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XI.

Nee, ick baue keene Filla«, sagte Gottfried Lietzow zu seiner Frau.

»Ick habe Angst jekriegt beim Paule, die Filla hat ihm kein Jlück gebracht. Un denn macht et auch ville Kosten un noch viel mehr Radau!«

Lene war nicht damit einverstanden. Lene hatte sicher darauf gerechnet, bald in einem schönen neuen Hause zu wohnen. Der Herbst war ins Land gezogen, seit Gottfried verkauft hatte, nun war man im Winter drin, aber wenn es nun bald Frühling wurde, hätte man so schön anfangen können zu bauen. Lange schon hatte sie gebohrt, aber ihr Gottfried schien stets keine Ohren zu haben.

Nun stellte sie ihn aber heute einmal. Die Nacht hatte sie einen schönen Traum gehabt, und vorhin, als sie mit einem kleinen Umweg an Längnicks Villa vorübergekommen war, hatte ihr die wiederum sehr in die Augen gestochen. Ihre alte reparaturbedürftige Kate gefiel ihr gar nicht mehr.

»Du, wann fängste denn nu an?!« Sie strich ihm dabei zärtlich den Haarschopf aus den Augen.

»Jar nich. Ick habe jerne meine Jemütlichkeit. Jebaut wird nich!«

»Nee, so'n Mann!« Sie schlug die Hände zusammen. Gemütlichkeit! Um nicht das bißchen Baustaub und Bauspektakel zu haben! War das etwa Gemütlichkeit, wenn sie sich so quälen mußte mit den gänzlich unmodernen Einrichtungen in diesem ungemütlichen alten Haus? Jeden Eimer Wasser mußte man vom Hofe hereinschleppen und sich die Seele aus dem Leibe pumpen; und keinen Ausguß hatte man, alles mußte man nach außen wieder abtragen. Und wenn es kalt war und man draußen im Bretterhäuschen neben der Dunggrube vielleicht etwas lange sitzen mußte, dann konnte man anfrieren. Und zudem war es so graulich, wenn es nicht ganz hell mehr war, dorthin zu gehen. Und dann nirgendwo Gas! Längnicks hatten schon Gas in der Küche und im Speisezimmer. Tempelhof sollte ja nun überhaupt Gasbeleuchtung unter den Linden kriegen. Sie aber mußte noch mit Petroleum herumkokeln, und wenn man etwas anfaßte, hatte man gleich Petroleumflecken dran. Und sehen konnte man dabei auch gar nichts! Sie redete sich nach und nach in eine Empörung hinein.

»Na, na, Leneken«, sagte er und faßte sie um. »Denn wundert mir doppelt, daß du jesehen hast, wat ick für'n famoser Kerl bin!«

»Och du!« Sie gab ihm einen Backenstreich. Aber dann wurde sie gleich wieder ernsthaft: nein, es war wirklich nicht mehr zum Aushalten! Nun hatte man das viele Geld, es war einem so in den Schoß gefallen, man konnte sich wirklich was dafür antun, und nun wollte er nicht.

»Ick wer' dir vorne an'n Einjang Jlas reinmachen lassen«, sagte er, »denn kannste da sitzen un Bohnen schnippeln un Strümpe stoppen, ooch wenn et zugt!«

Nein, das wollte sie nicht; das hätten sie sich ja schon längst machen lassen können, die Veranda verglasen, dazu brauchten sie nicht erst so viel Geld zu haben! Sie schmollte.

Er wollte sie mit einem zärtlichen Spaß versöhnen, derb kniff er sie. Aber da kam er schlecht an.

»Laß mich in Ruh!« Sie war eine Badekow, die Badekows hatten alle ihren Kopf. Die Tür hinter sich zuschlagend, lief sie ins Schlafzimmer, nahm da Kapuze und Pelerine und machte sich zornrot auf den Weg. Nein, jetzt lief sie aber fort. – Zur Mutter!

Doch als sie schon bald dort angekommen war, fiel ihr ein: was sollte sie denn zur Mutter sagen?! Mit einer gewissen zögernden Verlegenheit trat sie ein.

Die alte Frau war beim Kartoffelschälen; sie schälte immer für den Haushalt des Sohnes mit. Lene war froh, die Mutter beschäftigt zu finden – dann guckte die doch nicht so scharf – gleich setzte sie sich auch hin und schälte mit. Dabei überlegte sie: was die Mutter wohl dachte, daß sie so ankam am helllichten Werktagvormittag?!

Aber die Badekow sagte: »So, nu kannste aufhören«, und ging dann und trug die Kartoffeln hinüber zu Johanns.

Lene blieb allein sitzen. Sie war an arbeiten gewöhnt: was sollte sie nun machen? Vergebens sah sie sich hier nach Arbeit um. Es war alles blitzblank. Und da stand noch Kohl von gestern, der war nur zu wärmen, und das Stückchen Fleisch im Topf, das schmorte ja von ganz alleine – was mochten die zu Hause sich wohl jetzt zusammenkochen? Nein, aber sie ging doch nicht, sie blieb hier über Mittag, mochte Gottfried mal sehen, wie es schmeckte ohne sie!

Ganz verbissen setzte sie sich auf einen Schemel. Die Mutter kam noch immer nicht zurück. Es war recht langweilig. Jetzt kamen zu Hause die Kinder aus der Schule! Johanna fragte immer gleich: »Wo is Mutter?« und auch Fritz kam in die Küche gelaufen, hob den Deckel von jedem Topf, und sie mußte ihm auf die Finger klopfen. Die würden sich schön wundern, wo Mutter steckte. Wahrhaftig, es konnte einem hier aller Appetit vergehen!

Es stieg ihr etwas in die Kehle und blieb ihr da wie ein Pfropf sitzen. Ein Glück, daß Mieke jetzt kam, da konnte sie die doch wenigstens anfahren. »Wo treibste dich denn immer rum? Läßt Muttern alle Arbeit alleine tun und legst dich aufs Faulenzen. Wo biste jewesen?«

Da lachte Mieke sie an, recht blöde. Sie nahm es gar nicht übel, daß die ältere Schwester mit ihr zankte, sondern ging, noch immer lachend, aus der Küche ins Wohnzimmer, stellte sich da vor den Spiegel und gaffte starr hinein.

So eine dumme, eitle Person! Lene war tief verstimmt. Aber sie fragte die Mutter doch, als diese nun endlich wiederkam: »Kann ich bei euch zum Essen bleiben?« Sie wagte es dabei nicht, die Mutter anzusehen, denn sie erwartete, diese würde nun eine Erklärung verlangen.

Aber die Badekow sagte ganz ruhig: »Jewiß. Eß nur mit!« Sie schien gar nichts Besonderes dabei zu finden, daß Lene heute bei ihr Mittagbrot essen wollte und nicht bei Mann und Kindern.

Lene fühlte das eigentlich wie eine Enttäuschung: Gott, wie hatte sie sich doch bei der Mutter beklagen wollen, daß sie es so schwer hatte in dem alten, verwohnten, unpraktischen Haus! – Aber hier war es ja auch nicht anders! Das fiel ihr plötzlich ein. Und zugleich, daß die Mutter ihr nicht recht geben würde, wenn sie nach einem Neubau verlangte. Wie dumm, daß sie hierhergekommen war – aber nein, nach Hause ging sie doch nicht!

Die Mutter setzte sich nach dem Essen in den Lehnstuhl beim Ofen und schlief bald ein. Die Tochter setzte sich ans Fenster. Was sollte sie machen? In der Küche der Mieke abwaschen helfen? Gott, das bißchen, da lohnte es sich ja gar nicht, mit anzufangen! Stricken? Sie hatte ja kein Strickzeug. Zu dumm, hätte sie doch wenigstens das mitgebracht! Gottfried hatte so sehr neue Strümpfe nötig.

Sie starrte gelangweilt hinaus auf die Straße; sie fühlte sich grenzenlos überflüssig hier. Immer sehnsüchtiger schauten ihre Augen die Straße hinunter: kam denn niemand, um sie nach Hause zu holen? Fragte denn gar, gar niemand nach ihr?

Tränen fingen an, ihre Augen zu füllen; sie mußte ganz starr blicken, ohne zu zwinkern, sonst wären sie ihr über die Backen gerannt. Da fühlte sie einen Blick auf sich ruhen. Sie drehte den Kopf – die Mutter schlief nicht, sondern sah sie aufmerksam an.

Lene wurde glühend rot: au weh, ging's jetzt los?!

»Na, nu komm«, sagte aber die alte Frau ganz freundlich, stand auf, ging zur Kommode, holte sich ein gehäkeltes Kopftüchelchen heraus und schlug den Dreieckschal um. Sie griff nach der Hand der Tochter.

Aber diese trumpfte auf: »Nee, ich jehe nich mit. Nee, ich bleibe hier!«

Da lachte Hanne Badekow: »Du bist wohl keene verheirat'te Frau wat? Biste 'ne störr'sche Kuh, die durch't Dorf rennt, und rennt sich selber den Kopp ein?! Ihr eßt 'ne Stunde später, dat 's man jut. Da kommste noch jrade zurecht nach Hause. Jetzt man los, dalli, det dein Jottfried nich erst merkt, wie dämlich de bist!« Energisch zog sie die Tochter mit sich fort.

Und diese ließ sich ziehen. –

»Leneken«, sagte am Abend Gottfried Lietzow zu seiner Frau, »soll ick nu bauen?«

Da fiel sie ihm um den Hals; er wußte nicht, lachte sie oder weinte sie.

»Na, na«, sagte er schmunzelnd und klopfte ihr den Rücken. »Nee, aber ick tue et doch nich. Aber weißte wat, Leneken? Ick lasse mir und dir malen. Lebensjroß un in Öl. Beim allerersten Künstler. Bei 'm Anton von Werner sogar. Kost't et wat et kost't! Denn haben unsre Kinder mal en schönes Andenken, un du hast jetzt schon wat für deine jute Stube!«

*

Diese gute Stube hatten alle Badekows Töchter mitbekommen, alle drei ganz genau dieselbe. Die Garnitur – Sofa und zwei Sessel – in kornblumenblauem Plüsch; dazu ein giftgrüner Teppich, ein Spiegel über vergoldeter Konsole, ein Sofatisch zum Ausziehen, auf dem eine rote Tuchdecke mit goldgelber Grec-Bordüre lag. Und in der Mitte auf dem Tisch stand die Schale von Alabaster, darin alle Geburtstags- und Neujahrsgratulationen gesammelt wurden, alle Hochzeitseinladungen und Geburtsanzeigen, die man je bekommen hatte. Auf der Spiegelkonsole blühte ein großes Bukett von Makartwedeln und Pfauenfedern, künstliche Rosen und Kornblumen waren hineingesteckt. An der Sofawand reihten sich die Photographien der Verwandten, und rechts und links von dem Spiegel paradierte je ein Öldruck in breitem Goldrahmen: »Des Landwehrmannes Abschied« und »Die kleinen Gratulanten«. –

Es wäre noch gerade Platz, zwei Porträts aufzuhängen! Frau Lietzows Blick ging herum: oder wo wurden die sonst am besten untergebracht? Eigentlich schade, die Wände so zu verdecken! Hier war voriges Jahr erst neu tapeziert worden, ganz kornblumenblau, zu den Möbeln passend, und so schön mit Rosenknospensträußchen darin.

Frau Lene nahm heute die weißen Leinenkappen von Sofa und Sesseln, zog den Tisch aus, legte zwei Platten ein und wischte Staub überall; rückte auch die hohen grauen Steintöpfe, die, mit Schweinsblasen zugebunden, in langer Reihe unter den beiden Fenstern standen, dichter an die Wand.

Hier hielt sich das Eingemachte immer so gut; für gewöhnlich wurde nicht geheizt. Aber heute heizte sie. Schon fing eine modrige Wärme an, das nie benutzte und selten gelüftete Zimmer zu durchhauchen.

Lene trippelte geschäftig hin und her, sie hatte einen hochroten Kopf. Heute abend kam die Familie, und sie hatte noch drei Gänse zu füllen, und das Abziehen der dicken Aale, das ihr der Knecht besorgen sollte, zu beaufsichtigen. –

»Jottfried«, hatte Johann gesagt, »es is wirklich höchste Zeit, daß wir mal über Aujusten reden. Un daß wir uns auch mal 'n bißchen um Jakob kümmern!«

»Na, also 'ne Jerichtssitzung. Bong!«

»Un laß uns bei dir zusammenkommen, Schwager. Ich möchte es Muttern nich antun – im eigenen Hause, das 's doch immer so, da sind se doch immer wie ihr Besuch – un Mutter, Mutter is – se is denn eben so –«

»Na ja, ick verstehe schon«, unterbrach Gottfried lachend den nach Worten Suchenden. »Mutter soll ihnen mal jründlich die Leviten lesen. Na also!« –

Auguste hatte man nicht aufgefordert zu kommen, es war besser, sie war nicht dabei. Aber Jakob hatte man eingeladen, und er hatte angenommen; daß seine Frau mitkam, wäre nun nicht gerade nötig gewesen.

Um halb sieben schon waren sie versammelt. Die Kinder waren früh ins Bett gesteckt worden, die Läden waren vorgelegt, es konnte niemand lauschen. Nun konnte es losgehen.

Hinter dem bereits gedeckten Tisch saß Mutter Badekow; sie hatte heute die feine Haube mit den Goldspitzen aufgesetzt.

Marianne saß im Sessel im schwarzen Seidenkleid. Die junge Witwe trug sich, wenn es irgend anging, immer in Seide, die spannte sich prall über ihren vollen Busen. Es kam Gottfried stets eine unwiderstehliche Lust an, ein bißchen darauf zu trommeln.

Beide Frauen saßen steif und stumm da.

Den Platz neben der Badekow auf dem Sofa hatte Jakobs Frau eingenommen; sie sah noch abgemergelter und vergangener aus neben der behaglichen Frische der Millionenwitwe. Julie kam höchst selten heraus nach Tempelhof. Aber man hatte sie begrüßt, wie es sich gehörte, das empfand sie mit Genugtuung.

»Na, lassen Se sich ooch endlich mal bei uns sehen?« hatte Lietzow gesagt. »Ick jloobe, in den sieben Jahren, det Sie den Jakob bejlücken, sind Se noch nich siebenmal hier jewesen!«

»Das 's nich meine Schuld«, sagte sie rasch.

Ein Gespräch wollte nicht in Fluß kommen.

Rastlos glitten die Augen Juliens in der Stube umher. Sie suchte in den Mienen zu lesen: wie gefiel sie, machte sie auch den nötigen Eindruck? Sie war immer unsicher.

Lange hatte sie geschwankt: sollte sie mitgehen, oder sollte sie nicht mitgehen? Gern ging sie nicht. Aber Jakob hatte ihr abgeredet, und gerade darum war sie mitgekommen. Sie war nun seine Frau, und daß sie einst seine Dienstmagd gewesen war, das ging keinen anderen was an. Und niemand sollte ihr es anmerken, daß sie als Kind barfuß die Gänse gehütet hatte für die reiche Ökonomenfrau, und auch, daß sie zuerst, als sie in die Stadt gekommen war, nur Laufpudel gewesen war bei dem kleinen Budiker ganz hinten in der Prenzlauer Allee. Jetzt war sie Madam, jetzt hatte ihr Mann einen großen Laden, jetzt wohnte sie im eigenen Haus, jetzt kleidete sie sich städtisch. Die frühere Magd suchte etwas darin, nach neuester Mode gekleidet zu gehen.

Mutter Badekow trug immer den Rock im selben schlichten Schnitt, um den Bund kraus gezogen, und die glatte Taille vorn herunter mit Steinnußknöpfen geknöpft und rund herum mit einem kleinen Schößchen. Lene Lietzow band die große Ginghamschürze nur ab, wenn sie auf die Straße ging, selbst dann nicht immer; und sogar das schwere Seidenkleid der reichen Witwe verleugnete immer noch nicht ganz die Verwandtschaft mit dem von Generation auf Generation vererbten bäuerischen Schnitt.

Julie Badekow dagegen erstickte fast in Falbeln und Blenden, in Volants und Garnierungen. Das Haar hatte sie sich zu Simpelfransen verschnitten, und sie hatte sich zum Abend frisieren lassen. Mit städtischer Modekenntnis musterten ihre Blicke das ganz glatte, in der Mitte schlicht gescheitelte Haar der reichen Witwe. Von Kopf bis zu Fuß Mariannes hielt sie Musterung. Das war ihres Mannes Lieblingsschwester, die, von der er öfters sprach! In einem eifersüchtigen Anfall verzog sich ihre Miene. Und dann hingen ihre Blicke an Jakob: das war ihr Mann, ihr Mann, er gehörte ganz allein ihr!

Jakob stand mit dem Rücken gegen den Kachelofen gelehnt; es kam ihm so frostig vor. Er war zu lange nicht mehr hier draußen gewesen. Johann machte ein toternstes Gesicht, und Gottfried hatte ihn gleich gefragt: »Na, wat macht'n der Neubau?« Er fühlte es, sie waren nicht einverstanden mit seinen Unternehmungen. Aber konnte ihn das kümmern? Doch, doch. Er hing doch noch an ihnen, wenn er auch ganz aus den Verhältnissen herausgewachsen war. Gottfried war ein heller Kopf, der mußte es doch einsehen, wenn er's ihm klarlegte, welch ungeheure Vorteile es brachte, jetzt zu bauen.

Lebhaft setzte Jakob das nun auseinander. Die Nachfrage nach Wohnungen war ganz ungeheuer. Wenn er für die zwei Wohnungen im ersten Stock je zweitausend Taler rechnete – für die im zweiten je fünfzehnhundert – für die im dritten je tausend, so brauchte er im vierten Stock von jeder Partei nur vierhundert Taler zu nehmen, und er war schon über und über heraus. Das Anlagekapital verzinste sich glatt zu sieben Prozent!

»Un wo wohnst du?« fragte Gottfried.

»Na, nich gerade im ersten Stock!« Jakob lachte. Es wurde ihm wärmer, wie er so laut von seinen hoffnungsvollen Aussichten sprach. »Wir werden wohl die Wohnung im zweiten Stock nehmen. Die kostet mich ja so gut wie gar nichts, wenn ich bedenke, wie sehr mein Geschäft sich erweitert. Und unten neben das Verkaufslokal kommen die Räume des Aktienkonsumvereins hin. Ihr solltet nur mal sehen, was das für Räumlichkeiten sind – großartig! Kommt doch mal hin, seht sie euch doch mal an!« Er hatte Herzlichkeit im Ton. »Ich würde mich so freuen!«

»Na ja, det können wir ja mal«, sagte Lietzow. Und auch Johann nickte.

»Aber sage bloß«, fuhr Gottfried neugierig fort und faßte Jakob vorn am Rockknopf, »woher haste denn bloß det Jeld zum Bauen?«

» Ich hab' es ihm nich gegeben«, sagte Marianne rasch und wurde rot dabei.

Jakob nickte ihr gutmütig lächelnd zu: »Nee, nee, du nich, Jannchen, du brauchst dich gar nicht zu entschuldigen. – Geld kann man doch jetzt kriegen so viel man will«, erklärte er, sich zu den beiden Männern wendend. »Die Baubank streckt das Kapital vor. Das erste Jahr braucht man nich mal Zinsen zu zahlen. So baut jetzt alle Welt!«

»Ach«, sagte Johann.

Lietzow stieß einen leisen Pfiff aus.

Dann war's eine Weile ganz still im Zimmer, bis Gottfried wieder anfing: »'n Aktienkonsumverein – wat heißt det eijentlich? Wer jründet denn da noch außer dir?«

»O, 'ne ganze Menge Leute. Nicht lange, und die Aktien werden an der Börse gehandelt!«

»An de Börse?« Wie ein Schreckensruf klang es vom Sofa her. Die alte Badekow hatte ihn ausgestoßen; sie war ganz blaß geworden.

»Aber Mutterchen!« Jakob amüsierte sich. »Was haste denn? Was ihr euch unter der Börse vorstellt! Die scheint der reine Bubuh für euch! Das ist ein sehr segensreiches Institut. Ohne Börse kein Welthandel, überhaupt kein Weltverkehr, keine Verbindung von Norden und Süden, von Osten und Westen, von hüben und drüben. Die Börse ist vollkommen international. Sie verbrüdert alle Völker. Sie verschmilzt aber auch arm und reich. Es gibt durch sie kaum eine unkorrigierbare Armut mehr – morgen schon kann der Arme 'n reicher Mann sein!«

»Un der reiche 'n armer!« Gottfried sagte es trocken; er schnitt sein komischstes Gesicht dabei, aber niemand lachte.

Ein flüchtiger Ärger zuckte in Jakobs Mienen, doch er ließ sich nicht die Laune verderben, er wollte sie sich nicht verderben lassen. »Jeder faßt's eben auf, wie er's versteht«, sagte er achselzuckend. Aber dann legte er Gottfried die Hand auf die Schulter, eine fast kindliche Sorglosigkeit erheiterte sein angenehmes Gesicht: »Warte man, mein Junge, wir sprechen uns wieder. Ich bin voll der sichersten Hoffnungen. Seit Jahren bin ich nich so vergnügt gewesen – lieber Gott, das Leben ist ja so eintönig, so verdrießlich! Und immer so hinterm Ladentisch stehen? Um aus der Haut zu fahren! Jetzt lebe ich in der angenehmsten Spannung, jetzt lebe ich erst auf, jetzt habe ich doch endlich was, was mich interessiert. Ich –« er brach plötzlich ab. Sein Blick war dem seiner Frau begegnet.

Fast verzehrend hingen Julies Augen an ihrem Mann. Eine glühende Röte war ihr ins Gesicht geschlagen; abgezirkelt brannten Flecke auf ihren Backenknochen. »Was redste?« rief sie schrill. »Un wir, wir sind dir nichts?! Ich?! Meine Kinder?! Nichts hättste jehabt, was dich interessiert?! Was dir Freude macht?! Jetzt erst endlich was?! 'n schöner Kerl!«

Fast schreiend klang ihre Stimme. »Verleugnen tut er einen, wenn er draußen is bei seiner reichen Verwandtschaft, man is ihm denn auf einmal nich mehr jut jenug, man –«

»St!« Schnell gefaßt war Gottfried neben der zitternd Erregten; sie war emporgefahren, er drückte sie wieder in die Sofaecke und klopfte sie dann auf die Schulter: »Aber so war det doch nich jemeint, Frau Jule!«

» So war das doch nich gemeint!« Jakob beeilte sich, es nachzusagen, aber tonlos klang seine Stimme. Sein eben aufgestrahltes Gesicht verlor plötzlich allen Glanz; er sah müde aus, abgespannt, förmlich gealtert. Es war eine kaum mehr zu unterdrückende Gereiztheit in seinem Ton: »Jule versteht mich nich!« Er zuckte die Achseln. »Sie kann mich nich verstehen. Ein Mann will doch eine ihn ausfüllende Beschäftigung haben. Sie begreift es nich, daß ich nich immer Kinder wiegen mag!«

»Och du un Kinder wiegen! Den ganzen Tag läuft er fort!« In zornige Tränen brach die Frau aus, sie klagte den Mann an vor seinen Verwandten. Jetzt wollte sie's einmal sagen, jetzt, wie er immer war! Den ganzen Kopf hatte er mit Dummheiten voll, mit Sachen, die keinen Pfennig einbrachten. Und um den Laden kümmerte er sich nicht, dem Ladenschwengel überließ er alles, und der machte sicher Schmu. Immer hatte er was zu besprechen – ›Konfrorenzen‹, so sagte er – heute, morgen, und ließ sie allein sitzen. Nichts hatte sie mehr von ihm, denn wenn er endlich kam, hatte er anderes im Sinn. Das neue Haus auf der anderen Straßenseite, das Haus ihnen gerade gegenüber, was jetzt fertig war, das hatte ihn so verrückt gemacht, das war schuld an allem! »Das verfluchte Haus! 'n Donnerwetter soll drinschlagen! Die verdammte Bude!« Wie ein Fuhrknecht fing die modisch gekleidete Frau an zu schimpfen.

Jakob zuckte zusammen, bei jedem Schimpfwort aufs neue.

Gottfrieds Gutmütigkeit bedauerte ihn: war der hereingefallen! Schlimmer mit der Frau wie mit seinem Neubau und seinem Aktienkonsumverein. Mitleidig suchte er nach etwas, um das Gespräch auf anderes zu bringen; es war nicht gerade das Geschickteste, was er nun ergriff: »Wie steht et denn mit die Altenburger Zuckerfabrik, mit die famose Industriejesellschaft?«

»Gut.« Jakob antwortete kurz. Dies war sonst sein Lieblingsprojekt, und er hatte sich vorgenommen gehabt, heute die Geschwister zu überreden, Aktionäre zu werden; wenigstens Marianne hatte er sicher zu gewinnen gehofft. Aber er suchte jetzt vergebens nach den geeigneten Worten, nach den Worten, die Schwung hatten und Schwung gaben. Er konnte eine hoffnungslose Müdigkeit nicht abschütteln, die ihn plötzlich überkommen hatte. Ach, diese Jule, diese Jule, wie konnte sie ihn und sich selber nur so blamieren?!

Es war ganz still im Zimmer geworden, die Stimme der Frau schrillte nicht mehr, aber diese Stille empfand des Gatten Ohr ebenso peinvoll. Ganz langsam, ganz bedächtig sagte jetzt Johann – er war noch immer bei den zu vermietenden Wohnungen in Jakobs Neubau: »Wenn du nu aber eine oder zwei Wohnungen leer zu stehen hast?!« Das hätte er jetzt nicht sagen sollen; er hätte es auch nicht gesagt, wenn seine Grete schon dagewesen wäre. Aber die kam etwas später nach, sie brachte erst die Zwillinge zu Bett. »Wenn du nu eine oder zwei Wohnungen leer zu stehen hast?« Er wiederholte es hartnäckig.

»Hab ich aber nich«, schrie Jakob gereizt. Was, kam der ihm nun auch noch und wollte ihn ärgern?! »Die Leute werden mir das Haus einrennen. Mit Kußhand werde ich die Wohnungen los. Es gibt ja gar nich genug Wohnungen in Berlin. Lest ihr denn keine Zeitungen? Seid ihr denn wie vor den Kopf geschlagen? In Scharen ziehen ja die Leute vor die Tore – Bretterbuden haben sie sich da aufgeschlagen – hier auf dem Felde könnt ihr's alle Tage sehen. Die Wohnungsnot spottet jeder Beschreibung. In alten Eisenbahnwagen sogar hausen sie!«

»Na, die, die in den Eisenbahnwagens kampieren un aufs Tempelhofer Feld, die werden ja wohl nich jerade deine Wohnungen zu zweitausend, fufzehnhundert un so weiter beziehen. Det is ja man bloß die Zufuhr aus der Provinz, kleine, janz kleine Leute. Schön lackiert sind se, wenn se jejlaubt haben, in Berlin sind die Straßen mit Talers jepflastert. Lieber Sohn, deine Mieten sind verdammt hoch. Un wer so viel bezahlen kann, der zieht nich jerade in dein Haus!«

»Warum denn nich?« Beleidigt flammte Jakob auf.

»Ach laß doch«, sagte Marianne. Sie war aufgestanden und kam zu den Männern heran an den Ofen. »Er wird sicher vermieten. Nich wahr, Jakob?«

Er hörte nicht die versöhnende Stimme der Schwester; er war zu sehr gereizt worden heute. Seine Nervosität machte sich in einem schallenden Gelächter Luft: »Himmel, diese Bauern, diese Bauern! Sie sehen nicht weiter, als ihre eigene Nasenspitze reicht. Freilich, wie soll denn ein Mensch geistige Fähigkeiten entwickeln, wenn er nur immer hinterm Pflug dreintrottet oder Mist fährt!«

»Oho, schmähe man den Bauernstand nich!« Lietzows Gesicht wurde nun doch auch rot.

Und Johann sagte vorwurfsvoll: »Reinfallen wirste mit deinen Wohnungen, paß man auf. Wo unten 'n Jeschäft is, da ziehen doch keine reichen Leute hin, die ziehen nach'm Tierjartenviertel raus, nach der Bellevuestraße!«

»Was du weißt! Friedrichstraße ist beste Gegend!« Die Gereiztheit verschlug Jakob den Ton, und je mehr er fühlte, daß Johanns Einwand nicht so ganz unbegründet war, desto gereizter wurde er. »Bauer bleibt Bauer. Heb' doch lieber deine Taler im Strumpf auf und versteck se im Strohsack!«

»Jakob, Jakob!« Marianne lehnte sich gegen ihn mit ihrer ganzen weichen Fülle. »Warum biste nur so aufgeregt?«

»Da soll einer nich aufgeregt sein! Da kommt man das Ende hier raus und hört dann nichts als Vorwürfe!« Der Bruder wollte sie von sich schieben.

Aber sie ließ ihn nicht los. Sie strich ihm über die Wangen, rechts und links, mit der Hand, an der die beiden Trauringe breit glänzten; sie hatte eine hübsche Grübchenhand, die durch keine harte Arbeit entstellt war. »Lieber Bruder, wir machen dir doch keine Vorwürfe. Wir haben dich doch alle so lieb. Wir sind nur besorgt um dich!« Ihre Stimme klang weich, die Fülle einer Zärtlichkeit, die die Witwe niemandem schenken konnte, ließ ihren Ton zu Herzen gehen.

Jakobs Stirn entrunzelte sich. »Ja, du, Jannchen, du bist mir gut, das weiß ich wohl!« sagte er und wollte eben den Arm um ihre Taille legen, da fuhr er zusammen. Der schrille Ton seiner Frau schreckte ihn.

Julie war aus der Sofaecke aufgefahren. Sie sprang förmlich an den Ofen, leidenschaftlich riß sie ihren Mann von der Schwester weg. »Komm, was bleibste noch hier und läßt dich beleidigen?! Das haste doch nich nötig. Komm, komm, wir jehn!« Sie hatte ihn unter den Arm gefaßt und schob den nur widerwillig Nachgebenden, der aber nicht die Kraft hatte, jetzt das Richtige zu tun, der Stubentür zu.

»Aber nee, nee, Sie werden uns doch das nich antun, Frau Schwägerin?! Jakob, so bleib doch!« Gottfried legte sich ins Mittel, er wollte die sich empört gebärende Julie am Ärmel fassen, aber sie riß sich so heftig los, daß ein Fetzchen ihrer eingereihten Spitze ihm in der Hand blieb.

Das machte sie noch wütender: was, einem auch noch die Spitzen zerreißen? »Wir haben hier nischt zu suchen, und Sie haben bei uns nischt zu suchen. Ich un mein Mann brauchen Ihre Weisheit nich. Was mein Mann is, der is zweimal so klug als sie alle zusammen. Sie können uns alle den Buckel langrutschen!« Sie schnitt eine Grimasse, die ihr Gesicht plötzlich gemein machte.

Marianne war förmlich zurückgeprallt; in einem großen Mitgefühl hingen ihre Augen am Bruder: der arme Mensch! Ach ja, es war schrecklich, verheiratet zu sein, wenn man nicht zusammen paßte! Ein tiefer Seufzer entrang sich ihrer Brust.

Julie nahm auch diesen Seufzer als Beleidigung auf. »Sie brauchen ihn nicht zu bedauern«, schrie sie und kehrte sich gegen die Schwägerin. »Der hat es noch lange jut, viel zu jut, Ihr Brüderchen, Ihr Herzensbrüderchen! Mein Mann braucht Ihre Liebe nich, der hat seine Frau. Un seine Kinder. Sieben Kinder, die ich, ich« – sie schlug sich so heftig mit der Hand auf die eingefallene Brust, daß es sie erschütterte, – »ich ihm jeboren habe! Darum hat er sich zu kümmern. Un Sie – pfui, schämen Se sich, sich so einzudrängeln zwischen Mann und Frau! Kümmern Sie sich man um Ihre Jeldsäcke, oder schaffen Sie sich schon 'nen Kerl an, wenn Se's nich aushalten können. Mein Mann –«

»Jule!« Nun war es Jakob, der sie mit sich fortriß.

Eben kam Lene zur Tür herein, die bis jetzt in der Küche geschafft hatte und nun verkündigen wollte: »Sowie Jrete kommt, können wir losessen.«

Das Paar rannte sie beinahe über den Haufen.

Mit verdutztem Gesicht blieb die Hausfrau stehen, mit offenem Mund sah sie den beiden nach, die im Flur Mantel und Hut vom Haken rissen und auf die Straße stürmten. »Was 's denn los?«

Niemand gab ihr Antwort. Eine Totenstille war in der guten Stube. Über Mariannes Gesicht kugelten ein paar Tränen.

Endlich räusperte Gottfried sich. Er sagte, als steckten auch ihm Tränen in der Kehle: »Armer Teufel!«

»Hm.« Johann nickte beipflichtend. Aber dann sprach er mit der ganzen Würde des Familienältesten und des allezeit untadeligen Mannes: »Warum hat Jakob sie jeheiratet! Nu hat er's. Wenn er denn schon was mit ihr hatte – na ja – aber zu heiraten hätte er se nich jebraucht. So'ne Dienstmagd!« Er kratzte sich den Kopf.

Da stand die alte Badekow vom Sofa auf; sie hatte bis dahin steif dagesessen, die Hände im Schoß gefaltet und kein Wort gesprochen. Jetzt sagte sie: »Det der Jakob ihr jeheirat't hat, det finde ick janz in der Ordnung. Aber det er ihr nich eine aufs Maul schlägt zur rechten Zeit, det nehme ick ihm übel. Jeder is seines Jlückes Schmied – ach je, mein armer Junge!« Ein plötzlicher Schmerz zitterte in ihrer Stimme; sie hatte es noch nie so gefühlt wie heute, nie so wie gerade jetzt, wie lieb sie den Jakob hatte.

»Ick wer' nachrennen, ick hole ihn noch zurücke«, schrie Gottfried. »Die Madam nehme ick uf mir; is zwar 'n schwerer Posten, aber ick wer' schon mit ihr fertig. Ich schmiere ihr Honig ums Maul!«

Lene wollte ihn zurückhalten: »Misch dich nich drein!«

Aber er hätte sich nicht zurückhalten lassen, wenn nicht die Mutter selber energisch abgewinkt hätte: »Ick will ihn jetzt nich sehen. Ich kann nich. Er müßte sich ja ooch zu arg schämen. Nee, nee, laß man!« Sie holte tief Atem, und dann sagte sie in andrem Ton: »Wo nur Jrete bleibt? Wir wollen doch nu essen!«

Es war anfänglich eine sehr gedrückte Stimmung. Marianne hatte sich immer wieder Tränen abgewischt; aber es waren nicht die gegen sie gerichteten beleidigenden Redensarten, über die sie weinte: so eine konnte sie ja gar nicht beleidigen. Obgleich sie der Mutter zuflüsterte: »Eß man! Ich wer' ihn schon nich im Stich lassen«, war ihr selber doch der Aal heute zu fett, trotzdem sie sonst einen so guten Magen hatte.

»'n Herz wie Butter«, schmunzelte Gottfried und schielte nach der Schwägerin vollem Busen. Es juckte ihn in den Fingeon. Er war der erste, der wieder obenauf war, sein Herz war empfänglich, aber auch sein Magen: Lene hatte vorzüglich gekocht.

Diese hatte schon maulen wollen: »Nee, da lohnt es sich aber wirklich nich, zu kochen, Mutter un Marianne nehmen ja jar nischt.« Nun strahlte sie versöhnt.

Grete hatte auch nicht mit dem gewohnten Appetit zugelangt. Sie war im letzten Augenblick angestürzt gekommen, hochrot; sie hatte sich zu sehr über Mieke ärgern müssen. Das Mädel wußte doch, daß es auf die Zwillinge aufpassen sollte, wenn sie ausging – wie die Wilden tobten sonst die zwei und schmissen sich mit den Bettkissen – aber sieben Uhr wurde es, halb acht schlug es, dreiviertel, und Mieke hatte sich noch nicht sehen lassen. Endlich war sie angelatscht gekommen, die dämliche Person; sie legte sich ordentlich aus. Grete hatte nicht an sich halten können, sie hatte ihr eine Ohrfeige gegeben; sie bebte noch vor Zorn. »Sagen Sie ihr mal ordentlich Bescheid«, fuhr sie die Schwiegermutter an. »Sie sind viel zu nachsichtig mit ihr. Die sollte meine Tochter sein, ei weh!«

»Deine Kinder sind jetzt noch klein – wart man erst ab«, sagte die Badekow.

Sie hatte das ohne jede Empfindlichkeit gesagt, aber Johann glaubte doch seiner Frau zustimmen zu müssen. »Jrete hat janz recht, Mutter. Jegen uns biste immer so stramm jewesen, un bei Mieken entschuldigste alles. Ich ärgere mich alle Tage über das Frauenzimmer – 'n Jehabe ohne Sinn und Verstand!«

»Ja«, fuhr Grete energisch fort, »es is janz jut, daß da mal die Rede von kommt. Ich wollte es Ihnen schon längst sagen, Mutter, Mieke benimmt sich, da is einfach das Ende von weg. Seh ich sie doch da neulich im Stall die Leiter raufsteigen – obenhin, wo die Hühner immer die Eier hin vertragen – un unser Knecht steht unter, kuckt ihr nach, und denn« – Großvater Schellnacks Enkelin machte eine Pause, um das, was sie jetzt sagen wollte, ins rechte Licht zu rücken – »un denn – denn kniff er sie in die Waden!«

»Daß dich! Hahahaha!« Gottfried platzte in ein schallendes Gelächter aus.

Aber Johann sagte empfindlich: »Laß doch das Lachen!« Er entrüstete sich: »Das muß sie doch wenigstens wissen, wenn se auch sonst schon nichts weiß, was se sich schuldig is. Das hättste mir man eher sagen sollen, Jrete. Verdroschen hätt ich se, daß sie hätte drei Tage nicht mehr sitzen können. Ich wer' se lehren!« Er war ganz empört.

Hanne Badekow nickte zu jedem Wort, das ihr Ältester sprach; es war aber mehr ein kummervolles Nicken, als ein Nicken der Zustimmung.

»Ach, nu laßt schon«, bat Marianne und winkte dem Bruder und der Schwägerin abwehrend. »Mutter hat wirklich heute schon genug Ärger gehabt!«

»Na, ich denke, wir sind heute doch zusammengekommen, um einiges zu besprechen«, sagte Grete ziemlich scharf.

»Na ja, det schon – aber –!« Gottfried gab seiner Schwägerin Marianne vollkommen recht, man durfte doch nicht so auf der alten Frau herumtrommeln. Und dann konnte man doch erst einmal in Gemütlichkeit essen.

Er hieb tapfer ein, und wie von seinem Beispiel angesteckt, langten auch die anderen jetzt kräftiger zu. Das mußte man sagen, grüner Aal war eine Spezialität von Lene! Gottfried fischte mit seiner Gabel in der großen Schüssel herum nach dem Wurzelzeug, das er besonders gern aß. Johann aß es auch gern; die beiden Gabeln begegneten sich in der wohlschmeckenden Tunke. Die Stimmung hob sich.

Gottfried tuschelte Marianne zu: »Auguste kann von Jlück sagen, det se erst zum Nachtisch 'rankommt«, und schrie dann lustig seiner Frau zu: »So, nu, Leneken, nu man weiter im Text! Vom Aal is allens alle, nu zeige, was du in Jans leistest!«

Die Gänse waren braun-knusperig, und obgleich die Saison schon fast vorüber war, doch noch so delikat im Geschmack wie echte Martinsgänse. Und es gab dazu einen eingemachten Gurkensalat, der genau wie frischer schmeckte.

Gottfried mochte sich nichts davon entgehen lassen: schade um die Sauce, die zurückblieb! Er hob sein Tellerchen an den Mund und schlürfte sie mit Behagen. Und die anderen machten es ebenso.

Draußen fiel lautlos großflockiger feuchter Schnee. Die kalte Pracht der guten Stube war jetzt durchwärmt von dem Dampf des Essens und der schmausenden Menschen. Es fing an, sehr gemütlich zu werden. Lietzows hatten einen ganz trinkbaren Rotwein, der wurde nun hinterm Ofen hervorgeholt. Wer von den Damen ein süßes Likörchen wollte, konnte auch das bekommen. Aber Grete bat sich lieber einen Kümmel aus – »zu dem fetten Essen!« – und da das eine gute Idee war, bat Johann auch um einen. Sie tranken alle einen. Und dann erst Rotwein.

Gretes rote Backen glühten noch viel röter als sonst. Sie hatten alle warme Köpfe, und es war merkwürdig, daß, obgleich doch auf zwei Personen mehr gerechnet war, auch deren Portionen mit alle wurden.

Jetzt war der geeignete Moment, Auguste abzutun; es würde ihr nun nicht mehr so schlimm ergehen. Gottfried ergriff die Gelegenheit, als Johann sich den Mund wischte und dann, die Serviette, die er hinter den Hemdkragen gestopft hatte, herauszerrend, mit einem Stöhnen sagte: »Jetzt bin ich aber satt!«

»Na, nu is et doch noch 'n janz jemütlicher Abend jeworden«, setzte Gottfried ein und kniff seine Lene, die sich gerade über den Tisch beugte, um die Platte mit den Gänsegerüsten abzutragen, in die rundliche Kehrseite. »Es jeht doch nischt über so'ne richtig einige Familie. Schade, daß Jakob wegjerannt is, und daß Aujuste nich hier sein kann!«

»Warum kann se denn nich? Sie hätte ja jekonnt, wenn sie wollte!« Die geborene Schellnack wandte sich an ihre Schwägerin Lene. »Sie hätte ihn lieber laufen lassen sollen. Hab ich es nich damals schon jesagt, vor Jahren schon, als noch die Poussiererei blühte; der hat es ja bloß auf ihr Jeld abjesehen?! Hab ich oder hab ich nich?«

Lene nickte bekräftigend: ja, Grete hatte das gesagt. Aber sie hatten es ja alle gesagt.

Nein, aber sie hatte es zuerst gesagt! Grete bestand auf ihrem Vorrecht, sie trumpfte auf: »Mir macht keiner 'n X vor'n U!«

»Jaaa, ich bin klug und weise«, fing Gottfried an zu singen.

»Ach, sei doch stille«, sagte Johann. »Die Sache mit Aujusten ist ernst jenug!«

»Jlaubt ihr denn, det er ihr schlecht behandelt?« fragte die Mutter plötzlich mit zitternder Stimme.

Gottfried zuckte die Achseln.

»Von ihrer Mitjift is kein Pfennig mehr da, da kannste sicher sein«, sagte Johann. »Durchjebracht hat der Windhund längst alles. Un nu sitzt er eklig in der Klemme!«

Ja, ja, das wußte sie ja! Die alte Frau tat ganz gleichgültig. Es paßte ihr nicht, daß Johann alles so unumwunden auskramte; er sollte doch wissen, daß sie es gern hatte, wenn in der Familie blieb, was irgend bleiben konnte. Und Grete war gleich so scharf! Unwillig sah sie ihren Ältesten an, der aber deutete ihren Blick anders.

»Mutter, reg dich man nich auf«, sagte er und legte ihr seine Hand schwer auf den Ärmel. »Ich will es dir nur sagen, mit dem Paschke steht es faul. An seinem Zijarrenladen kleben die Zettel: ›Ausverkauf!‹ Ja, verauktioniert wird der janze Kitt. Die Jläubiger sehen zu, daß sie wenigstens noch was kriegen!«

»Meinetwegen.« Die Badekow lächelte. Wenn sie gedacht hatten, daß sie das sehr aufregen würde?! »Ob er nu die paar Zigarrenkisten hat oder nich!«

»Wie du red'st!« Johann schüttelte unwillig den Kopf. »Ich verstehe dich heute jar nich. Der Paschke ist kaputt. Von den Zijarren, von der Ladeneinrichtung, von dem janzen Jeschäft is nischt, jar nischt mehr seine. Ich hab'n Brief von ihm jekriegt – hier is er!« Er zog einen Brief aus der Brusttasche. »O, schreiben kann der Kunde!«

Nun las er vor. Paschke schrieb: er hätte Unglück gehabt, er wäre betrogen worden. Er hätte sich verleiten lassen von Herrn Rosenthal, zu spekulieren, nur ganz bescheiden mit kleinen Beträgen, er hätte das Leben seiner Auguste reicher und angenehmer gestalten wollen dadurch, aber die Sache sei ihm über den Kopf gewachsen. Er wäre hineingerissen worden in den allgemeinen Strudel gegen seinen Willen – ein Opfer der Zeit –, ausgebeutet hätten sie ihn, Rosenthal hätte ihn über den Löffel barbiert, sich seine Harmlosigkeit zunutze gemacht – – und so weiter.

»Sieh einer an!« Gottfried hielt nicht länger an sich. »Also nur wegen Aujusten is er an die Börse gejangen?! Mit Speck fängt man Mäuse, denkt er. Jawoll!«

»Det's doch nich so böse von ihm«, sagte die Badekow. War er denn nicht zu entschuldigen, wenn er Augustens Leben hatte reicher und angenehmer gestalten wollen? Aber da tauchte plötzlich Augustes bleiches Gesicht vor ihr auf, die freudlose Miene, die Augen, in denen es wie hoffnungslose Enttäuschung dämmerte. Und sie schwieg erschrocken.

Johann war wütender, als es anfänglich den Anschein gehabt hatte. Die Wut mußte sich in ihm angesammelt haben – langsam, wie es in seiner Art lag – aber nun gab sie sich auch gründlich. »So'n Lump! So'n Schubjack!« Er schlug mit der flachen Hand auf den Brief den er vor sich liegen hatte. »Un da schreibt er noch, er will 'n Bankjeschäft aufmachen! Vermittlung von Hypotheken, Pfandbriefen, Vertreiben von Losen und so was. Er hätte nu was jelernt von seinem Freund Rosenthal; er könnte ebenso jut wie der Maklerjeschäfte machen!«

»Un was für welche!« Lietzow lächelte spöttisch. »Hat er dir nich jleich 'n paar Lose andrehen wollen? Sachsen-Meininger, Hamburger, Lübecker oder sonst so'n paar verbotene?«

»Nee, aber er ersucht mich, ich – wir – er will das Anfangskapital vorgestreckt haben, 'n janz kleine Summe bloß – nur noch einmal Aujustens Mitjift!«

»Du wirst doch nich?« Grete faßte erschrocken nach dem Arm ihres Mannes.

»Jar nich antworten wer' ich dem Saukerl!« schrie Johann grob.

Mit blinzelnden Augen hatte die Mutter zugehört, sie hatte den Kopf dabei gesenkt gehalten, wie eine Pflanze beim Gewitter; nun aber hob sie ihn wieder. Sie sah ihren Ältesten ruhig an. »Denn wer' ick ihm schreiben. Einmal hab' ich Aujusten fortjeschickt – et tut mir leid. Ick will mein Kind nich verlieren!«

»Was, sie war schon bei dir?! Sie haben dich schon einmal anjebettelt?« Von allen Seiten fuhren sie auf die Mutter los.

Diese nickte. Ein kummervolles Nachdenken zog ihr rundes, gesundes Altfrauengesicht in viele Falten.

»Na, erzählen Sie man! Wenn war se'n da?« Neugierig drang Grete in die Schwiegermutter.

Aber Hanne Badekow erzählte nicht. In ihrem Herzen war eine stille Trübsal. Ihre Auguste, ihre arme Auguste! Ach, hätte sie das Kind doch damals nicht so fortgehen lassen! Sie gab sich einen Ruck, und wie vorhin sah sie ihren Ältesten ganz ruhig an und dann der Reihe nach die anderen: »Denn wer' ick ihm das Kapital vorstrecken!«

Sie schrieen alle auf. »Du bist wohl verrückt?« sagte Johann. Er war außer sich.

»Aber, Johann!« Marianne sah ihn so böse an, wie sie überhaupt böse aussehen konnte. Sie legte ihre hübsche Hand auf die Arbeitsfinger der Mutter: »Laß du man! Ich wer' Augusten raushelfen. Dann können die doch nich so schreien!« Ihr vorwurfsvoller Blick traf ernsthaft jeden einzelnen.

Johann sah verlegen zur Seite, es ging etwas wie Beschämung über sein Gesicht; Beistand heischend suchte sein Blick dann den Schwager.

Gottfried war ärgerlich: »Det is wieder echt frauenzimmerlich! Nu werden sie sich noch drum reißen, die Junge wie die Olle, det jute Werk zu tun, und machen die jrößte Dummheit. In vier Wochen is dein Jeld futsch, liebe Marianne, un wenn du wieder jibst, denn is dat wieder futsch. Der Kerl is wie'n Sieb, da läuft allens durch!«

»Aber man kann doch Augusten nich im Stiche lassen«, sagte die gutmütige Frau ganz ärgerlich. Sie hatte sich nie viel aus der immer quengelnden Schwester gemacht, aber nun fühlte sie ein lebhaftes Mitleid. Sie schämte sich: und die hatte sie einmal beneiden wollen?! Aber war sie denn nicht doch zu beneiden trotz allem und allem? Sie hatte ihren Mann sehr lieb! Die reiche Witwe seufzte.

»Aujusten muß jeholfen werden«, sagte die Badekow jetzt energisch.

Ja, das wollten sie ja auch alle, selbstverständlich! Die beiden Männer waren sich völlig einig. Johann schien jetzt seine Grobheit leid zu tun, er ließ nun den Schwager reden und nickte nur zustimmend mit einem: ›Ja‹ oder ›Ja, ja‹.

Gottfried hatte heute seinen hellen Tag. Bewundernd sah Lene zu ihm auf: wie er das alles so klar auseinander legte! Man mußte es einsehen, recht hatte er. Es war Auguste absolut nicht dadurch zu helfen, daß man jetzt Paschke das verlangte Kapital vorstreckte. Ein Bankgeschäft aufmachen, verrückte Idee! Da konnte man ebenso gut das Geld auf den Mist schmeißen, abgesehen davon, daß man es noch riskierte, daß der Kerl mit dem Strafgesetzbuch aneinander kam. »Erst schimpft er auf den Freund Rosenthal, und denn will er doch von ihm jelernt haben!« Gottfried streckte den Finger aus: »Et is so klar wie Kloßbrühe, det er Jeschäfte machen will, die nich propper sind. Jott soll einen bewahren, det man sich mit so einem bemengt!«

»Aber die Aujuste, die Aujuste!« Die Mutter hatte eine heiße Angst im Blick.

»Die muß eben fort von ihm!« Es klang kurz und bündig. Gottfried schlug mit der Faust auf den Tisch: »Raus mit dem Kerl un wieder rin mit dem Mädel – det is dat einzigste. Sie muß sich scheiden lassen. Jott sei Dank, sie hat ja kein Kind!«

»Nee, det freilich nich!« Leise flüsterte es die alte Frau. Sie saß wie verdonnert. Aber dann sagte sie im Ton vollster Überzeugung: »Det tut die Juste nich!«

»Na, wetten?« Gottfried lachte verschmitzt.

»Du weißt jar nischt!« Die Alte sah den Schwiegersohn traurig an. »Die Juste hängt sehr an ihrem Mann – ick weiß et!« Sie versank in ein Nachdenken. Die anderen wechselten Blicke; Gottfried tuschelte Johann etwas zu.

Nun schien die Mutter einen Entschluß gefaßt zu haben, sie hob den Kopf: »Schreit so viel wie ihr wollt. Ick wer' Paschken doch schreiben. Wenn er mir verspricht, brav zu sein, un wenn er Aujusten wirklich lieb hat, denn sehe ick nich ein, warum ick ihm nich raushelfen soll. Ob se't nu jetzt kriegt oder 'n bißken später, det is doch wirklich ejal. Ick wer' mit ihm reden!«

»Die jrößte Dummheit!« Johann stampfte mit dem Fuß auf.

»Denn kann ick dir schon jetzt sagen, was der sagen wird!« Gottfried lachte wieder verschmitzt. »Er wird dir alles Jute und Schöne versprechen un wird dir von seiner Liebe zu Aujusten so viel vorquasseln, daß de denkst, 'n zärtlicheren un 'n treueren Ehemann jibt's jar nich.« Er pfiff. »Aber wenn's man wahr is!«

Johann gab ein beifälliges Grunzen dazu.

»Wahr? Wenn's man wahr is?« Die Badekow machte die Augen weit auf. »Wieso meinste det?«

»Daß er ihr untreu werden wird, das habe ich schon am Hochzeitstage jewußt«, sagte Grete.

»Un für so einen willste dein – unser sauer verdientes Jeld rausschmeißen?!« Johann rief es vorwurfsvoll. Er war ganz blaß geworden vor Ärger.

»Sauer verdient?!« Die Millionenwitwe lächelte ein ganz klein bißchen. »Mutter hat es sauer verdient – Vater – die Eltern von denen – aber wir?!«

»Na, du denn vielleicht nich?« Der Schwager sah sie an mit einem so schalkhaften und doch zugleich so bedauernden Zwinkern seiner blauen Augen, daß sie, über und über rot werdend, rasch vor sich niedersah. Ach ja, ihre Millionen waren sauer verdient! Gottfried hatte recht. Ihre Jugend hatte sie dafür hingeben müssen, ihre schönsten Jahre! Eine Bitterkeit wollte in ihr aufwallen. Aber sie sagte sich: noch war es ja vielleicht nicht zu spät. Und sie lächelte.

»Nanu erzähl man schon los!« Grete, die vor Neugier fast verging, rückte ihren Stuhl näher zu Gottfried.

Aber dieser tat harmlos: »Was denn, was denn?« Sich zur Schwiegermutter wendend, wurde er ernsthaft: »Wenn du wirklich überzeugt bist, so im Jrunde deines Herzens fest davon überzeugt, daß er Aujusten 'n liebender und treuer Jatte is, denn jib du ihm man immer das Kapital. Denn soll mir't recht sein!«

»Mir auch«, sagte Johann rasch.

»Ick wer' mir't beschlafen«, sagte da Hanne Badekow kleinlaut. Sie stand auf vom Sofa. »Ick wer' nu nach Hause jehn, ick bin heute müde!« –

Der Britzer Kutscher hatte schnell angespannt, Marianne wollte erst noch die Mutter nach Hause fahren, aber diese dankte: nein, sie wollte lieber gehen trotz des Schlackerwetters, sie war ein bißchen echauffiert.

So ging Johann denn mit seiner Mutter und seiner Frau. Aber er rannte immer zehn Schritte voraus und ließ die beiden Frauen hinterherkommen. Er war noch böse mit seiner Mutter. Und die Frauen sprachen auch kaum zusammen. Im Flur, der das Haus in zwei Teile trennte, sagten sie sich, gemessener als sonst, Gutenacht.

Die Badekow war erstaunt, als sie in ihr Zimmer trat, noch Licht da zu finden. Mieke war noch auf?!

Aber Mieke saß nicht am Tisch, auf dem die Lampe trübe brannte; sie hockte in einem Winkel, so zusammengekauert, so versteckt, daß man sie kaum entdecken konnte.

»Laß doch die Dummheiten!« Die alte Frau war unwillig darüber; sie hatte heute wirklich keine Lust, Scherz zu treiben. »Warum biste noch auf?« Sie sah bei der Frage nicht hin, die Antwort interessierte sie gar nicht, ihre Gedanken waren weit von Mieke ab, – ach Gott, die Auguste, die Auguste!

Ein Stöhnen weckte erst ihre Aufmerksamkeit. »Wat 's denn los? Fehlt dir wat, Mieke?« Nun war die Mutter schnell bei der im Winkel Kauernden. »Steh doch mal auf!«

Aber Mieke stand nicht auf. Sie stieß ein Wimmern aus und hielt sich mit beiden Händen die starken Hüften.

»Je, haste denn wat jejessen, wat dich nich bekommen is? Jotte doch, Mieke!« Die Mutter hob sie auf. Es war kein leichtes Stück, denn die Halbohnmächtige tat selber nichts dazu, um wieder auf die Beine zu kommen; sie war wie ein Stück Holz. Totenblaß lehnte sie jetzt in einem Stuhl, die Beine steif von sich gestreckt, die Augen starr, und ließ die Lippen hängen. Es war ein betrübender Anblick.

»Wat is dir bloß?« Voller Angst riß Hanne dem Mädchen den Schnürleib auf und sämtliche Rockbänder. Nun wurde es etwas besser. Mieke atmete freier, ein Schimmer von Farbe kehrte wieder in ihr Gesicht zurück.

»Soll ick dir 'n Schnaps jeben? Oder am Ende lieber Kamillentee?«

In einem Schauder des Ekels schüttelte Mieke sich.

»Is dir übel? Nu sage doch! Wat haste denn jejessen? Besinne dir doch!«

Die Kranke stöhnte. Böse sah sie die Mutter an. »Ich weiß nich.« Und dann wurde sie wieder ohnmächtig.

Das war eine schöne Bescherung. So spät in der Nacht ganz allein mit der Hilflosen! Wie brachte sie Mieke nun nach oben in ihr Bett? Aber es fiel Hanne Badekow nicht ein, drüben bei Johanns Hilfe zu holen; sie würde schon alleine zurechtkommen. So schlimm war das ja nicht, wie sichs ansah. Die alte Frau machte sich selber Mut, obgleich sich etwas auf ihre Seele legte wie ein drückendes Angstgefühl. Gott, was war das auch heute für ein Abend! Lauter Unannehmlichkeiten. Da konnte man wohl Nerven kriegen, wenn man die sonst auch nicht hatte.

Es dauerte eine ganze Weile, bis Mieke so weit war, daß sie, von der Mutter umfaßt und kräftig gestützt, die Treppe hinaufkommen konnte. Sie hatte eine Tasse schwarzen Kaffee getrunken und sich Schläfen und Herzgrube tüchtig mit Essig einreiben lassen. Aber sie schien sich doch immer noch sehr schlecht zu fühlen. Wo fehlte es ihr? Wenn sie doch nur etwas sagen wollte, das dumme Mädel!

Aber auf alle Fragen der Mutter behielt Mieke immer den gleichen blöden Ausdruck; wie in einer großen Verwunderung sahen ihre Augen starr drein. –

Es war und blieb doch ein Kreuz mit der Mieke! Lange stand die Badekow am Bett der Tochter, die sich ganz in die Kissen eingewühlt hatte. Sie fand nicht die Ruhe, unten ihr Lager aufzusuchen und die Erkrankte allein hier oben zu lassen. Es konnte ihr ja aufs neue wieder schlechter werden; wie im Krampf war ihre Stirn noch zusammengekraust. So hatte Mieke früher immer die Brauen zusammengeschoben, ehe der Anfall vom Veitstanz recht herauskam. Ach Gott, die Mieke, ach Gott!

Die alte Frau fühlte ihre Knie wanken. Schwer stapfte sie auf die andere Seite der Stube, wo Augustes Bett stand, freilich nicht bezogen, aber was tat das heute? Sie legte sich in den Kleidern darauf nieder und löschte die Kerze.

Aber so müde Hanne Badekow sich auch fühlte, müde wie kaum je in ihrem Leben, sie fand doch keinen Schlaf. Jede Stunde, jede halbe Stunde und jedes Viertel hörte sie vom Turm schlagen. Wie ein Rad ging es ihr durch den Kopf: Jakob, Auguste, Auguste, Jakob, und dann immer wieder: Mieke.

»Mieke!« Mit einem Schrei wachte die Mutter auf, sie war nun doch eingeschlafen und hatte so schrecklich geträumt. Was war mit der Mieke?! Mit ängstlicher Hast erhob sie sich von Augustes Bett, sie eilte an Miekes Lager.

Aber diese hatte sich nicht gerührt, sie lag ganz still.

Wenn man doch besser sehen könnte! Ob draußen der Mond noch schien, oder ob es schon Tag wurde? Die alte Frau fühlte eine große Sehnsucht nach hellem Licht. Die Uhr schlug jetzt vier.

Da stieß Hanne Badekow den Laden auf. Noch standen Sterne am Himmel, aber der Morgen graute schon. Man konnte von hier oben weit sehen, links über die Felder nach Rixdorf zu, und geradeaus über die Felder nach Britz hin. Dort wurde der Himmel in Streifen rötlich. Ha, und die frische Luft! Hanne beugte sich zum Fenster hinaus; die starke Frische der nächtlichen Frühe tat ihr wohl nach dem warmen Dunst der großen, aber niedrigen Mansarde. Sie atmete begierig. Ach, wenn es Tag wurde, dann bekam man wieder neuen Mut!

Da erschreckte ein Lärmen sie. Auf der Straße ertönte ein wieherndes Gelächter, fast klang's wie Gebrüll. Ein wüstes Gegröhle. Unter den Linden herauf wankten drei Zechbrüder. Kamen die aber spät aus dem Wirtshaus heim! Und was sie für einen Spektakel machten! Der in der Mitte schien am allerbetrunkensten. Er konnte sich kaum mehr auf den Füßen halten; die zwei anderen schleppten ihn. Pfui, so ein Saufbold! Jetzt ließen die Kumpane ihn los, er taumelte, er wäre beinahe niedergestürzt. Er schwankte hinüber zur anderen Straßenseite in wackeligen Bogen. Bei Längnicks hielt er am Gitter, er schien aufschließen zu wollen. Er brachte es nicht fertig.

Wer war das?! Neugier durchzuckte die Badekow. Das würde doch nicht etwa gar der Paul Längnick sein? Und dann ein schreckensvolles Erkennen: bei Gott, das war er! Er hielt sich am Gitter, er rüttelte daran; sein dumpfes, sinnloses Schimpfen schallte laut über die Straße. Jetzt hielt er sich nicht mehr, jetzt stürzte er nieder.

Oh, der Rieke ihr Paule! Jetzt erst am Morgen kam er nach Hause, und in solchem Zustand?! Hanne Badekow seufzte tief auf: »Ach, was kann man erleben!«

Und dann faltete sie ihre kalten Hände und hielt sie, wie in angstvollem Gebet, fest zusammengedrückt vor ihrer Brust: ach, der trank wohl aus Kummer, der arme Mensch!


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