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XIII.

Rieke Längnick hatte ihren Spion wieder hervorgeholt. Sie hatte ihn schon zum alten Eisen geworfen gehabt, zwischen die Haken, die Klammern, die großen Nägel, die zerbrochenen Werkzeuge, zwischen all den verbogenen, verrosteten, nicht mehr nutzen Kram, den sie im Hinterhaus, in dem öden Raum, in dem man vormals Frucht aufgeschüttet hatte, sorgsam in einer großen Kiste verwahrte. Jetzt konnte sie ihr Spiönchen wieder gebrauchen; jetzt wohnte sie wieder vorne heraus.

Nach dem Tode der jungen Frau war die Mutter zum Sohn in die Villa gezogen; er hatte es nötig, er konnte doch nicht so ganz allein sein.

Spähend blickten der Längnick Augen hinüber zu Badekows: was ging denn da vor?! Nun war schon zweimal ein fremder Herr drüben gewesen. Das erste Mal war er mit Johann in der Kutsche gekommen; und jedesmal wurde er so höflich hinauskomplimentiert. Wer war es? Der städtische Herr war doch nicht etwa gar ein Freier, ein Freier für die Marianne?! Ein plötzlicher Schrecken befiel Rieke.

Nun Ethel im Grabe lag, waren alte Pläne in ihr wieder auferstanden: die Millionenwitwe war noch immer zu haben. Und das ging doch nicht an, daß Paul immer und ewig der Engländerin nachtrauerte. Es war seit ihrem Tod schon ein halbes Jahr her, er mußte daran denken, seinen Kindern eine neue Mutter zu geben und selber doch auch noch etwas von seinem Leben zu haben. Und die Millionenwitwe war ganz die Rechte dazu – die Einzigrichtige. Wenn nur kein anderer sie dem Paul wegschnappte!

Mit eifersüchtigen Blicken bewachte die Späherin Badekows Haustür; doch der Herr, in dem sie den Freier witterte, ließ sich nicht mehr sehen. Aber auch von der Millionenwitwe war nichts zu erblicken. Das war wiederum etwas, das der Längnick Sorge machte. Was hatte die Marianne denn jetzt so Wichtiges vor, daß sie nicht wie sonst alle paar Tage zur Mutter kam? Es war wirklich an der Zeit, die Sache ernstlich in Angriff zu nehmen: Paul mußte hin zu ihr nach Britz. Es würde freilich schwer halten, ihn dazu zu bringen.

Paul Längnick verbrachte seine Tage in einem stumpfen Trübsinn. Sein Licht war erloschen; es wurde nicht mehr hell in ihm. Stumm saß er vor der großen Photographie, die er nach einem kleinen Visitbildchen Ethels hatte vergrößern lassen. Die Züge waren härter dadurch geworden, fast fremd, der weiche Liebreiz war aus ihnen fortgewischt, aber seine Blicke hingen doch daran; es war ja das einzige, was ihm von ihr geblieben war. Er hatte für nichts anderes mehr Auge; an seine Kinder dachte er nicht.

Die Großmutter hatte eine tüchtige Wärterin für die zwei Kleinen angenommen, sie waren ganz gut versorgt.

Wie konnte sie ihn nur aus diesem stummen Anstarren reißen?! Die Längnick hatte es sich zur Aufgabe gemacht, den Sohn zu kontrollieren; er wußte es nicht, er merkte es nicht, aber ihr Auge war über ihm allezeit. Was? Auch nun sie tot war, die Wachspuppe, das spillrige Ding, auch jetzt, wo sie nun weg war, nahm sie noch so viel vom Paul an sich?!

Rieke Längnick ballte die Faust, wenn sie durchs Schlüsselloch sah, wie des Sohnes Augen am Bilde hingen, wie er es anstarrte, ohne sich zu regen – halbe Stunden, ganze Stunden, Stunden um Stunden. Und dann zuletzt weinte wie ein kleines Kind. Selbst nachts, wenn der heiße Wunsch ihn auch dann zu kontrollieren, und Sorge, Angst, Liebe und Haß die Mutter nicht schlafen ließen, sie vor seine Zimmertür hetzten, selbst dann schlief er nicht, sie hörte ihn hin und her gehen. Lichtschein fiel durchs Schlüsselloch, er war aufgestanden, er schlich in den Salon, sie schlich hinter ihm drein. Da hing die große Photographie in dem breiten Goldrahmen, er fiel auf den Sessel vorm Flügel nieder, stemmte beide Arme auf die verstaubte Politur und starrte zum Bilde hinauf.

Dann wurde das harte Frauengesicht, um das die grauen Haarsträhnen unter der Nachtkappe hervorzüngelten, ganz fahl. Die Gestalt, die barfuß, in kurzem Unterrock, in kattunener Jacke nun schon so lange lauschend stand, erzitterte: die Tote auf dem Kirchhof draußen, die hatte doch immer noch mehr von ihm als die Lebendige im Hause hier! So konnte und sollte das nicht weiter gehen.

Die Mutter war es, die den Sohn ermunterte, doch wieder einmal zu Kiekebusch zu gehen: da saßen sie alle und warteten auf ihn und würden sich so freuen, ihn wiederzusehen; er mußte doch mal wieder unter Menschen kommen!

Aber Paul ging nicht. Ethel hatte das Wirtshausgehen nicht leiden mögen, Ethel hatte auch gesagt: »Trink nicht so viel« – nein, nun wollte er auch nicht.

Da holte die Längnick aus dem eigenen Keller eine verstaubte Flasche herauf. Sie entkorkte sie, ein Duft nach altem Ungar entstieg ihr; sie schenkte ihm voll ein, sie setzte sich zu ihm.

»Schmeckt nich so alleine«, sagte er mit trostloser Verdrossenheit und schob das Glas von sich.

Sie schob es ihm wieder hin: »Trink man, det jibt dir Trost!«

Da trank er sein Glas leer, hastig, auf einen Zug; und sie schenkte ihm wieder ein.

Rieke Längnick hatte in ihrem Leben nie etwas getrunken, das hatten die Männer der Familie immer zu gut besorgt; nun aber trank sie. »Schmeckt nich so alleine«, hatte Paul gesagt. Nun trank sie mit ihrem Sohn. Er sollte vergessen, er mußte vergessen.

Alle Abende saßen sie so beisammen; und sie tranken Flasche um Flasche.

Jetzt wollte es Rieke schon bedünken, Paul sei nicht ganz so traurig mehr. Nun starrte er doch nicht immer und immer nur das dumme Bild an. Und jetzt hörte er auch auf sie, als sie ihm vorschlug: »Jeh doch man bei Kiekebusch. Et tut dir jut, ick sage dir. Jeh man, jeh!« –

Früher, ganz früher, ehe Ethel gekommen war, hatte der junge Längnick seinen Stammsitz im Wirtshaus gehabt; jetzt hatte er ihn wieder. Kein Mensch wunderte sich darüber: Art läßt nicht von Art, der Alte hatte ja auch getrunken.

Es wurde nun immer recht spät. Wenn die Soliden nach Hause gingen, blieb der junge Längnick noch sitzen; es fanden sich immer ein paar, die mit ihm aushielten. Warum sollte er auch nach Hause gehen? Da war Ethel nicht mehr. Da war nur die Erinnerung und die Sehnsucht – er blieb lieber hier.

Die Längnick hatte gestörte Nächte. Alle Nacht saß sie auf und wartete auf ihren Sohn, denn einmal war er heimgekommen, hatte das Schlüsselloch nicht finden können, hatte einen bösen Fall getan und sich an den Spitzen des Gatters das ganze Gesicht verkratzt. Das durfte nicht mehr sein. Jetzt blieb das Gitter weit offen, und wenn er dann an die Haustüre schlug, war sie gleich da und machte ihm auf. Sie mußte sehr lange auf ihn warten.

Aber lieber warten, warten bis zum Morgengrauen, warten bis in die Ewigkeit, als daß sie es zugab, daß er das Bild anstarrte, das Bild der Wachspuppe, die mit den großen Augen von der Wand herunterblickte, als wäre sie noch lebendig. Jetzt konnte er wenigstens abends und nachts die nicht mehr ansehen und morgens auch nicht, denn dann schlief er oft bis spät in den Mittag hinein.

Paul lachte jetzt auch zuweilen, wenn er von Kiekebusch nach Hause kam. Rieke hatte dann viel Mühe, ihn zu Bett zu bringen, mehr Mühe als sie bei seinem Vater gehabt hatte; der war einfach steif voll gewesen, aber jetzt mußte sie immer sagen: »Paule, na, wart man schon, Jeduld! Man nich so wild, so fix jehn die Stiebeln nicht runter! Na, warte man, wenn dir erst die Millionenwitwe zu Bette bringt!«

Wenn die Längnick den Sohn dann endlich zur Ruhe hatte, strich sie noch lange durch die Räume der neuen Villa. Wie eine Furchtsame guckte sie in alle Ecken. Sie schrak dann zusammen bei einem Knistern der Tapeten, bei einem Knacken der Möbel. Ging da nicht jemand, ganz leise? Schlich nicht etwas an der Wand entlang? Und schlüpfte nach der Kinderstube? Und dann an den Flügel? Klang es nicht wie Geklimper? Die Saiten des Klaviers schwirrten, ein kaltes Wehen ging durch die Stuben.

Sich fester in das Tuch einwickelnd, das sie fröstelnd über ihre Nachtjacke geworfen hatte, nahm Rieke Längnick ein Licht in die Hand. Sie leuchtete alle Ecken ab, sie sah in allen Winkeln nach, sie ging treppauf, treppab. Nirgendwo war jemand versteckt, alles leer.

Es waren nicht Menschen, vor denen sie sich fürchtete.

 

Bei Kiekebusch war man übereingekommen, dem jungen Längnick nicht all das zu geben, was er bestellte; er merkte dies übrigens ja auch nicht. Wenn er fünf Gläser Bier trank und statt der sechs Schnäpse nur vier, so war das schon genug für ihn; er konnte jetzt gar nichts vertragen. Er sah für gewöhnlich schon aus, als wäre er betrunken: die Augen glotzend, das Haar verwirrt, und die Miene teilnahmlos. Sein Schädel schien fast noch dicker geworden zu sein. Und wenn man ihn anredete, gab er nur kurze Antwort oder auch keine; er hörte gar nicht recht zu. Um seine Ackerwirtschaft kümmerte er sich auch nicht mehr, die Alte besorgte alles. Es war ja auch nicht viel mehr damit zu tun.

Allenthalben in Tempelhof schrumpften die Betriebe ein, es lohnte sich nicht mehr, so wie früher den Feldbau zu betreiben und die Viehzucht; wenn man das Land verkaufte, kam man weit besser weg.

Die Landverkäufe gingen noch immer weiter, es kam viel Geld nach Tempelhof.

An der Gemarkung des Dorfes und an den Sandhöhen von der Hasenheide bis nach Alt-Schöneberg, die Stadtgrenze entlang, wo in alten Zeiten die Weinberge gewesen waren, rührte sich jetzt überall die Bautätigkeit. Grenzsteine wurden verrückt, Ackerfurchen glatt gestampft, Buschwerk ausgerodet, Tümpel zugeschüttet, Kuten ausgefüllt, Sand abgekarrt, und dafür anderes zugekarrt: Steine, Ziegel, Bretter, Balken, Pfeiler, Eisenträger, Schienen. Binnen kurzem sollte der Bahnhof der Berlin – Tempelhofer Pferdeeisenbahn fertig werden, und auch der mächtige Bau des Garnisonlazaretts nahm seinen Fortgang. Die dicken Schornsteine der großen Brauereien und einer chemischen Fabrik pusteten ihren Rauch auf die Chaussee. Den einsamen Pappeln, die den Anfang des Feldes säumten, rückten immer näher und näher hochstöckige Mietskasernen auf den Leib.

Aber der Kern des ungeheuren Feldes, jene riesige Brache, über deren flachen Teller die Himmelsglocke sich stülpt, war immer noch einsam. Sie blieb auch einsam, selbst jetzt, wo ringsum schon Leben war. Wer Verschwiegenheit suchte, konnte hierher gehen, er fand noch stille Plätzchen genug.

Von Tempelhof her kam Ida Lietzow. Sie eilte. Und alle paar Schritte drehte sie sich um: kam auch niemand?!

Früher hätte sie sich gefürchtet, wären nicht Menschen auf Rufweite gewesen und Häuser in der Nähe, jetzt hatte sie keine Scheu mehr. Vergangenen Herbst schon war sie oft hier gegangen, seitab von der Chaussee diesen kleinen Fußpfad, der, wie verwischt, nur dem Kundigen erkennbar, durch Sand und verdorrtes Gras führt.

Das war ja alles Unsinn, was Karl ihr damals erzählt hatte vom Franzosenpfuhl, an jenem Abend, an dem sie von der Illumination übers Feld zu Fuß nach Hause gegangen waren. Karl war damals betrunken gewesen – so wie jetzt immer! Geringschätzig zog sie die Mundwinkel herab. Er hatte sie bloß quälen wollen. Aber jetzt konnte er sie gar nicht mehr quälen, er war ihr so gleichgültig; sie hatte keine Gemeinschaft mehr mit ihm.

Und wenn das kleine Ding, die Hulda, sie etwa verraten wollte – die sah ja alles mit ihren niederträchtigen Augen – dann sollte die nur schwatzen! War sie etwa eine Sklavin, daß sie sich von diesem Mann und diesem Kind zwingen ließ? Oho!

In den braunen Augen der jungen Frau flammte es auf. Sie war in Trauer, ihr Vater, der Wachtmeister, war Weihnachten gestorben; sie hatte nun nicht die Ausrede mehr: »Ich muß zu Vater nach Berlin« – pah, sie brauchte auch keine Ausrede mehr, sie ging eben auf eine Stunde, auf zwei Stunden, auch noch auf länger fort, ganz wie es ihr beliebte. Jetzt wurde es Frühling. Gott sei Dank, der eklige Winter war vorbei, in dem es fast unmöglich gewesen war, sich draußen zu treffen! Jetzt würden sie wieder zusammenkommen auf dem Plätzchen an dem umbuschten Tümpel, wo man ganz verborgen saß zwischen den sandigen Hügeln.

Ein Lächeln umspielte den eben noch so herben Mund Ida Lietzows und machte seine Lippen begehrenswert. Sie ging mit einem weichen Wiegen der Hüften, mit einem lässigen Schlenkern der Arme; immer weiter ging sie mit diesem Lächeln. Sie ging zum Stelldichein mit Julius Paschke.

War es nicht eigentlich toll, wie sehr sie sich in diesen Mann verliebt hatte?! Ida warf den Kopf in den Nacken: es gab doch auch noch andere Männer! Aber diese Bauern, die sie täglich zu Gesicht bekam, die waren eben nichts für eine, die feiner gewöhnt war. In ihrer frühesten Jugend, noch nicht sechzehn war sie gewesen, da hatte sie einmal einen Leutnant gehabt, das heißt, der Vater war dahinter gekommen und hatte sie gleich geprügelt; sie war ein hochanständiges Mädchen geblieben. Und dieser Leutnant hatte einen Siegelring getragen wie Paschke, aber nicht halb so elegant war er gewesen, Paschke trug dazu noch einen Brillantring auf dem kleinen Finger.

Ob er schon da war? Er hätte ihr doch wohl entgegenkommen können! Sie fühlte eine lebhafte Ungeduld. So lange hatten sie sich nicht gesehen, Wochen nicht. Es hatte geregnet und geschneit, gestürmt und geschloßt, ein Schmutz war gewesen, daß man bis über die Knöchel waten mußte. Man hatte gelebt wie im Gefängnis. Schlimmer konnte es im Zuchthaus nicht sein; man war abgeschnitten von allem. Eine Lautlosigkeit hatte über Tempelhof gelegen, eine Verschlafenheit zum Verzweifeln. Mit Unlust war man aufgestanden, man hatte ja vom Tage nichts, gar nichts zu erwarten; mit Unlust war man zu Bett gegangen, auch die Nacht brachte nichts als einen schweren, bleiernen Schlaf. Selbst der Schlaf war langweilig in Tempelhof. Ah, wie anders war's doch in Berlin! Da waren die Straßen hell die halbe Nacht, da konnte man sich amüsieren, und kein Mensch paßte auf. Ha, da war Leben, Leben!

Mit heimlichen Tränen hatte die aufs Dorf Verschlagene den langen Winter durch an ihr Berlin gedacht. Verbissen war sie im Hause umhergegangen; es lohnte sich ihr nicht einmal, sich ordentlich anzuziehen. In Tempelhof lohnte sich alles nicht. Die ganzen dunklen Wintertage war Ida in demselben alten Rock herumgeschlumpt, ihre niedergetretenen Pantoffeln schlorrten, stiebende Federfläumchen hingen in ihrem Haar. Und wehe, wer ihr verquer kam!

»Sie kommt!« hatte die kleine Magd ängstlich dem Hausburschen zugeraunt, und sich scheinbar eifrig über ihre Arbeit gebückt. »Sie kommt!« hatte Karl gemurmelt und sich in seinen Ausschank zurückgezogen. »Sie kommt!« Sich duckend war Hulda an der Stiefmutter vorbeigeschlichen.

Aber jetzt, jetzt! Idas Herz, das sich vor Ungeduld verzehrt hatte, hüpfte heute: sie ging ihm ja entgegen. Wie ein ganz junges Mädchen übersprang sie die Wasserpfütze, die noch in einer kleinen Vertiefung des Bodens stand. Ihr verschlossener Mund öffnete sich, sie summte etwas. Horch, die Vögel sangen auch!

Eine Lerche schwirrte tirilierend nahe vor der Frau auf und fiel ein Stückchen weiter in ein dichteres Grasfleckchen wieder ein wie ein rundes Bällchen. Und nun schoß ein zweiter Vogel auf und stürzte sich auch da nieder, wo der erste verschwunden war. Aha, die suchten sich! Ida hatte sonst nie die Natur beobachtet, sie hatte gar kein Auge dafür gehabt; heute sah sie auf einmal, daß es hier gar nicht so häßlich war. Das öde Feld war wie ausgetauscht. Ach Gott, wie war der Himmel so blau!

Es war noch kühl, ein Vorfrühlingstag, aber der Märzschnee war geschmolzen; die Pfützen, die noch da und dort zurückgeblieben waren, spiegelten alle das lachende Himmelsblau. Ein zartes Duften stieg auf von der Grasnarbe, neue Gräschen sproßten, die Schafe hatten sie noch nicht abgeweidet.

Tief atemholend, die Brust geschwellt, in den Pulsen ein Klopfen, in den Gliedern ein Prickeln, eilte das junge Weib immer hastiger voran. Es war ihm heiß vom eiligen Schritt, von den Blutwellen, die in ihm auf und ab stiegen.

Heute hatte Ida sich schön gemacht, ein gutes Kleid angezogen; und unter den Kragen hatte sie eine kirschrote Seidenschleife geknüpft. Die stand gut zu dem matten Gelbweiß ihrer zarten Haut, zu den braunen, glänzenden Augen. Sie hatte lange vorm Spiegel gestanden, an ihrem Haar frisiert: heute lohnte es sich.

Immer leichtfüßiger wurde der sonst so schlorrende Schritt. Da ragten schon die einzelnen höheren Schöpfe dunklen Kieferngestrüpps über eine Bodenwelle – das war die schützende Hecke – und dahinter war Sand, weicher Sand, ein stilles Wasser und – er!

War er das, der jetzt über die Sandwehe spähte?!

»Julius, Julius!« Sie schrie laut, sie winkte.

Der Kopf verschwand.

Er mußte sie nicht gesehen haben. Sie schrie noch einmal: »Julius!«

Hier hörte sie ja zum Glück kein Mensch!

Aber als sie den Platz des Stelldicheins erreichte, als sie hinaufstürmte auf die Sandböschung mit der Absicht, im losen Sand hinunterzurutschen, dem, der wartend unten stand, lachend so in die Arme zu gleiten, war er noch nicht da. Niemand war da.

Nach einer Weile erst kam Paschke aus entgegengesetzter Richtung langsam heran. Erst als er sie ungeduldig winken sah, beschleunigte er seine Schritte.

Aber er war nicht in gleicher Stimmung wie sie; er war mißgelaunt.

»Geschäfte«, sagte er und zwirbelte mit der beringten Hand nervös den blankgewichsten blonden Schnurrbart. Erst nach und nach steckte ihn ihre Liebeslust an. Sie ließen sich nieder.

In die versteckte Mulde des Pfuhles hatte die Mittagssonne heute hineingeschienen, kein Wind hatte die Wärme wieder hinausgetrieben. Es lag sich wohlig hier.

 

War noch jemand hier außer ihnen?! Ein Schatten war auf das den Himmel spiegelnde Wasser gefallen, leise fing der Sand an zu rieseln.

Paschke wurde unruhig. »Es wird kühl«, sagte er, obgleich Ida ihn umstrickt hielt mit ihren Armen. Er langte nach seinem Hut: es war höchste Zeit, sie mußten jetzt gehen! Es war ihm auf einmal unbehaglich geworden. Man hatte schon so manches Unheimliche gehört vom Tempelhofer Feld. Seit an der Peripherie gebaut wurde, zog sich erst recht das Gesindel hierher.

Er sprang auf; er glaubte etwas gehört zu haben hinter der Sandwehe ihnen im Rücken. »Wer ist denn da?« wollte er gerade fragen, sich umdrehen, da sah er vor sich, nur zehn Schritte weit ab, einen Kerl stehen, der ihnen zusah. Und hinterm Buschwerk kam noch ein zweiter vor. Beide lachten unbändig.

Was wollten sie?! Paschke versuchte, gleichmütig zu tun, aber es gelang ihm nicht. Die zitternde Ida hing ihm wie Blei am Arm, und er hatte nichts, gar nichts zum Schutz als einen seidenen Regenschirm.

»Den kann ick jrade jebrauchen«, sagte der erste Kerl und schlug Paschke den wie zur Abwehr erhobenen Schirm mit seinem Stock aus der Hand. Die Kerle hatten beide Stöcke, Stöcke, die so aussahen, als hätten sie Bleiknöpfe.

Verflucht! Wäre er doch nur nicht auf Idas verrückten Wunsch eingegangen, sich hier wieder mit ihr zu treffen! Eine Wut gegen das Frauenzimmer, das ihn hierhergelockt hatte, überkam plötzlich Paschke. Was sollte er jetzt machen?! Mit Blitzesschnelle erwog er alle Möglichkeiten. »Lauf!« raunte er Ida zu, und sprang dann selber davon mit einem behenden Satz.

Aber Ida konnte nicht fortlaufen. Einer der Strolche, ein breitschulteriger Mensch in zerlumpten Kleidern, hatte sie um den Leib gefaßt. Er preßte sie an sich mit roher Gewalt. Ins Gesicht sagte er ihr eine Gemeinheit; er wollte sie niederwerfen.

Sie rang mit ihm. Die Verzweiflung gab ihr die Kraft, sich zu widersetzen; sie stieß einen gellenden Angstschrei aus.

Paschke drehte sich noch einmal um; konnte er sie so im Stiche lassen?! Da bekam er einen Schlag auf den Kopf, der ihn taumeln machte. Mit beiden Händen fuhr er nach seinem Schädel – der Hut war ihm eingetrieben. Ehe er sich noch besinnen konnte, was eigentlich geschah, bekam er schon wieder einen Schlag, über die Nase, daß das Blut spritzte; es wurde ihm grün und gelb vor den Augen. Und dann wurde er zu Boden geworfen. –

Idas Kräfte drohten zu erlahmen. Sie kratzte, sie biß, sie trat, sie spuckte – aber was vermochte das gegen die Kraft, die sie unwiderstehlich niederdrückte?! Verzweifelte Hilferufe stieß sie aus, die weithin über das der Dämmerung entgegengrauende stille Feld kreischten.

»Biste stille!« Der Bursche wollte ihr den Mund zuhalten.

»Schmeiß se in'n Pfuhl rin«, sagte roh lachend der andere, der sich über Paschke hergemacht hatte. »Denn wird se'n Rand halten!«

»Hilfe! Hilfe!«

»Nanu?« Hinter der Sandwehe richtete sich plötzlich jemand auf. Es war der Rixdorfer. Da hatte er schon die ganze Zeit gelegen und das Pärchen belauscht, das so verliebt war, daß es gar nicht bemerkt hatte, wie Schicksen-Aujust und Klamotten-Ede vom waldigen Teil der Hasenheide her übers Feld herangeschlendert waren. »Nimm dir in acht, Schicksen-Aujust! De Blauen halten sonst Razzia. Man hat so schonst kaum seine Bleibe mehr hier. Laß ihr laufen; Klamotten-Ede nimmt sich sonst allens. Haste jesehen, den Brillantring? So was bringt dir die Schickse nich in!«

Sie stürzten sich alle drei wie die Wölfe über den am Boden Liegenden, ganz Betäubten.

Kaum hatte Ida den Griff des Burschen sich lockern gefühlt, so schrie sie nicht mehr. Lautlos jagte sie davon. Mochte hinter ihr geschehen, was da wollte! Sie fühlte jetzt nur, daß sie frei war, laufen konnte, laufen und daß ihr nichts geschehen war.

Der Pfad ging zu Ende, da war schon bald die Chaussee! Und jetzt kam langsam der Omnibus angezockelt.

Sie winkte ihm; sie stieg ein mit zitternden Knien, aufatmend sank sie auf die Bank. Sie war allein im Gefährt. Nun besah sie ihre Kleider; der Ärmel ihrer Jacke war ausgerissen, ein Fetzen hing am Rock, noch andere Risse klafften. Sie verbarg die Schäden, so gut es anging.

O, das verwünschte Feld! Noch schlugen die Zähne ihr. Aber je näher sie Tempelhof kam, desto mehr beruhigte sie sich; tiefer und gleichmäßiger holte sie Atem, ihr totblasses Gesicht erhielt wieder Farbe. Beim Aussteigen gab sie dem Kutscher ein Trinkgeld. Sie war gerettet.

An der Tür des Hauses stieß sie auf das Kind. Was machte der Balg nur für Augen?! Sah man es ihr denn an?!

Oben in der Schlafkammer schaute die Frau in den Spiegel, und sie erschrak. Wie sah sie aus! Wie eine, die im Graben gelegen hat; das Kleid war zerrissen und über und über beschmutzt. Das hatte sie im Omnibus alles nicht so bemerkt. Ihr Gesicht war auch schmutzig, und ein paar gehörige Kratzer hatte sie weggekriegt und – sie entblößte ihre Arme – und was für blaue Flecke!

Schaudernd schloß Ida die Augen. Nun die Aufregung nachgelassen hatte, fühlte sie sich plötzlich schwach werden. Tappend ging sie zu ihrem Schrank. Da hatte sie immer etwas Kräftigendes stehen; sie hatte ja stets soviel Ärger, ein paar Schluck mußte sie dann immer nehmen, damit ihr all der Verdruß nicht auf den Magen schlug. Sie nahm auch jetzt einen tüchtigen Schluck. Und dann kroch sie in ihr Bett und zog sich die Decke hoch herauf; ein beständiges Rieseln lief über sie hin, noch immer fühlte sie die gewaltigen Fäuste an ihrem Leibe.

 

Eine Kunde lief um: es mußte am Franzosenpfuhl wieder etwas passiert sein. Ein Mord?! Jawohl, ein Mord! Und einer, von dem man nie etwas Näheres erfahren würde, denn der Ermordete war spurlos verschwunden. Man hatte ihn wohl verscharrt irgendwo im weiten Feld, oder in einem Sack fortgeschleppt, wer weiß wohin.

Der Schäfer hatte die Neuigkeit nach Tempelhof gebracht. Heute hatte er die Schafe zum ersten Mal ausgetrieben, grasend hatten sie sich weitab verstreut. Da hatte er am Franzosenpfuhl Blut gefunden, viel Blut; der Sand hatte es zwar eingesogen, aber die dunklen Flecken waren doch noch unverkennbar. Und ein eingetriebener Hut lag daneben und eine leere Börse, deren Inneres nach außen gekehrt war und ein Paar alte Stiefel, die kaum mehr Sohlen hatten und lauter klaffende Risse. Sämtliche Kinder Tempelhofs stürmten zum Franzosenpfuhl. Lietzows Fritze schleuderte den zu einem platten Kuchen gewordenen Hut immer wieder mit dem Fuß jauchzend in die Höhe, bis er auf einmal mitten im Pfuhl versank. Da war der Spaß erst recht groß; man stökerte mit Stöcken danach, man fischte, man piekte, man stocherte, man peitschte – der Hut löste sich auf. Und so ging es auch mit dem Portemonnaie. Als die Berliner Polizei erschien, waren alle Spuren verwischt. Man erfuhr nicht, wer das Opfer gewesen war.

Als in Karl Lietzows Ausschank jemand von dem Überfall auf dem Tempelhofer Felde sprach, wurde die Frau sehr bleich. Sie schenkte gerade einen Kümmel ein, ihre Hand zitterte so, daß der Schnaps nicht ins Glas, sondern auf den Tisch lief.

Auch im Laden erzählte man vom Überfall. Da verschüttete Ida das Mehl, das sie gerade abwog, und beim Wechseln eines Talers verrechnete sie sich zu ihren Ungunsten auf fünf Groschen; sie war ganz verwirrt. Schwer lehnte sie sich, als der Käufer gegangen war, gegen das Ladenregal. War er wirklich tot? Das sollte ihr leid tun. Ihre Kniee bebten, und doch wunderte sie sich darüber, daß sie keinen heftigeren Schmerz empfand. Die Angst: wenn nun alles herauskam?! war größer als der Schmerz. Aber am Ende fand man ihn nicht? Und dann würde nichts herauskommen, denn sie selber würde nie, nie etwas sagen!

Doch der Blick der Stieftochter war ihr lästig. Eigentlich konnte Hulda ja gar nichts wissen, wenn sie ihr auch immer nachspionierte auf Tritt und Schritt. Und doch mußte diese Fledermaus, die im Dunkeln sah und überall durchschlüpfte, etwas ahnen. Hätte sie sonst solche Augen gemacht, so dumm-neugierig und dabei so schlau?!

Als eine Kundin erzählte, daß man am Tage des Mordes durchdringende Schreie einer Weiberstimme auf dem Feld gehört haben wollte, glaubte Ida im Gesicht des Kindes, das gespannt zuhörte, ein heimliches Lächeln aufzucken zu sehen. Wie würde der Balg erst tückisch grinsen, wenn er wüßte, daß die kirschrote Schleife, die man jetzt erst in einem Busch am Franzosenpfuhl entdeckt hatte – das Kieferngestrüpp hatte sie festgehalten mit seinen ruppigen Armen –, ihre Schleife war, die Schleife, mit der sie sich geschmückt hatte zum Stelldichein. Ida hatte bis dahin nichts vermißt, erst als man vom Funde erzählte, suchte sie ihre kirschrote Busenschleife und fand sie nicht; da erinnerte sie sich, Paschke hatte sie ihr mit tändelnden Fingern gelöst. Der andere mußte sie ihr abgerissen haben.

Unruhig fuhren Idas Blicke umher, sie stöberte in der Stieftochter undurchdringlichem Gesicht: wußte die was, wußte die nichts?! Mit bleichen Lippen versuchte sie ein Lächeln. Sie war noch nie so freundlich zu dem Kinde gewesen, sie lockte es an sich. In den Laden zog sie es hinein, schob ihm eine Schote Johannisbrot zu und von den roten Bonbons aus der Glasvase.

Aber Hulda schenkte dem Johannisbrot keinen Blick; scheu sah sie die Stiefmutter von der Seite an, und dann erwischte sie eine Gelegenheit und entschlüpfte. Die Bonbons ließ sie liegen.

Da erschrak die Frau bis ins innerste Herz: Hulda nahm keine Süßigkeit und war doch sonst so vernascht! Warum nahm sie von ihr nicht Johannisbrot noch Bonbons?! Das quälte Ida. Ach, wenn man's doch herauszwingen könnte, was einer sich denkt! Die Zähne zusammenbeißend, sich kaum beherrschend vor einer Wut, die aber weit mehr Angst war, ging sie umher. Und wie die Frau das Kind fürchtete, so fürchtete dieses die Frau. Was hatte die Stiefmutter vor, daß sie es in den Laden gezerrt hatte, ihm Johannisbrot und Bonbons hatte schenken wollen?! Hulda hatte Schneewittchen nicht vergessen: im Buche stand es ja, die böse Stiefmutter gab Schneewittchen einen Apfel, der war schön anzusehen mit roten Bäckchen, aber als Schneewittchen hineinbiß, fiel es um und war tot. »Sie« hatte ihr rote Bonbons zu essen geben wollen! Das Kind schauderte: o, nicht davon essen! Es hatte Angst. – – –

Wie ein Druck lastete es auf Karl Lietzows Haus, selbst die Gäste empfanden diesen; es wollte keine rechte Lustigkeit aufkommen, wenn man dort beim Glase saß. Die schöne Frau hatte manchen angelockt, aber für den gemeinen Mann war die ja doch nichts. »Sie is zu hochjeschnuffen«, sagten die Fuhrleute und Ackerknechte.

Der Besuch in Lietzows Ausschank war nie sehr rege gewesen, jetzt ließ er noch mehr nach. Das merkte Ida. Sie merkte es mit einem Erschrecken: gingen die Gäste woanders hin, um ungestörter über sie zu skandalieren?! Sie lebte in einer beständigen Angst. Alle Morgen überflog sie die Zeitung – von Paschke stand nichts darin. Kein Wort mehr hörte sie von der ganzen Geschichte. Aber ihre Angst blieb lebendig. Das hätte sie selber nicht geahnt, daß es ihr so wenig gleichgültig sein würde, was die Tempelhofer über sie sagten. Wenn sie dachte, daß sie drüben bei Gottfrieds zum Beispiel zur Bank gehauen werden würde, dann wurde sie blutrot. Vor denen schämte sie sich. Was Karl dazu sagen würde, das war gleichgültig – pah, den konnte sie ja immer noch um den Finger wickeln, wenn sie nur wollte! Es schoß ihr plötzlich ein Gedanke durch den Kopf: wie dumm war sie doch, sie mußte Karl hinschicken, den Bruder aushorchen! Lietzows waren ja mit Paschke verschwägert. Sie mußte endlich von ihrem Julius etwas hören! Das redete sie sich ein. Jetzt war ihr ihr Julius schon seit drei Nächten im Traum erschienen. An seine Adresse eine Zeile zu schicken, getraute sie sich aber nicht. Denn wenn er nicht mehr unter den Lebenden weilte, dann wurde ihr Brief aufgemacht, und wenn sie auch nur mit »I.« unterzeichnete, es konnte eine Spur abgeben, die zu ihr hinführte. Ach, armer Julius, es waren doch schöne Stunden gewesen! Sie vergoß Tränen.

In der Nacht lag sie lange wach: was für einen Vorwand erfand sie, um Karl hinüberzuschicken?! Am Morgen wußte sie Rat. Stracks ging sie ins Schenkzimmer. Sie hatte längst ihre Schlafstätte für sich allein, sie sah ihren Mann oft nicht bis Mittag; nun war er erstaunt, daß sie ihn so früh aufsuchte und daß sie ihm freundlich »Guten Morgen« bot. Vielleicht seit Wochen zum ersten Mal sah sie ihn an – pfui, wie sah er aus! Sie fand ihn abscheulich, sie begriff sich heute nicht, daß sie diesen Menschen einstmals hatte ansehnlich finden können. Freilich, er war reich gewesen – pah, so arg war das mit dem Reichtum gar nicht! Sie hatte sich viel mehr versprochen. Auch damit war sie hereingefallen. Es kostete sie eine Überwindung, den Mann anzulächeln, der da auf schwachen Beinen stand, sie verdunsen anstarrte und mit seiner verschleimten Stimme hustete. Aber sie bezwang sich: heute mußte er ja Kundschafter für ihre Liebe sein! Und überdies fing ihr die Sache jetzt an förmlich Spaß zu machen: war das nicht wie auf dem Theater? Sie setzte eine wichtige Miene auf: »Die Zigarren sind alle!«

Er nickte.

»Ich hab neue bestellt.«

Er nickte.

»Aber sie sind immer noch nich eingetroffen.«

Er nickte wieder.

»Ich muß sie aber haben«, stieß sie ungeduldig heraus und stampfte mit dem Fuß auf. »Ich habe sie bei Paschke bestellt!«

»Na jut.« Er nickte.

Das war ja zum Verzweifeln, dieser Mensch begriff rein gar nichts! Die Lippen kniffen sich aufeinander, am liebsten wäre sie nun hinausgerannt, hätte die Tür hinter sich zugeschmettert, aber –

»Geh doch mal rüber zu deinem Bruder«, sagte sie in schmeichelndem Ton und lächelte dabei sauersüß. »Ich möchte gerne wissen, warum Paschke die Zigarren nich schickt, ich brauche sie so nötig im Laden. Is er krank? Is er – is er – wo bleiben meine Zigarren? Wo – wo – is Paschke am Ende nich da?!« Sie stieß es ruckweise heraus.

»Schreib an ihn«, sagte er gleichgültig.

Es durchfuhr sie: wirklich, wenn sie das nun als Vorwand nähme? Aber nein, nein, dann mußte sie ja noch wer weiß wie lange auf einen Bescheid warten – so lange! – und sie mußte bald, gleich, jetzt, sofort wissen, woran sie war. Sie glaubte diese Ungewißheit, diese Angst nicht länger mehr ertragen zu können. »Fällt mir gerade ein, zu schreiben! Du hast nichts zu tun, lungerst den ganzen Tag bloß rum, du kannst doch wohl mal für mich rübergehn!« Sie war empört, sie vergaß ganz, daß sie ihn hatte sanft behandeln wollen. »So'n Faulpelz!« Sie sah verächtlich auf ihn herab.

Er drehte ihr den Rücken, er wollte aus der Stube gehen, da er nicht Lust hatte, mit ihr zu zanken.

Doch sie sagte rasch: »Na, bleib man, wir wollen uns wieder vertragen. Siehste, nu wollte ich mal nett zu dir sein, und nu bist du gleich eklig!« Sie schmollte; dies Schmollen paßte nicht zu ihr, aber er merkte es nicht.

Wenn sie doch immer so nett zu ihm sein wollte! Dann würde manches anders sein. Er sah sie an mit einem eigentümlichen Blick.

Sie glaubte ein Mißtrauen in diesem Blick dämmern zu sehen: er merkte doch wohl etwas? Hatte sie sich verraten? Eine Röte schoß ihr ins Gesicht, sie wendete sich ab, um ihre Verlegenheit zu verbergen.

Da legte er ihr die Hand auf den Nacken. Sie trug immer den Hals frei; nun fühlte sie seine feucht-kalten Finger auf ihrem warmen, bloßen Fleisch. Es durchschauderte sie, wie seine zitternde Hand über ihren Hals hintastete. Sie mußte an sich halten, um nicht laut aufzuschreien, aber sie hielt still. Das tat sie ja alles Paschke zuliebe – ach Julius! Sie hätte weinen mögen über sich selber: welch eine Dulderin war sie doch! –

Langsam war Karl Lietzow zum Bruder hinübergeschlorrt. Im Grunde ging er nicht gern. Die Brüder hatten sich nie gut vertragen. Gottfried war immer so einer gewesen, dem nichts am Zeuge zu flicken war. Karl brummte: was war das doch für ein Eigensinn von der Ida, daß sie durchaus jetzt Bescheid haben mußte wegen der Zigarren! Es eilte doch gar nicht. Wenn sie ordentlich nachsehen würde, würde sie schon noch irgendwo Zigarren genug finden.

Verdrossen klopfte er an der Wohnstube an – die Haustüren standen immer offen in Tempelhof – kein Mensch sagte »Herein«. Er trat ein – leer. Er steckte den Kopf nebenan in die Stube, auch niemand. Dann ging er suchend auf die andere Seite des Flurs. Alles so nett, die Betten schneeweiß gedeckt, die Dielen blank wie neugestrichen, durch die lichten Gardinen helle Sonnenkringel überall. Die Helle blendete Karl. Drüben bei ihm war's dunkler – Schattenseite. Aber ein bißchen sauberer könnte es Ida wahrhaftig doch halten! Er stand und sah sich um: weiß Gott, der Gottfried wohnte hübsch! Ja, der hatte es immer verstanden, sich das Leben gemütlich zu machen. Ja, der hatte aber auch Geld, viel Geld. Bei Kramladen und Ausschank kam nichts heraus; da verbrauchte man mehr, als man einnahm. Weiß der Kuckuck, wie das zuging! Karl hüstelte. Na, es würde ja schon noch reichen! Und dann war doch auch noch der Acker da. Der war ihm bisher lästig gewesen – er war kein Bauer – er hatte das Land verpachtet, es hatte wenig getragen, sich nicht recht gelohnt. Aber nun würde es ja noch mal ein schönes Stück Geld bringen!

Aus der Küche kam Geklapper. »Wer is'n da vorne?« rief Frau Lenes Stimme, und dann kam sie selber gelaufen in der großen Ginghamschürze, die Ärmel aufgestreift, mit Mehl bestäubt, aber glatt um den Kopf, die Backen blank wie eben poliert. Sie war erstaunt, Karl zu sehen. Gottfried war nicht zu Hause – aber wenn sie was bestellen sollte?

»Nee!« Er setzte sich auf den nächsten Stuhl, die Beine waren ihm immer lahm.

Wahrhaftig, Gottfried hatte recht, Karl sah nicht aus, als ob er's lange mehr machen würde! Lene sah den Schwager ganz erschrocken an: »Fehlt dir was?« Ihre Gutmütigkeit war größer als ihre Abneigung. Er antwortete nicht.

Sie wurde verlegen, sie wußte gar nicht recht, was sie sagen sollte – er mußte doch was wollen? Geld?! Der Gedanke durchfuhr sie; alle Welt wollte ja jetzt Geld.

Aber als ob er ihre Befürchtung erraten hätte, sagte er jetzt: »Ich will nischt von Jottfried. Meine Frau möchte wissen, was mit Paschken los is, daß er die Zijarren nich schickt. Ihr wißt doch wohl Bescheid, ihr steckt ja immer zusammen in der Familie!«

»Wir – mit Paschken?« Lene hob abwehrend die Hände; nun war ihr die Zunge auf einmal gelöst. »Danke sehr, mit dem wollen wir nischt zu tun haben, der is ja pleite. Jottfried is eben zu Muttern hin, jestern abend hatte Paschke wieder jeschrieben: wir sollten ihm doch helfen – »um Jottes willen« – »um Aujustens willen!« Konkurs – Manifestationseid – er hatte doch jetzt 'n Bankgeschäft. Zijarren hat er ja längst nich mehr. Allens verramscht dazumal. Das wißt ihr nicht?!«

»Was jeht mich das an!« Gleichgültig zuckte Karl die Achseln, gähnend stand er auf: nun hatte Ida den Bescheid. »Juten Morjen« Er wollte der Schwägerin die Hand geben.

Aber resolut legte Lene ihre Rechte auf den Rücken: »Ich bin dir böse!«

Jetzt war die Gelegenheit, ihm einmal ordentlich Bescheid zu sagen, wer weiß, ob sie ihn noch einmal so zu fassen bekam. Etwas vom Geist der alten Badekow lebte auch in Lene. Sie wurde energisch. »Es is janz unerhört von dir, wie wenig du dich um Hulda'n kümmerst!« Sie sah ihn herausfordernd an: er sollte es sich nur unterstehen, ihr grob zu kommen!

Aber er sagte gleichgültig: »Na, was is denn?«

Das ärgerte sie noch mehr als eine Grobheit, sie wurde rot. »Du versündigst dich an deiner Tochter – Kinder sind 'n Jeschenk vom Himmel, du hälst es aber nich wert. Mich dauert das Kind in der tiefsten Seele!«

»Is se denn krank?«

»Nee, aber se jeht doch ein! Wenn ich denke, wie ich zu meinen Kindern bin!« Tränen schossen Lene in die Augen. »Und wie ihr zu dem kleinen Ding seid!«

»Kein Mensch tut ihr was«, sagte er verdrießlich. »Ida is nu mal nich für Zärtlichkeiten, aber Haue kriegt die Jöre nie. Und ich – ich sehe sie ja überhaupt jar nich!«

»Das is es ja jrade!« Die feuchten Augen Lenes fingen an zu funkeln; sie stieß dem Schwager, der sich erheben wollte, mit dem Zeigefinger so kräftig gegen die Brust, daß er sich unfreiwillig wieder auf den Stuhl zurücksetzte. »Was unsere Mutter is, die hat uns oftmals jehauen; noch als ich schon mit Lietzow versprochen war, hab ich 'ne Ohrfeige von ihr jekriegt – aber so 'ne Haue ist lauter Liebe. Ich jlaube, die Hulda ließe sich janz jerne mal hauen – ach, die is ja so helle, die fühlt mehr wie'n anderes Kind, daß sie 'ne Stiefmutter hat. Und zu dem Unglück auch nich mal 'nen richtigen Vater!«

»Hat se sich beklagt?« fragte er finster.

»Wo denkste hin? Die sagt doch nischt!« Lene beeilte sich, das zu versichern, daß er nur ja keine Wut auf das Kind bekam.

Aber er sah nicht wütend aus; in seiner lässigen Gleichgültigkeit dämmerte etwas wie Nachdenken. »Ich hab se aber doch lieb«, murmelte er.

»Na, denn mußte dich auch 'n bißken um se kümmern! Ich kann es jar nich verjessen, wie se nachts hier unterm Fenster weinte. Totheulen hätte ich mich können. Meine Kinder lagen warm im Bett, und das Unjlückswurm trieb sich noch draußen rum!«

»Se konnte sich ja reinscheren!«

»Ja woll, wenn man sich nich traut!« Lene war ganz aufgebracht. »Du hast doch auch Angst vor deiner Frau! Und die Hulda – na, ich bin immer freundlich zu ihr und Jottfried auch, aber sie is ja so verschüchtert, sie traut sich an keinen mehr ran. Ich weiß nich, woran es liegt, deine Frau muß 'ne Art haben – 'ne Art!«

»Die hat se!« Karl Lietzow nickte.

Lene glaubte auf seinem Gesicht plötzlich eine große Traurigkeit zu sehen. Aber sie hatte sich wohl getäuscht, denn er sagte jetzt bloß »Na, wir wollen sehen!« – – –

Als Gottfried nach Hause kam und Lene ihm von ihrem Gespräch mit Karl erzählte, wollte er nichts davon hören. Heute sollte sie ihn mit Hulda, mit Karl, mit der Person, der Ida, überhaupt mit der ganzen Gesellschaft zufrieden lassen. Man hatte schon genug Ärger mit dem Paschke! Auguste sollte zurückkommen, mußte zurückkommen auf alle Fälle! Mutter verlangte es, Mutter wußte ja nun endlich Bescheid. Johann und er hatten es ihr beigebracht, ihr es jetzt geradeheraus gesagt, wie wenig genau es Paschke mit der ehelichen Treue nahm. Die halbe Friedrichstraße hatte es schon längst gewußt, was für ein Taubenschlag der Zigarrenladen gewesen war – überall Techtelmechtel. Und nur die Auguste, diese eigensinnige Person, schwur auf ihren Julius!

Gottfried fuhr sich in die Haare. Da konnte man sich doch wirklich ärgern. Auf was hin hatte Paschke bloß noch einmal Geld gekriegt? Einen unerhörten Pump mußte er angelegt haben für sein Bankgeschäft – natürlich alles auf die dereinstige Erbschaft hin. Da konnte unter Umständen Augustens ganzes schönes Geld mal flöten gehen. Ein zu dämliches Frauenzimmer! Hungern wollte sie lieber mit ihrem Mann, als ihn verlassen, hatte sie der Mutter letzthin geschrieben. Jetzt ließ sie überhaupt nichts mehr von sich hören! nur Paschke schrieb.

»Der macht die Post reich! Aber laß ihn man schreiben, laß ihn – er kriegt nischt. Er is doch so pleite und so auch!«

Gottfried war heute ein Pessimist. »Mit denen da drüben is ooch nischt zu wollen. Karl schert sich 'n Pfifferling um die Kleine, da kannste reden, so viel de willst. Ich hab es ja jesehn – leider Jottes!«

Aber Karl Lietzow scherte sich heute doch um seine Tochter. Er sah sie mit ihrer Kaffeetasse, die keinen Henkel mehr hatte, auf den Steinstufen der Haustür sitzen. Hastig stopfte sie sich eine Schrippe ein. Zum Mittagessen war sie nicht dagewesen. Ida hatte auf seine Frage nur mit den Schultern gezuckt: »Weiß nich, wo sie is!«

Nun steckte der Vater den Kopf zum Schenkstubenfenster heraus, als er draußen das Trippeln und Winseln der Teckel hörte. »Wo biste heute mittag jewesen?« fragte er.

Es war nicht streng gesagt, aber sie schrak so zusammen, daß die Tasse, die sie mit beiden Händen hielt, ihr beinahe entglitten wäre. Ihre schwarzen Augen starrten erschrocken und glitten dann scheu zur Seite; sie suchten einen Schlupfwinkel.

»Du brauchst dich doch nich zu fürchten«, sagte er. Die Schwägerin drüben hatte ihn aufmerksam gemacht, jetzt sah er ihre Angst. »Komm mal her!«

Sie stand zwar auf, machte aber nur ein paar zögernde Schrittchen. »Hierher!« Er wies unter das Fenster. Die Hunde waren sofort zur Stelle, und endlich folgte auch sie.

»Was haste denn immer, kleene Bohne?« Er zog sie beim Ohrläppchen noch näher heran. »Warum biste denn mittags nich zu Hause jekommen?«

Aufmerksam sah sie den Vater an, sie beobachtete förmlich sein Gesicht: nein, er war nicht böse! Und auch nicht betrunken! Mit einem Seufzer hielt sie ihre henkellose Tasse in die Höhe: »Henkel abjebrochen – heute morgen!«

So, also darum war sie nicht nach Hause gekommen?! »Na!« Er lachte kurz auf. In der Tat, Ida war heute in einer Laune, einer Laune! Und er hatte ihr doch den Willen getan, hatte sich ihrer Zigarren wegen herunterputzen lassen von Gottfrieds Frau. Die Kleine hatte ganz klug daran getan, wegzubleiben! »Ich hätte mich auch am liebsten dünne jemacht!«

Er hatte das ganz für sich gesagt, aber Hulda hatte es doch gehört. Wie ein rosiger Schimmer glitt es über ihr blasses Gesicht, sie drückte sich näher ans Fenster.

Ihr glatthaariges, schwarzglänzendes Köpfchen reichte nur wenig über die Fensterbrüstung. Karl Lietzow sah nieder auf den glatten Kopf: »Wie'n Aal«, dachte er. Er legte die Hand darauf – solches Haar hatte auch seine erste Frau gehabt, sie war nicht so hübsch gewesen wie Ida, aber – –!

»Haste denn auch noch was von Mittag jekriegt?« fragte er.

»Hunger hab ich nich!«

Sie blieb ganz stille stehen unter seiner Hand, aber er fühlte, daß sie ein wenig zitterte. »Warum zitterste denn? Die Lene drüben sagt, du hast Angst?!« Er ärgerte sich fast: wie konnte sein Kind Angst vor ihm haben! »Is es wahr, hast Angst vor mir?«

»Nu nich mehr!« Sie lächelte, nur ein ganz klein wenig und sehr flüchtig, kaum daß sich der Mund in dem mageren Gesicht ein bißchen verzog; aber sie lächelte doch.

Aber warum sie zitterte, das sagte sie nicht. Sie wußte es vielleicht selber kaum, daß es vor Freude war.

 

Das war heute ein böser Tag bei Karl Lietzow gewesen. Was war ihr denn nur in die Quere gekommen? Sie sprach nur das Allernotwendigste, und das auch so abgeknappt, daß man es kaum verstehen konnte.

Die Magd lief herum mit verweintem Gesicht, der Hausbursche maulte. »Gans«, »Ochs« und »marsch«, das brauchte man sich nicht gefallen zu lassen; die beiden waren sich einig, zum nächsten Ziehtag zu kündigen. Schade, daß der erste April schon vorbei war!

Karl wußte nicht, wie ihm geschah; heute morgen war etwas wie eine Hoffnung in ihm aufgestiegen – noch fühlte er ihren warmen Nacken unter den Fingern – sie war eine schöne Frau! Er hatte wirklich ein Verlangen gefühlt, sich ihr wieder zu nähern; ihr zu Gefallen war er hinübergegangen zu Gottfrieds – aber nun?! Eine halbe Stunde war er bloß fortgewesen, und nun war alles wieder anders seitdem. Er hatte ihr von Paschke erzählt; da war sie aus dem Zimmer gegangen, stumm. Er war ihr nachgegangen in den Laden nach einer Weile: »Na, wie wär's denn mal wieder mit 'nem Kuß nach so langer Zeit?« Sie hatte ihm den Rücken gedreht. Als er sie trotzdem um die Taille hatte fassen wollen, hatte sie ihn zurückgestoßen, daß er taumelte. Zum Donnerwetter noch mal, am Ende war sie doch seine Frau! War das eine Manier? Mochte sie ihre schlechte Laune auslassen, an wem sie wollte, aber an ihm nicht! Sie lachte ihm ins Gesicht. Da war er so wütend geworden, wie nur einer werden kann, der schon gar keine innere Kraft mehr hat. Er drohte ihr, er schimpfte, und als sie, die Arme über der Brust verschränkt, am Ladenregal lehnte, ohne Wort ihn nur ganz von oben herab ansah, fing er an zu weinen. Er weinte, bettelte dazwischen, fluchte, drohte und weinte wieder.

Draußen lauschten die Dienstboten: sie machte Krach! Er sollte ihr nur mal ordentlich was aufzählen! Sie waren beide auf des Mannes Seite: der war doch immer noch besser!

Auch Hulda hatte gelauscht; sie war gerade aus der Schule gekommen. Ihre Augen brannten vor Neugier. Die Dienstboten winkten ihr zu: »Hör mal!« Aber dann wurden die blanken Lichter trübe, des Kindes Augen erloschen förmlich; es dachte an die Tasse, der es heute morgen den Henkel abgeschlagen hatte. Ach, nun war sie dazu noch so schlechter Laune! Bange Befürchtungen wirrten durch Huldas Sinn, sie hatte Kopfschmerzen, es ward ihr traurig zumute. Drinnen stritten der Vater und die Stiefmutter, es war besser, wegzulaufen, hinaus aufs Feld oder auf den Kirchhof. Am Grabe der Engländerin blühten die ersten Veilchen, wenn man sich da hinsetzte, hatte man Ruh. – – –

Ida war von einer heftigen Erregung befallen worden, als sie erfuhr, daß Paschke lebte. Gestern war ein Brief von seiner Hand bei Gottfrieds eingetroffen; hätte er nicht auch ihr schreiben müssen? Er lebte! Und ließ sie in Ungewißheit, in einer schier unerträglichen Angst?! Das war niederträchtig. Pah, und der hatte ihr von Liebe geredet? Der und Liebe! Der liebte nur sich. Hatte er denn nicht auch zuerst daran gedacht, sich in Sicherheit zu bringen?! Jetzt erst kam der Gereizten alles zum Bewußtsein. Weggerannt war er wie ein Hase, hatte sie einfach im Stich gelassen. Eine Gemeinheit! Und solch einem Kerl hatte sie so viele Opfer gebracht, war ihm zuliebe hinausgelaufen auf das unheimliche Feld, hatte sich in die schrecklichsten Gefahren begeben, hatte ihm sogar noch Tränen nachgeweint?! Jetzt weinte sie auch. Aber aus Wut. Er lebte! Nicht eine Träne war er wert, nicht einen Gedanken, der Hasenfuß! Lächerlich dünkte er ihr, wenn sie sich jetzt vorstellte, wie er zitternd dagestanden hatte mit seinem Regenschirm. Julius Paschke sollte sich ihr nur noch einmal zu nähern versuchen! Den Rücken drehen würde sie ihm. Wahrhaftig, es mußte doch noch andere Männer geben!

Ein jäher Umschwung vollzog sich in der Frau. Sie hatte auf einmal keine Neigung mehr für den einst Geliebten und keine Entschuldigung. Sie suchte auch keine. Sie empfand etwas wie Schadenfreude: ordentlich verdroschen würden die Strolche ihn wohl haben, und das war ihm recht geschehen! Aber den Ärger wurde sie doch nicht los, sie ärgerte sich über ihn, über sich selber, über die ganze Welt.

Frühzeitig zog sich Ida in ihre Schlafstube zurück. Da saß sie auf dem Bettrand, starrte in die flackernde Kerze und ärgerte sich immer noch. Jetzt ärgerte sie sich am meisten über ihren Mann: der war an allem schuld, der und seine lästige Kleine!

Da tappte ein unsicherer Tritt auf der steilen Treppe.

Karl Lietzow tastete sich die Hühnerstiege hinauf. Er hatte schwer getrunken den ganzen Nachmittag; kein Gast war erschienen, den er hätte bedienen können, da hatte er sich selber bedient. Die Worte der Schwägerin hatten ihn mehr gepackt, als er es selber wußte. An seiner Seele rüttelte etwas: so klein, so mager hatte das Kind vor der Haustür gesessen! Eine Aufregung hatte sich seiner bemächtigt, deren Grund er auf falschem Wege suchte. Die Ida, die Ida – sie war ein schönes Weib – er hatte sie doch nun einmal genommen, sie, die gar nichts gehabt, in der Kaserne gewohnt hatte – und die wollte jetzt eklig zu ihm sein? Oho!

Mit einer dumpfen Sehnsucht stieg der Mann zu seiner Frau hinauf. Die Treppe führte gerade auf Idas Tür los, es blieb nur eine schmale Schwelle zwischen Treppe und Zimmer. Er fiel mehr in die Stube hinein, als daß er eintrat.

Ida, die erschrocken aufgesprungen war, herrschte ihn an: »Was willst du?«

Den Zank vom Morgen hatte er vergessen; es war seine Absicht, sich auszusöhnen.

Als er nicht Miene machte, gleich wieder zu gehen, stieß sie ihn unsanft hinaus. Flugs schob sie den Riegel vor, aber dann stand sie starr, heftig erschrocken. Ein Poltern dröhnte zu ihr herauf, ein dumpfes Plumpsen, – o weh, nun war er die Treppe hinuntergefallen!

Sie riß die Tür wieder auf, sie spähte hinab, sie traute sich kaum zu sehen: war er schon tot?! – Ach was, da schlorrte er ja schon wieder in seine Schenkstube hinein. Unkraut vergeht nicht – zu dumm, sich so zu erschrecken!

Mit bebenden Händen öffnete sie den Schrank, darin ihre Medizin gegen den Ärger stand. Sie nahm heute ein paar Schluck mehr noch als sonst, der Ärger war zu groß gewesen. Und sonst schlief sie auch nicht ein. – Es war still im Haus. Er – sie – alle hatten sie sich zurückgezogen.

Hulda stand im Flur und lauschte: aber noch war's nicht sehr spät, noch würden die drüben vielleicht nicht zu Bette sein!

Das Kind stellte sich auf die Zehen, es hing sich mit beiden Händen an die verrostete Klinke der Haustür und drückte sie behutsam nieder mit einer zähen Ausdauer. Die Tür ging auf. Eilig lief es über die Straße.

Lene Lietzow war erstaunt, die kleine Hulda zu sehen, fast erschrocken, so lautlos war diese hereingekommen, ohne anzuklopfen. Wie ein spukender Geist. Gottfried war bei Kiekebusch, Lene saß allein und stopfte Strümpfe.

»Was willst du? Is das 'ne Art, so mir nichts dir nichts reinzukommen, noch dazu auf'n Abend so spät?« Lene hatte Lust, zu schelten. Aber Huldas Augen sahen sie glänzend an. Was hatte denn die Kleine, die schien ja heute vergnügter als sonst zu sein, sie lächelte fast?!

Zutraulich lehnte sich das Kind an Frau Lenens Knie.

»Na, Huldchen, was 's denn los? Haste was jeschenkt jekriegt?« Lene sah, daß die Kleine etwas unter der Schürze hielt.

Aber Hulda schüttelte verneinend den Kopf. Sich immer fester gegen die Frau lehnend, sah sie ihr mit immer aufglänzenderen Blicken ins Gesicht.

Es war etwas Eindringliches in diesen Blicken, etwas Suchendes, etwas bis auf den Grund Tauchendes. Lene erschrak fast davor; sie empfand unklar: so sollten Kinderaugen eigentlich nicht blicken. Aber war Hulda denn noch ein Kind? Die Zeit verrann, die Kinder wurden groß. Und daß diese hier so klein war, das änderte nichts daran – das Gesicht war ja mehr als verständig. »Wie alt biste eigentlich?« fragte Lene.

»Vierzehn wer' ich!«

Was, vierzehn schon?! Nun bekam Lene doch einen Schreck. Ihre Johanna war erst zwölf, und was war die für ein Mädel! Mit einem ganz anderen Brustkasten und mindestens einen Kopf größer. Gott, war die Hulda erbärmlich, so zurückgeblieben im Wachstum, die Händchen fast winzig! »Kind, du mußt aber nu machen, daß du wächst«, sagte Lene und streichelte das aalglatte Köpfchen. »Du bist ja man so klein! Wie kommt det bloß?!« Ihr Mutterherz fühlte ein Mitleid, barmherziges Mitleid: was wurde aus dieser hier, die so ungeliebt aufwuchs, die jetzt schon eigentlich nichts anderes war als eine, deren Heimat die Straße ist?! »Kind, Kind, was soll bloß noch werden?« Die gutmütige Frau seufzte auf.

»Immer treibste dich rum!«

»Was denn sonst?« Das altkluge Gesicht nahm einen finsteren Ausdruck an, es starrte vor sich hin. Aber dann lächelte es wieder ein bißchen, wie vorhin. Wie liebkosend strich die Kinderhand an Lenes Ginghamschürze auf und ab. »Vater war heute jut zu mir!«

Das war ein Aufstrahlen. Hulda zog die Linke, die sie bis dahin verborgen gehalten hatte, unter dem Schürzchen vor. Sie legte der Verdutzten eine Flasche in den Schoß, von viereckig abgeplatteter Form, eine grünlich-schimmernde Flüssigkeit war darin: »Absynth«.

»Wat soll det?« Lene Lietzow riß die Augen auf, sie wußte nicht, was sie davon denken sollte. Sie wurde ganz verwirrt, ängstlich; es wurde ihr kalt, und gleich darauf überlief es sie glühend heiß.

»Da«, drängte das Kind, »nimmse doch!« Sie schmatzte: »Schmeckt süß!« Etwas zärtlich-dankbares kam in ihren Ton: »Ich schenke se dir!«

»Woher haste die?« Lene fuhr auf: wie kam das Kind zu der Schnapsflasche?

Hulda lächelte schlau: »Wir haben viele so'ne!« Und dann nickte sie wichtig: »Wir trinken von!«

Lene Lietzow packte die kleinen dünnen Hände, heftig erregt schüttelte sie das dürftige Körperchen. Sie war entsetzt. » Wir trinken –?! Dein Vater – deine Mutter – und du?! Um Jottes willen, Kind, du trinkst doch am Ende nich auch davon?«

Da wurden des Kindes schlau-glänzende Augen stumpfschwarz, unenträtselbar. Es legte den Finger auf die Lippen: »Ich sage nichts!«


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