. Aber der Doktor sagte sich, daß es diesen wohlhabenden Leuten ja gar nicht darauf ankommen konnte, wenn er einen Besuch mehr machte, im Gegenteil, die Britzer Besitzerin hatte es ihm geradezu gesagt, daß es ihr ein Trost sei, wenn er oft, recht oft käme. Und er kam gern.
Es ging ihm das Herz auf, wenn er die Stadt hinter sich ließ und Felder sah. Bis Tempelhof fuhr er mit der neuen, eben eröffneten Pferdeeisenbahn; von da ab ging er zu Fuß. Es nahm ihm freilich viel Zeit, aber zurück schickte ihn ja die reiche Witwe in ihrer großen Kutsche bis Berlin. Und war es nicht ein Bedürfnis für ihn, freie Luft zu atmen? Den ganzen Tag in schlecht gelüfteten Krankenstuben, oft noch die halben Nächte. Endlich, endlich verlor sich doch einmal der Armeleutsgeruch aus seinen Kleidern.
Tief aufatmend schritt Friedrich Hirsekorn dahin, förmlich die Luft trinkend. Sein Auge schweifte über frischbegrünte Felder: da schoß schon die junge Saat, sie stand schön. Die Weidenstauden an den Tümpeln verloren bereits ihre goldenen Räupchen, und das wilde Kirschgestrüpp an den Wegrainen putzte sich schon mit kleinen weißen, bitterlich duftenden Blütchen aus. Von Tempelhof an war noch alles Land. Hier merkte man noch nichts von Bauspekulation. Weit, weit von hier lag noch das große Berlin.
Der Städter ging wie trunken. Er hatte von jeher das Land geliebt; mit einer unglücklichen Liebe, denn er hatte immer in der Stadt bleiben müssen. In seiner Jugend hatte er von den Alpen geträumt, von Schwarzwaldwäldern und von der See – er hatte alles noch nicht gesehen. Er war ein Mann in den Dreißigern darüber geworden. Nun genoß er dieses Wandern nach Britz wie eine Offenbarung. Die flache Landschaft mit den einförmigen Ackerkarrees, mit den weidenumstandenen Tümpeln, die sich hie und da in Vertiefungen angesammelt hatten, mit den einzelnen Birken, die ihre wehenden Reiser tief niederhingen, mit den ragenden Windmühlen am Horizont dünkte ihn schön. Leises Summen war in der Luft, in den Tümpeln ein Froschquarren; ein langbeiniger Storch spazierte aufmerksam auf und nieder.
Eine Glücksahnung überkam den jetzt rascher Zuschreitenden. Es war ihm, als ließe er nun alle Not des Lebens hinter sich. Er hatte sich weidlich plagen müssen, aber nun, nun –?!
Mit einem Gefühl des Behagens trat er auf den Hof ein. Fassan kannte ihn schon, er legte sich nicht knurrend vor den Eingang, wie er es zu tun pflegte, sowie ein Fremder sich nahte. Er wedelte mit dem Schwanz und steckte die feuchte Schnauze in des Doktors Rocktasche: war ein Stück Zucker darin?
Hirsekorn atmete tief; köstlich dünkte ihn der Geruch nach Dung, nach Vieh, nach Heu, nach Milch. Und wenn erst die Rosen blühten auf den zwei runden Beeten, in deren Mitte auf hohem Postament je eine große Glaskugel stand, rechts und links vor den Fenstern des niedrigen Wohnhauses, wie doppelt köstlich mußte dann der Duft hier sein! Hier war ein guter Rosenboden.
Die reiche Witwe hatte den Doktor schon kommen sehen, sie trat ihm aus der Stube entgegen. Und dann ließ sie ihm gleich ein Glas frische Milch bringen, weiche Eier und Brot und Schinken.
Sonst wurde Besuch immer ins gute Zimmer geführt, das genau so aussah wie bei Schwester Lene auch: die gleichen kornblumenblauen Möbel mit weißen Kappen, der giftgrüne Teppich, die Makartwedel, die Alabasterschale und die Einmachetöpfe. Nur daß in Britz Mariannes Seliger – ein breites, pfiffiges Bauerngesicht mit grauer Bartfräse – von Künstlerhand gemalt, wie ein Öldruck über dem Sofa prangte. Der Doktor durfte jetzt ins alltägliche Zimmer, in dem die Witwe für gewöhnlich sich aufhielt, aß und trank, ihre Bücher führte, dem Wirtschafter ihre Befehle gab und Decken und Sofakissen, Pantoffeln und Fußbänkchen in Kreuzstich stickte.
Der Doktor aß und trank, er hatte immer einen guten Appetit hier draußen; er bewunderte die neueste Kreuzstichstickerei und die Fuchsien und Monatsrosen, die, anderwärts erst im Sommer blühend, hier innen schon jetzt, bis hoch am Glas der kleinen Fenster hinauf, ihre Blumen reckten. Und dann fragte er nach Mieke.
Ruhig und sachlich hatte Marianne vordem mit dem Arzt über den Zustand der Schwester sprechen können; die ganzen vier Wochen, die Mieke nun schon bei ihr war, hatte sie kein peinliches Gefühl ihm gegenüber gehabt, jetzt auf einmal empfand sie: er war doch nicht bloß Arzt. Rotwerdend und stockend sagte sie, daß sie schon gefürchtet hätte, diese Nacht noch die Kutsche nach ihm schicken zu müssen.
Da ging er eilig hinauf in die Stube, die abseits von den anderen lag, und deren Fenster hinaussahen auf den verwilderten Garten, in dem kein Mensch etwas zu suchen hatte.
Marianne blieb unten zurück; sie saß am Tisch, stützte den Kopf in die Hand und seufzte auf: was hatte sie sich doch aufgeladen! Hätte sie es länger bedacht, wer weiß, ob sie es je getan hätte! Es war doch keine Kleinigkeit. Und sie selber war ja noch so unerfahren, sie selber hatte kein Kind gehabt. Eine Verwirrung fiel über sie her: wie sollte das alles noch werden?!
Da schreckte sie auf. Ein Wagen war auf den gepflasterten Hof gerasselt, der Hund gebärdete sich wie rasend.
Gott im Himmel, nur jetzt keinen Besuch! Jetzt gerade, wo sie so vieles noch mit ihm zu besprechen hatte! Sie stürzte hinaus, jeden abweisen zu lassen, aber sie kam zu spät.
Schon stand Paul Längnick im Flur. Er war heute nicht schüchtern, er hatte sich Mut gemacht durch ein paar starke Gläser – die Quälerei hatte er nun satt! Er hörte nicht auf das, was die Magd ihm Abweisendes sagte; den Hund trat er so vor die Schnauze, daß dieser winselnd in eine Ecke kroch.
Seine Mutter schickte ihn her. Er hatte gehorcht, man konnte ihr ja nun einmal nicht ins Gesicht sagen »Ich will nicht«, aber der Millionenwitwe würde er es heute zu verstehen geben, und wenn sie ihn nicht verstand, ihr es geradeheraus sagen: zwischen ihm und ihr konnte nie, nie etwas werden! Seine Blicke waren unruhig, seine Nasenflügel bebten nervös, die Finger schlang er ineinander und riß sie dann wieder voneinander, daß die Gelenke knackten.
Marianne war empört; wie konnte jemand so unverschämt eindringen?! Aber Paul Längnicks Anblick entwaffnete sie. Er war ja ein so harmloser Mensch, eine Null. Hoffentlich würde er nun nicht wieder so lange sitzen wie dazumal vor seiner Heirat! Damals hatte sie über ihn lachen müssen. Heute lachte sie nicht; der arme Mensch hatte die Frau verloren, er sollte sie sehr lieb gehabt haben. Marianne hatte ihn nicht mehr gesprochen seit jenem Besuch. Was wollte er nur heute?
Paul saß auf dem Sessel in der guten Stube, sie auf dem Sofa ihm gegenüber. Er sah sie starr an. Und sie mußte ihn auch immer ansehen: wie verwüstet war er! Die Stirn voller Falten, die Augen glanzlos, schier ohne Blick; er sah sie an, aber das war ja eigentlich kein Sehen. War er krank? Wie ein alter Mann saß er, den Nacken vornübergebeugt, den Rücken gekrümmt.
Marianne war unruhig; ihre Gedanken eilten oben hinauf in das Zimmer, wo der Arzt jetzt bei Mieke war. Was sollte sie nur zu Paul sagen, daß sie auch einmal hinaufgehen konnte?
»'nen Augenblick, ich komme gleich wieder!« Sie wollte aufstehen.
Aber er hielt sie am Kleide fest. »Daß Sie's nur wissen – dann gehe ich gleich wieder – ich heirate nich noch mal!«
Was ging sie das an?! Sie sah ihn verständnislos an.
Da schlug er mit der Faust auf den Tisch, daß Karten und Kärtchen aus der Alabasterschale flogen: »Un wenn se auch immer zu mir sagt, Sie warteten nur auf mich – ich kann nich – wahrhaftig, ich kann nich!« Er sagte es mit seiner früheren Treuherzigkeit. Aber dann bekam seine Stimme einen anderen Klang, wispernd-unruhig: »Sie sagen, Ethel wäre tot – es is nich wahr. Ich weiß, sie lebt. Sie kommt wieder zu mir!« Er nickte schwermütig. »Es dauert nur noch so lange!«
Marianne erschrak: wie merkwürdig war dieser Paul Längnick! Aber Furcht empfand sie nicht. Sie hatte ihn als Kind gekannt, er tat ja keiner Fliege etwas zuleide. Er war jetzt nur leider mal wieder betrunken!
»Paul«, sagte sie und legte ihre weiche Hand auf seine geballte Faust: »armer Paul!« Sie konnte nicht anders, sie mußte in ihrem Bedauern jetzt wieder ›Du‹ zu ihm sagen. »Ja, du hast viel verloren!«
Er nickte und nickte. Immer tiefer senkte sich sein Kopf, nun lag seine Stirn auf ihrer Hand.
Sie wagte nicht, ihm diese fortzuziehen. Sie seufzte nur auf: »Ach ja!« Seinen Kummer zu sehen, machte ihr das Herz noch schwerer.
Da hob er plötzlich die heiße Stirn von ihrer Hand und sagte ganz ruhig im alltäglichsten Ton: »Nehmen Sie's nich übel, Frau Badekow. Ich habe geträumt. Das kann einem ja mal passieren. Aber es fällt mir nich ein, mich noch mal zu verheiraten. Es tut mir leid, wenn Sie gedacht haben, ich – ich würde Sie – nee!« Er machte eine abwehrende Handbewegung; es ging über sein Gesicht wie Entsetzen, und dann brüllte er laut heraus: »Ich heirate Sie nich! Sie lebt, sie lebt, sie lebt!«
Hartnäckig wiederholte er immer dasselbe. Mit geballten Fäusten stand er und stampfte den Boden, seine Augen rollten.
Was sollte das heißen?! Sie, die Marianne Badekow, auf den Paul Längnick lauern? Das war eine Unverschämtheit! Das hatte niemand anders als seine Mutter, die Rieke Längnick, ihm eingeredet! Zu anderer Zeit hätte die Witwe vielleicht laut herausgelacht, aber jetzt fühlte sie ein Grausen. Und das Grausen war stärker als alles andere – warum schrie er immer: ›sie lebt‹ –?!
Sie lief in die Ecke, wo neben der Tür der Klingelzug hing, sie riß an dem aus bunten Perlen gestickten Gehänge, daß ihr der rubinrote Glasgriff in der Hand blieb. Der Doktor sollte herunterkommen, rasch! Doktor Hirsekorn! Doktor Hirsekorn!
Als er in die Stube trat, flüchtete sie sich zitternd zu ihm: welch ein Glück, daß er da war! Der da war wohl verrückt?!
*
Der Doktor selber brachte den jungen Längnick nach Hause. Willig ließ sich Paul fortführen, jede Erregung schien jetzt von ihm gewichen. Ruhig hörte er an, was der Arzt zu ihm sagte. Sie fuhren durch die Felder im glänzenden Sonnenschein, die freie Luft wehte belebend in den geöffneten Wagen.
Hirsekorn ließ es sich angelegen sein, den jungen Mann auf den guten Stand der Saaten aufmerksam zu machen: das waren vielversprechende Aussichten, nicht wahr?
»Was bauen Sie denn besonders, Herr Längnick? Auch hauptsächlich Roggen und Kartoffeln?« Doktor Hirsekorn fragte viel, und dabei beobachtete er das rote echauffierte Gesicht seines Gefährten, in dem die Augen bald starr auf einem Punkt hafteten, bald unstet umherfuhren. Es war wohl nicht mehr viel los mit der Landwirtschaft, was? Berlin kam zu nahe. Hatte er auch schon an eine Terraingesellschaft losgeschlagen?!
Aber Paul Längnick blieb teilnahmslos. Nur als sie sich den ersten Scheunen vorm Dorf näherten, faßte er plötzlich nach des Doktors Hand; er drückte sie. »Ich danke Ihnen. Bitte, besuchen Sie mich. Ich glaube, ich habe manchmal 'nen Doktor nötig!«
Aber Rieke Längnick schien es nicht nötig zu finden, einen Arzt für Paul zu Rate zu ziehen. Mit abweisendem Mißtrauen betrachtete sie den Fremden, den ihr der Sohn ins Haus brachte. In Paul war eine Art Gastlichkeit erwacht, er ließ nicht nach, der Doktor mußte durchaus einen Augenblick ins Klavierzimmer, wo von der roten Tapete Ethels große Photographie herunterblickte.
Hirsekorn fiel das Bild sofort auf: aha, das war wohl die jungverstorbene Frau, von der Marianne Badekow ihm rasch zugeflüstert hatte. Ein wehmütiges Gesichtchen! Unwillkürlich sah er immer wieder hinauf.
»Meine Frau«, sagte Paul Längnick. Weiter nichts.
Aber als der Doktor ihn dann ansah, dann wieder das Bild und dann die alte Frau mit den harten Zügen und der Nase, die wie ein Geierschnabel über dem gekniffenen Munde hing, deren scharfe Augen über ihn hinfuhren, als wollten sie alles ausmerzen, was ihr irgendwie nicht paßte, da sagte er sich: die da oben hatte das bessere Teil erwählt. Sie war gegangen.
Paul ließ Wein bringen: der Doktor sollte, mußte einmal ein Glas vom Besten probieren!
Hirsekorn wollte ablehnen,, aber es half ihm nichts; sich selber schenkte Paul Längnick rasch hintereinander zweimal das Glas voll. Der Arzt konnte nicht umhin, – wenn die alte Frau ihn auch abweisend ansah und wenn es ihm auch nicht zukam, hier ungefragt einen Rat zu erteilen – zu sagen: »Sie sollten lieber nicht so viel trinken. Es tut Ihnen nicht gut!«
»Wat?« Der abweisende Blick der Alten wurde jetzt geradezu feindselig.
»Nich mal trinken soll er, wenn er Lust drauf hat? Wat einem schmeckt, bekommt einem ooch. Trink du man ruhig, Paule!« Sie lachte geringschätzig. »Wat so'n Stadtdokter für 'ne Ahnung hat von'n richtigen Tempelhofer und wat dem jut tut!«
Es wollte den Arzt bedünken, als sähe sie ihn dabei höhnisch an. Das reizte ihn. Oder sprach sie nur aus lauter Dummheit so? Nein, sie wollte ihn so ärgern, daß er nicht mehr wiederkam. Aber er würde wiederkommen, trotzdem! »Auf Wiedersehen, Herr Längnick!« Er stand auf. »Jetzt muß ich fort!«
»Aber Sie kommen wieder?« Wie ein Knabe sah der breitschulterige Mann, der vornübergebückt am Tische saß, zu ihm auf.
»Gewiß. Wenn Sie mich mal brauchen, schicken Sie nur nach mir – Belle-Alliance-Platz, dicht am Halleschen Tor, Schild habe ich am Hause. Ich stehe jederzeit gern zu Ihrer Verfügung!«
»Wir brauchen keenen Doktor!« Rieke Längnick sagte es grob. Eine plötzliche Abneigung hatte sie erfaßt gegen diesen Doktor mit den spähenden Augen, vor die er sich jetzt sogar noch einen Klemmer setzte. Sie stützte beide Hände auf die Tischplatte und kehrte ihm ihr Gesicht voll zu.
»Wir sind kernjesund. Un wenn uns mal wat ankommen duht, denn haben wir unsern ollen Schmidt – fremde Dokters brauchen wir hier nich!«
Das war unverschämt deutlich von der Tempelhofer Bäuerin. Aber ebenso deutlich gab ihr der Berliner zurück: »Ich komme ja nicht zu Ihnen. Ich komme zu Herrn Längnick. Also auf Wiedersehen!«
Schwerfällig gab ihm Paul das Geleit.
Die Längnick beachtete kaum des Doktors Abschiedsverbeugung, eine Grimasse schnitt sie hinter ihm drein: so einer! Eben hatte sie den Paul nun wieder so weit, daß er doch mal auf andere Gedanken kam, und nun kam so ein aufgeblasener Nichtswisser daher, so ein eingebildeter Pflastertreter, und redete ihm ein, er dürfe nichts trinken. Warum denn nicht? Und wenn Paul sich auch mal betrank, war es nicht besser, er hatte, berauscht, glückliche Stunden, als ohne Rausch lauter unglückliche? Der Kopf sank ihr auf die Brust. Freilich wäre es gut, wenn er nicht so viel zu trinken brauchte, aber –!
Jetzt hob sie wieder den Kopf. Hoch reckte sie sich und warf dem Bild der jungen Frau einen festen Blick zu: wie lange noch, und er hatte die vergessen!
Vergessen hatte Paul Längnick seine Ethel nicht; das Denken an sie war nur nicht mehr ganz so schmerzvoll. Er saß jetzt nicht mehr Stunden um Stunden vor ihrem Bild.
Das war eine große Genugtuung für Rieke. So hatte sie also doch das Richtige ergriffen, um ihn abzubringen von seiner Kopfhängerei! Freilich, die Sache mit Britz nahm noch immer keinen Fortgang. Einmal nur erst war Paul dortgewesen, und da war er unglücklicherweise mit diesem Doktor zusammengetroffen. Was hatte der Kerl eigentlich in Britz gewollt?!
Rieke Längnick witterte in ihm einen Menschen, der ihr nicht paßte. Wenn jemand in Britz krank war, warum ließ die Marianne nicht wie sonst Doktor Schmidt holen? Der hatte ihr ihren Alten doch schnell genug in die Grube gebracht; Christian Badekow hätte es vielleicht noch länger machen können. Wer war denn eigentlich krank in Britz?! Das ließ der Längnick keine Ruhe.
Sie ging hinüber zur Badekow, aber da wurde sie auch nicht klüger. Teilnahmsvoll erkundigte sie sich nach Mariannes Befinden: war sie krank? Hatte sie etwa Zucker? Christian Badekow war auch an Zucker gestorben.
Aber die Mutter war völlig ruhig über Mariannes Gesundheitszustand. Für wen der Doktor dagewesen war, das wußte sie nicht.
Doch Rieke Längnicks scharfes Auge bemerkte, wie unangenehm Hanne ihr Fragen war. Überhaupt ihr Besuch. Aber hartnäckig blieb sie sitzen. Sie mußte es erst herausbringen, warum der Doktor in Britz gewesen war. Sie erkundigte sich, um Grund zum Bleiben zu haben, nach allen Kindern. Daß der Jakob ein schwindelhohes Haus gebaut hatte, und daß es auch mit der Auguste nicht so recht nach Wunsch ging, das hatte sie bald heraus. Aber wie ging es mit der Mieke?! Die Längnick sah der Cousine flüchtiges Rotwerden – halt, da mußte etwas nicht stimmen! Was war mit Mieke los?
Mieke, Mieke, Mieke – nun nannte sie die dreimal und öfter in einem Atem.
Aber Hanne sammelte sich. Sie hatte soviel darüber nachgedacht und gegrübelt, daß sie nun wußte, wie sie sich zu verhalten hatte. Ganz ruhig sagte sie: »Mieke is bei Mariannen, die fühlt sich so einsam jetzt. Un ich kann Mieken entbehren.«
Die fühlte sich so einsam jetzt! Aha! Nun wußte Rieke Bescheid. Also darum der Doktor? Aber, warte, sie war auch noch da!
Sie ging heim. Paul mußte heute wieder nach Britz, und wenn sie selber ihn hinbringen sollte! Aber Paul war fortgegangen.
»Er is nach'n Kirchhof«, sagte der Knecht, der letzte von denen, die noch zu Ethels Zeiten bei den Längnicks gedient hatten. Rieke hatte mit dem sämtlichen Personal gewechselt. Nun grinste er die Frau an, er wußte, daß er sie ärgerte: »Wegjeloofen is er, wat haste, wat kannste. Se sind da von Berlin mit's Jrabdenkmal. Es soll wunderschön sind – 'n reizender Engel, akkerat so eener wie unsre junge Frau war!«
Rieke biß sich die Lippen: kam die ihr doch wieder in die Quere?! Auch sie machte sich zum Kirchhof auf.
Paul hatte für seine Frau ein Grabdenkmal bestellt. Aus weißem Marmor. Es war ihm im Leben nichts zu teuer für sie gewesen; auch jetzt war ihm nichts kostbar genug. Ein großer Block war nötig gewesen für die Figur in Lebensgröße, die, in faltenreichem Gewande, halb Frau, halb Engel – nur die Flügel fehlten – am Sockel eines Kreuzes stand und mit der Rechten nach oben wies. Der Künstler hatte gar nicht daran gedacht, seiner Gestalt die Züge der jungen Frau zu geben, es war das übliche süße Gesicht, das mit frommem Augenaufschlag nach oben lächelte, aber Paul stand wie erstarrt.
Das war ja Ethel, seine Ethel! Er erkannte sie deutlich. Das waren ihre lockigen Haare – so hatte er sie gesehen zum ersten Mal, genau so – lang und wellig waren sie ihr über die Schultern geflossen. Und das war ihr zartes Händchen! Gerade so fiel ihr der weite Ärmel vom Handgelenk zurück und ließ den weißen Arm sehen. Ach, und so hatte sie nach oben geblickt, oft, sehr oft, wenn sie am Klavier saß und spielte!
Die Steinmetzen und der Fuhrmann, die das Monument herausgeschafft, hatten den Kirchhof verlassen, um sich im Ausschank zu stärken. Einsam stand die weiße Figur zwischen den Gräbern. Sie war noch nicht am rechten Fleck; erst wenn der Meister selber herauskam, sollte sie auf den Grabsockel gehoben werden. Sie stand am Wege wie eine weißgekleidete Frau. Die Sonne, die ihr über die Marmorwangen spielte, machte sie lebendig.
Paul hatte lange, lange gestanden, sie stumm angestiert. Das huschende Sonnengaukeln täuschte ihn und die aufflackernde Sehnsucht. Dann, mit einem Schrei, der den stillen Friedhof verstörte, der zwischen den efeuumsponnenen Hügeln durchfuhr, die Schläfer unter ihnen jäh aufzuschrecken, stürzte der Witwer vor seiner Frau nieder. Nun hielt er ihre Kniee umklammert, nun drückte er das Gesicht an ihr Gewand. – –
Rieke Längnick sah den Sohn liegen. Sie war zum Mauerpförtchen hereingetreten, sie bückte die Stirn, die sie sonst an dem niedrig gemauerten Bogen, der den Eingang überwölbte, gestoßen hätte. Hochgereckt war sie dahergekommen, jetzt war sie geduckt.
Das hatte sie doch nicht gedacht, daß es den Paul noch so hinreißen würde. Wie er dalag! Das helle Sonnenlicht wurde ihr auf einmal dunkel vor den Augen, wie Spinnweben hängte sich etwas vor ihren Blick. Sie war eine Hartgeschmiedete, sie hatte ihr Leben lang sich nicht abgegeben mit weichen Gefühlen, aber nun packte sie etwas an. Wie einen körperlichen Schmerz fühlte sie es an ihrem Herzen. Sie mußte aufseufzen: ihr Paul, ihr Sohn, da lag er und winselte wie ein Hund!
Sie rief ihn leise, er hörte sie nicht. Sollte sie noch einmal lauter rufen? Sollte sie nähergehen, ihm die Hand auf die Schulter legen: »Komm, Paule! Ick bin nu da!?« Sie traute sich nicht. Sie blieb am selben Fleck stehen. Und sie mußte hinsehen, immerfort hinsehen. Ärgerlich hätte sie werden mögen – wozu so ein Getue? – aber sie konnte es nicht. Es war des Sohnes großer Schmerz, der sie bannte. Eine Scheu erfaßte sie: nein, auch sie durfte ihn jetzt nicht stören! So wartete sie geduldig.
Amseln liefen, wie Hühner gackernd, scheltend, wie emsige Frauen über den kiesbestreuten Weg; es gab viel Würmer im beschatteten Kirchhofsgrund. Ein Fink rief sein ›Pink, pink‹ zutraulich-nah im knospenden Fliedergebüsch.
Von den Wohnungen der Toten stieg ein Duften auf nach treibendem Leben, nach erdiger Kraft. Die weiße Marmorgestalt leuchtete im Sonnengold, sie ragte über den Mann zu ihren Füßen. Strahlend stand sie, gleichsam siegend; die Hand, die sie nach oben hob, schien zu gebieten: ›Still, nur ich bin hier!‹
Eine heiße Ungeduld faßte plötzlich die Längnick: wie lange sollte das denn noch dauern?! Mit Kraft schüttelte sie jetzt alle Weichheit ab. Sollte sie etwa noch lange hier stehen am Torpförtchen? Und ihn am Boden liegen lassen?! Starken Schrittes ging sie auf den Sohn zu und legte ihm die Hand fest auf die Schulter: »Steh auf!«
Aber er wollte nicht aufstehen: sie sollte allein nach Hause gehen, er ging nicht mit, er blieb hier. »Meine Frau!« Zärtlich streichelte seine Hand über den Marmorleib.
Die Längnick lachte hart auf: »Deine Frau?! Stein is se un Stein bleibt se – die sagt keen Wort!«
Da fuhr sich Paul Längnick über die Stirn, als wolle er etwas wegwischen. Die Mutter brauchte ihn jetzt nicht mehr aufzuzerren mit Gewalt, er stand nun schon von selber auf. Er war sehr bleich und schauderte. »Sie sagt nichts«, murmelte er. Er faßte die Mutter ums Handgelenk und preßte es krampfhaft: »Stein is se – Stein bleibt se – ja, komm, Mutter!«
Sie verließen den Kirchhof. Der Sohn lief der Mutter mit hastigem Schritt vorauf. Jetzt wollte auch er nach Hause; ein Gedanke war plötzlich in ihm aufgedämmert – der Gedanke an seine Kinder. Er sah sie so wenig; es war ihm bis jetzt immer genug gewesen, wenn er wußte, sie sind versorgt.
Heute wollte er sich ins Kinderzimmer setzen. Ach, vielleicht daß er in ihnen etwas von Ethel wiederfand, etwas Lebendiges! In ihren Gesichtchen wollte er danach suchen. Eine fast krankhafte Neugier war in ihm, es quälte ihn: sehen, sehen, suchen, in den lebendigen Kindern nach der toten Mutter suchen! Er lief.
Rieke hielt mit ihm Schritt. Aber als sie an Kiekebuschs Ecke kamen, packte sie ihn am Ärmel. »Na, halt man, renn man nich so vorbei. Jeh man 'n bißken rin!«
Aber er schüttelte verneinend den Kopf, sein verstörter Blick hastete weiter.
»Hörste, drinnen sitzen se beim Dämmerschoppen? Ja, die freuen sich ihres Lebens!«
Lachen klang heraus. Das war Bauer Hahnemanns Stimme, sein Lachen breit und fett. Und nun schlug jemand auf den Tisch: »Hohohohohoho!«
Das kam so recht von innen heraus. Wie Neid ging es über des jungen Witwers Gesicht – die konnten lachen?! Wer doch auch lachen könnte!
Er strebte nicht mehr, seinen Ärmel vom Griff der Mutter freizumachen und weiter zu eilen; jetzt stand er still.
»Hörste«, sagte die Mutter wieder und nickte, »die sind fidel!«
Ein tiefer Seufzer entrang sich der Brust des Sohnes. Noch zögerte er unentschlossen, Verlangen und Abneigung stritten auf seinem Gesicht.
Aber die Mutter, die seine Miene belauerte, sah nicht seine Qual, sie sah nur seine Unentschiedenheit.
Und sie schob ihn vorwärts, der Wirtshaustür zu.