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XV.

Das Monument der Engländerin war nun aufgestellt. Es nahm sich seltsam auf dem Dorfkirchhof aus. Es paßte gar nicht dahin. Was wollte hier die weiße Figur? Sie war etwas Fremdes unter den alten Grabkreuzen, die dunkel im dunklen Efeu standen, denen nur ausruhende Falter und schlüpfende Eidechsen hin und wieder einen Schimmer von Farbe liehen. Aber die neue Grabfigur war eine Sehenswürdigkeit. Mußte der Paul Längnick seine Frau lieb gehabt haben, daß er ihr so etwas Kostspieliges hatte setzen lassen! Schade nur, daß der junge Witwer jetzt so viel ins Wirtshaus ging!

Hanne Badekow seufzte jedes Mal, wenn sie spät in der Nacht drüben an Längnicks Haus ein Gepolter hörte. O je, da stieß er wieder mit den Füßen gegen die Tür oder trommelte, wenn Rieke ihm nicht gleich aufmachte, mit den Fäusten!

Die Badekow lag wachend im Bett, sie konnte jetzt immer nicht gut schlafen; sie faltete die Hände und legte sie auf ihr Herz, das erschreckt gegen die Rippen pochte. Drüben polterte der Längnick Sohn – ach, ach, was können einem Kinder doch für Leid antun! Die Kleinen treten auf den Schoß, die Großen aufs Herz.

Mit überwachten Augen starrte die alte Frau ins Dunkel ihrer Stube. Lieber Gott, die Mieke, die Mieke – und der Jakob! Und die Auguste! Wie ging es der Auguste?!

Wenn sich auch seit der letzten Familienzusammenkunft eine Entfremdung nicht mehr wegleugnen ließ zwischen Jakob und den anderen, man hörte doch wenigstens zuweilen von ihm, man wußte, daß sein Neubau jetzt fertig war, daß an allen Fenstern die Zettel prangten:

›Zu vermieten!‹   ›Zu vermieten!‹

und daß unten ein mächtiger Laden durchgebrochen war mit zwei großen Spiegelscheiben – ach, die eine wäre reichlich genug gewesen – und daß seine Frau wieder in der Hoffnung war. Aber von Auguste hörte man gar nichts. Wie mochte es ihr gehen?! Lieber das Schlimmste wissen, besser das Allerschlimmste – es ist leichter zu ertragen – als so gar nichts zu wissen!

Wenn Hanne Badekow bedachte, daß sie damals ihre Guste hatte gehen lassen, als die da, da auf dem Kanapee gesessen hatte – ach so bleich, vornübergebückt wie eine Beladene, und immer in ihrer Tasse herumrührte – daß sie damals ihr Kind hatte gehen lassen, ohne Geld, dann wollte ihr das Herz brechen. Hätte sie doch gegeben, gegeben, was Paschke verlangte, Augusten zuliebe! Damals hätte es noch einen Zweck gehabt. Mit wie viel Liebe hatte Auguste von ihrem Mann gesprochen! Da vorm Tisch hatte sie gestanden mit flammenden Augen und hatte geschrieen: ›Bei meinem Julius bleibe ich, zu meinem Julius gehöre ich, und wenn ihr auch alle auf ihn schimpft, ich lasse nichts auf ihn kommen – ich liebe ihn!‹ Die Mutter wußte noch jedes Wort. Hätte Auguste ihm damals das Geld bringen können, er hätte doch sicher Liebe und Dankbarkeit für sie gefühlt, er wäre nie, niemals darauf gekommen, ihr das anzutun, was er ihr hernach angetan hatte!

Die Bekümmerte seufzte auf: Paschke gab sich mit Weibsbildern ab. Es war bekannt, Johann und Gottfried wußten es ganz genau, und es wußten's viele. Aber trotzdem mußte er doch noch gut mit Auguste sein. Daß sie nie, nie seine Untreue erführe!

Unwillkürlich breitete die Mutter die Arme aus, wieder wie damals – ›Du kannst jederzeit kommen‹ – aber dann ließ sie sie mit einem Seufzer sinken: Auguste sollte lieber nicht heimkommen, um den Preis nicht! Ob es nicht selbst jetzt noch richtiger wäre, Paschke wieder aufzuhelfen?! Trotz allem und allem?! Es war nicht richtig von Johann und Gottfried, zu sagen: ›Ja, wenn du meinst, daß er wirklich treu is, so'n richtig liebender Ehemann, denn – –‹ nein, das meinte sie gar nicht, sie wußte es ja, daß er ihr nicht treu war, aber sie hätte ihm doch das verlangte Kapital geben sollen. Und wenn es auch wahrhaftig keine Kleinigkeit war – das schöne Geld, man hatte es auch nicht auf der Straße gefunden! Ob es nicht noch an der Zeit war?

In schweren Zweifeln lag die Mutter; zögernd verrannen ihr die Stunden der Nacht, sie fand keinen Schlaf mehr. Ein Entschluß rang sich langsam in ihr durch: ja, sie würde Augustes Mann für dieses Mal doch wieder aufhelfen. Und sie würde selber zu ihm hingehen. Sie wohnten jetzt nicht mehr Krausenstraße, aber Johann und Gottfried würden die neue Wohnung wohl wissen, und wenn die sie ihr nicht sagen wollten, dann ging sie eben zur Polizei! Es war der Mutter ein zu unerträglicher Gedanke, daß ihre Tochter, eine Badekow, gesagt hatte: ›Ich komme nicht mehr nach Hause.‹ Die Auguste, die sollte, die mußte wieder nach Hause kommen können!

Die alte Frau fühlte sich wie zerschlagen, als sie aufstand. Aber sie konnte nicht mehr liegen bleiben, obgleich es noch sehr früh war. In ihren Gliedern war eine prickelnde Unruhe, und sie hatte ein Schwindelgefühl im Kopf. Schweratmend stieß sie den Fensterladen auf, eine köstliche Morgenfrische strömte herein, doch sie selber fand ihre alte Frische nicht.

»Jott ja, wenn man in meinem Alter nich schläft, det merkt man«, seufzte sie. Schwerfällig setzte sie sich auf ihren Platz am Fenster, halb angezogen, in Unterrock und Nachtjacke; sie mußte sich vorerst noch ein bißchen ausruhen, ehe es mit dem Anziehen weiterging. Das war jetzt auch eine Arbeit.

Verträumt blickte sie die Straße hinunter. Noch regte sich nichts dort; kein Mensch war zu sehen; selbst die Milchkarren waren noch nicht ausgefahren. Aber schon lachte Sonnenschein in der Frühe um vier. Der Himmel war heiter, es lag wie eine Verheißung auf den alten Lindenbäumen, wie Jugend. Überall kleine, zartgrüne Blättchen, die aus den klebrigbraunen Hüllen hervorquollen, neugierig-drängend.

Hanne Badekow nickte: man sah's jetzt förmlich wachsen. Ach ja, aber die alte Freude am Wachsen war nicht mehr da! Es war ja nun bald auch hier vorbei mit der Ländlichkeit. Schon waren die Störche nicht mehr gekommen in diesem Jahr, – drüben das Nest war leer. Den Störchen war es wohl zu unruhig geworden in Tempelhof. Und gestern hatte Johann davon gesprochen, es wäre unbedingt nötig, die alte Scheune herunterzureißen, das baufällige Gerümpel mit dem Strohdach sei ein Schandfleck für die ganze Dorfstraße. Ach, früher war es hier doch viel schöner gewesen!

Die alte Frau stemmte die runzligen Hände auf die Fensterbank und sah sehnsüchtig die Straße hinab. Da sah sie jemanden kommen, und ihr Herz stand still.

Langsam kam eine Frauengestalt näher. Aber sie ging nicht den breiten Mittelweg unter den Linden; ganz an der Seite, wo die Fliederbüsche deckten, drückte sie sich entlang, als wollte sie nicht gern gesehen werden. Aber die Badekow sah. Sie erkannte die schlottrig Daherwankende sofort und unterdrückte einen lauten Aufschrei: Gott im Himmel, das war ja die Auguste!

 

»Wo kommste her, wo kommste her?« Die Badekow stotterte, die Zunge war ihr wie gelähmt vor Schreck, aber doch war der Schreck freudig. Auguste war da, sie hatte ihre Auguste wieder, hier bei sich in der Stube – ach, die Auguste! Sie streichelte der Tochter Gesicht – je, so eiskalt waren ja die Backen! Sie ergriff die schlaff herunterhängenden Hände und drückte sie: »Nee, so was! Wo kommste bloß her in aller Herjottsfrühe?!«

»Wo soll ich herkommen?! Von Berlin!« Auguste sagte es ungeduldig, mürrisch. »Wo soll ich denn sonst herkommen?!« Aber dann wurde ihr ungeduldiger Ton ein anderer, ein heftiger Schmerz schrillte darin auf; ihre mürrische Miene verzog sich zu einer verzweifelten, sie schlug die Hände vors Gesicht: »Nu muß ich doch wiederkommen!«

Die Mutter fragte nichts weiter mehr; die Kehle war ihr zugeschnürt, wie eine würgende Hand legte es sich ihr darum: O, die Auguste, die hatte es nun doch wohl erfahren! »Setz dir«, sagte sie leise, drückte die Tochter auf einen Stuhl und fing an, sie auszuziehen; nahm ihr die Mantille ab, den Hut, – es war alles ganz naß vom Tau –, und kniete dann nieder, ihr die Schuhe abzustreifen. Es waren nur Pantoffeln aus schwarzem Stoff, nicht gemacht für einen so weiten Weg; sie hingen in Fetzen.

Der Badekow flimmerte es vor den Augen, ihre Hände zitterten; kaum daß sie die aufgelösten Zeugschuhe herunterbrachte, und dann die völlig durchnäßten Strümpfe. O Gott, wo war ihre Auguste herumgelaufen? Naß war es doch jetzt auf den Wegen nicht mehr?

»Im Felde rumgelaufen bin ich die ganze Nacht – es hat auch geregnet!« Das war eine Erklärung. Auguste hatte sie gemurmelt, den Kopf hängen lassend.

Die alte Frau hauchte in der Tochter Hände, um sie so zu erwärmen; immer wieder rieb sie ihr die kalten Füße. Sie konnte nichts sagen, ein zu großer Jammer war in ihr: was, ihre Auguste war herumgeirrt? Und sie wußte doch, wo sie zu Hause war! Sie fing bitterlich an zu weinen.

Da löste sich auch Augustes starres Wesen. Schluchzend stieß sie heraus: »Er macht sich nichts mehr aus mir – gar nichts mehr! Nur 'ne halbe Stunde war ich weg gestern abend – einholen –, wie ich retour komme, da steht er auf'm Treppenabsatz – er hat mich noch nich vermutet – und hält das Dienstmädchen, die Hübsche von dem Kaufmann aus'm Vorderhaus, umgefaßt. Und küßt sie, küßt sie!« Sie lachte bitter auf. »Mich hat er nie so geküßt – Mutter, Mutter!«

»Sei man stille, Juste! Er is 't nich wert, daß de so weinst!« Die Badekow trocknete sich die Augen, und dann wischte sie Auguste die Tränen ab. Ach, das arme Kind! O, wenn die erst alle Seitensprünge wüßte von ihrem Julius! »Et is janz recht, daß de fortjejangen bist von ihm«, sagte sie tröstend. »Det einzig richtige. Du wirst dir doch so wat nich jefallen lassen?!«

»Nie, nie wäre ich von ihm fortgegangen! Und was du auch sagst, und was auch gewesen wäre, – nee, nu grade nich!« Das war wieder die alte eigensinnige Auguste. Aber dann weinte sie wie eine betrogene Frau. »Aber daß er 'ne andere poussiert, nein, das lasse ich mir nich gefallen! Das tut er mir an? Un ich habe mich doch nie beklagt!«

Nein, weiß Gott, das hatte sie nicht. Erschüttert sah die Mutter in der Tochter Gesicht. Auguste mußte schon vieles heruntergeschluckt haben – ach, es war längst nicht so gekommen, wie sie es sich in ihrem Brautstand geträumt hatte und am Hochzeitstag! Sie hätte gar nichts zu erzählen gebraucht, ihr Gesicht sagte das.

»Und was meinste, was er dann getan hat?! Gelacht hat er, gelacht: ›Na, was ist denn da weiter!‹« Auguste bäumte sich förmlich auf, in fieberhafter Erregung stieß sie die Worte heraus: »Mutter, ausgelacht hat er mich!«

Dieser Paschke, so ein Lump! Johann und Gottfried hatten ganz recht. Gott sei Dank, daß sie ihm noch nicht das Geld gegeben hatte, Augustes schönes Geld – nun war das wenigstens gerettet! Die Badekow beruhigte sich, zärtlich streichelte sie der Tochter verweintes Gesicht.

Das schien Auguste gut zu tun. Ruhiger erzählte sie jetzt: »Da bin ich aus der Stube gerannt. Hätte er mich noch um Verzeihung gebeten – aber i wo! Da habe ich mir die Pelerine umgeworfen, rasch den Hut auf, und denn bin ich weggelaufen. Raus aus'm Tor und raus ins Feld – wo sollte ich hin?! Ich habe erst gar nich gemerkt, daß ich bloß Hausschuhe anhatte. Erst im Feld wurde ich's gewahr, als es so quatschte. Stockdunkel war's auch!«

»Jesus, Aujuste!« Hanne Badekow rang die Hände. »Un da biste nich schnurstracks nach Hause jelaufen?«

»Nein!« Auguste schob die Brauen zusammen, sie hob den Kopf und sah die Mutter vorwurfsvoll an. »Du hattest mich ja auch im Stiche gelassen. Und denn die anderen« – sie zitterte – »ach, die haben so schon immer auf ihn geredet!«

»Jotte doch, Aujuste, da denke doch jetzt bloß nich dran. Kind, Kind, wat hätte dir allens passieren können nachts in det dunkle Feld! Erst vor kurzem soll da einer umjebracht sind!« Es schauderte die Badekow noch.

Aber Auguste lächelte mit blassen Lippen: »Hätte mich man einer umgebracht!« Und dann schrie sie wieder: »Mutter, Mutter!«

Es war ein Jammer. Auguste wollte niemanden sehen, sie war ganz verscheucht. Mit verstörten Augen sah sie sich um: »Es kommt doch niemand? Johann? Grete? Ach, nur nich!«

Die Mutter hatte Mühe, sie zu beruhigen. Nein, es kam kein Mensch, es war ja noch viel zu früh. Auguste würde sich nun hinlegen, oben in ihrer alten Stube, da konnte sie sich wärmen im Bett. Und einen Kaffee kriegte sie da herauf, der würde ihr gut tun, und dann würde sie schlafen, schlafen, ganz ungestört.

»Wo is denn Mieke?« Auguste riß verängstigt die Augen auf: auch die konnte sie jetzt nicht sehen, nein, o nein!

»Mieke is jar nich zu Hause. Sie is bei Mariannen!«

Nun erwachte doch eine Verwunderung in Auguste. »Was tut sie denn da?«

Da sagte die Badekow schnell – es mußte Augusten ja doch einmal gesagt sein –: »Mieke hat – Mieke is – Mieke hat ein Kind jekriegt. Heute vor vierzehn Tagen!«

»Was?!« Auguste schnellte vom Stuhl empor, auf dem sie so matt gesessen hatte. Nun war sie auf einmal nicht mehr matt. Ihre Augen glühten. »Mieke hat ein Kind gekriegt – Mieke?! Und ich –?« Sie streckte die Arme aus, als wollte sie das Kind an sich reißen. »Dann wäre es nie so gekommen, nie! Die hat eins?!« Es ergriff sie eine förmliche Wut.

»Aber es is tot«, sagte Hanne Badekow ernst. »Es hat nur 'n paar Tage jelebt. Es war ja man so schwach!«

*

»Wat det bloß is mit meinen Kindern?« sagte die Badekow bekümmert zu Doktor Hirsekorn. Sie hatte sich nun auch für Auguste den Arzt kommen lassen müssen, der ja doch nun einmal um alles wußte. Und mochte sich Doktor Schmidt auch darüber beklagen, daß man ihm den Berliner Arzt vorzog, es war darin so wie in allem anderen: Berlin bekam eben die Oberhand. Und Doktor Hirsekorn verstand seine Sache wirklich, er hatte Mieke vorzüglich behandelt in ihrer schweren Stunde. Es ging mit ihr so weit jetzt wieder ganz gut; Marianne wollte sie nur noch ein bißchen dabehalten, denn sie bekam noch mitunter Stunden, in denen sie anfing, laut zu weinen; sie hatte eine so kindische Freude an dem Püppchen gehabt.

»Sagen Se bloß, Herr Doktor« – die alte Badekow seufzte –, »is et denn schlimm mit Aujusten?«

Er konnte sie beruhigen: nein, es stand nicht schlimm mit Frau Paschke. Es war nur der natürliche Rückschlag nach einer großen Aufregung. Dazu kam noch eine Erkältung, die sie sich jedenfalls zugezogen hatte bei ihrem Umherirren in den dünnen Schuhen auf dem nächtlichen Feld. »Ich habe ihr ein beruhigendes Mittel verschrieben. Und dann lassen Sie sie noch ein paar Tage ruhig im Bett!«

»Ja, aber –!« Die Badekow schüttelte den Kopf. »Ick weeß doch jar nich, Herr Dokter, wie det mit meine Kinder zujeht! Se sind doch nich janz so, wie se sein sollten, wenigstens nich alle. Der Johann is ja 'n kreuzbraver Mensch, aber – mein Mann war bedeutend heller. Und der Jakob is so fahrig, hat bei nichts nich Bestand. Un die Aujuste – na, Sie kennen ihr ja nun. Un denn die Mieke! Manchmal denk ick, ick bin jar nich so unjlücklich mehr, det mein Wilhelm dot is!« Es zuckte in ihrem Gesicht, aber dann lächelte sie ein klein wenig wie in Rückerinnerung früherer Zeiten: »Badekow war doch damals so'n strammer, jesunder Mensch, un ick – na, ick war ooch nich von Pappe dazumal, det können Se jloben!«

»Will ich gerne glauben!« Hirsekorn lachte. »Sie sind doch jetzt noch 'ne stramme Frau. Von der heutigen Generation macht Ihnen das keine mehr nach. Aber, Frau Badekow« – er legte ihr die Hand auf die Schulter –, »hier in Tempelhof ist zuviel untereinander geheiratet worden. Nicht immer wieder in die Sippe rein, das tut auf die Dauer nicht gut! Die Längnicks, die Lietzows, die Lüdeckes, die Schellnacks, die Badekows und wie sie alle heißen, sind sie denn nicht alle miteinander blutsverwandt, näher oder ferner?«

»Det stimmt!« Hanne Badekow nickte. »Aber man kann sich doch ooch nich Jott weiß wen heiraten. Det sagen Sie so: nich in de Sippe rin! Ick sehe keinen Sejen dabei, wenn eener aus der Sippe rausheirat't. Wenn Sie zum Beispiel den Karl Lietzow kennten – wat der Bruder von meinem Schwiegersohn Jottfried is –, un dem seine Frau, na, ich danke! Die hat er sich aus Berlin jeholt. Un nun verschlampt se ihm de Wirtschaft. Wat 'ne richtje Tempelhofern is, da kommt so wat jar nich vor. Un denn allens det andere ooch nich. Na, un denn sehn Se mal meine Aujuste an, hat die jut dran jetan, den Paschke zu nehmen? Die hätte besser eenen aus der Familie jeheirat't, so wie die Marianne. Denn wäre se jetzt fein raus!«

»Das sagen Sie!« Der Arzt sah sehr ernst aus. »Aber Ihre Tochter Marianne hat keine Kinder!«

»Nee, det leider nich!«

»Sehen Sie. Kommt auch davon. 'nen andern Mann hätte sie heiraten müssen, nich so 'nen alten Onkel, keinen aus der Sippe, die seit hundert und hundert Jahren sich immer wieder miteinander vermengt hat. Die sollte wohl Kinder kriegen!«

»Och, wat die Dokters ooch allens wissen wollen!« Die Badekow wurde etwas ärgerlich: was ging den Doktor Mariannens Heirat an?! Dies Thema war ihr unangenehm; sie wollte es gerne wechseln. »Sie wissen eben nich, wie det Mode is aufm Dorf«, sagte sie abweisend. Dann aber fragte sie wieder freundschaftlich: »Sie haben woll immer in der Stadt jelebt, wat?«

»Ich stamme aus dem Berliner Handwerkerstand. Mein Großvater hat mit Bürsten und Besen noch auf dem Markt gesessen. Mein Vater hatte dann sein Geschäft – es war nicht groß – in der Sebastianstraße. Alles selbstgemachte Bürsten, Pinsel und Besen!«

»Nee, is't möglich?!« Die Badekow freute sich. »Uf welchem Marcht hat denn Ihr Herr Jroßvater jesessen? Auf n Wochenmarcht – Dönhoffsplatz – Schandarmenmarcht? Da habe ick ja ooch jesessen! Oder man bloß ufn Weihnachtsmarcht? – Aber ejal, er hat ufm Marcht jesessen, darum hab ick Ihnen noch mal so jerne!« Sie ergriff seine Hand und schüttelte sie kräftig: »Na so wat!«

Des Doktors Augen hinter den Kneifergläsern funkelten hell. »Na, denn will ich Ihnen auch noch weiter sagen, Frau Badekow!« Er schöpfte tief Luft, und dann sagte er alles rasch hintereinander, ohne Atem zu holen: »Ich bin ein armer Teufel, studierte Leute, die kein Vermögen hinter sich haben, sind das immer, aber mein Vater wußte das nicht, er hat sich jeden Groschen abgezwackt für mein Studium. Doktor! Er versprach sich goldene Berge für mich und sehr viel Ehre. Na, so heftig ist das nicht damit, die Hirsekörner haben kein Talent, Schätze zu sammeln; aber ich möchte Sie nun fragen, Frau Badekow, wollen Sie mir Ihre Tochter Marianne zur Frau geben?«

Das kam so urplötzlich, so überraschend, daß die alte Badekow den Doktor stumm ansah, minutenlang, und dann erst, ganz wie erstarrt, ganz langsam abermals sagte: »Na, so wat?«

War der Doktor verrückt geworden? Ein Studierter, einer aus der Stadt und ihre Marianne?! »Nee!« Sie schüttelte den Kopf. Aber dann besann sie sich: sein Großvater hatte doch auch auf dem Markt gesessen. Ihm fest in die Augen sehend, fragte sie: »Haben Se ihr denn ooch lieb?«

»Wenn ich sie nicht lieb hätte, würde ich sie nicht fragen: ›Wollen Sie meine Frau werden?‹«

»Na, denn fragen Se ihr man!«

 

Es gab wieder einmal einen Sturm in der Familie. Was, die Marianne wollte sich verheiraten mit dem Berliner Doktor?! Das wollte Johann gar nicht in den Sinn; er und Grete hatten sich so daran gewöhnt, die reiche Witwe als die kinderlose Familientante anzusehen. Da entging den Zwillingen unter Umständen ein schönes Stück Geld.

»Hättste mich man nich zu dem jeschickt, damals!« sagte Johann nachdenklich.

Aber Grete wälzte diese Schuld aufs entschiedenste von sich ab: sie hätte ihn zu Doktor Hirsekorn geschickt? Was für eine Idee! Sie hatte kein Wort von Hirsekorn gesagt, den Namen nicht einmal gekannt. Übrigens, das hatte sie damals sofort bemerkt, gleich beim ersten Zusammensein, mit was für Augen die Britzer Schwägerin den Berliner Doktor angesehen hatte! Die geborene Schellnack war über diesen Ausgang gar nicht weiter erstaunt. Umsonst hatte Marianne die Mieke doch nicht nach Britz genommen!

Gottfried fiel auch nicht aus den Wolken, aber auch er gönnte eigentlich dem Doktor die Marianne Badekow nicht. Sollte nun wirklich ein anderer trommeln?

Heute spannte sich das pralle Seidenkleid noch praller über den Busen der Britzer Witwe. Sie machte nach der sonntäglichen Kirchenzeit mit dem Bräutigam einen feierlichen Besuch bei den Geschwistern. Und sie sah so freundlich, so einladend aus wie nur je –, das Glück verschönt. Und Marianne Badekow war glücklich.

Als der Doktor zu ihr herausgekommen war – gleich von Mutter Badekow weg war er zur Tochter Badekow gegangen, eigentlich gelaufen, es packte ihn plötzlich wie Ungeduld – als er dann nur ein paar Worte zu ihr gesprochen hatte, hatte sie ihm die Hand gereicht: ja, sie hatte volles Vertrauen zu ihm, ja, sie hatte ihn auch gern – ja –, dann hatte sie aber doch angefangen zu stocken. Ein rosiges Aufblühen war in ihr Gesicht gekommen und in ihre Augen ein paar Tränen: ja, sie hatte den Wunsch, sich noch einmal zu verheiraten!

Fest hatten sie sich die Hand gedrückt und minutenlang so ihre Hände ineinander gelassen.

Gern hätte Hirsekorn ihr einen Kuß gegeben, aber er fand, daß er sich hier nicht so benehmen konnte wie ein junger, verliebter Fant. Und sie wiederum, die nicht an Zärtlichkeiten Gewöhnte, fand es ganz in der Ordnung so. Aber als sie dann beim Frühstück saßen, sie ihm die Butterbrote strich, den Schinken auflegte – alles mit der sorglichen Miene einer liebenden Hausfrau – da konnte er doch nicht mehr an sich halten. Er schlang seinen Arm um ihre Schultern, drückte sie herzhaft an sich und gab ihr den Verlobungskuß. Und sie gab ihm den Kuß wieder. –

Sie würden bald heiraten, in vier Wochen schon; auf was sollten sie denn noch warten? Es dünkte der Witwe, daß sie es eilig habe. So viel hatte sie in ihrem Leben entbehren müssen; jetzt drängte es sie, das nachzuholen. Und Friedrich konnte nicht alle Tage nach Britz herauskommen, dazu war es zu weit; zweimal in der Woche kam er für eine Stunde und nur sonntags auf länger. Dann fuhr sie ihm entgegen bis Tempelhof, lud ihn auf wie eine kostbare Beute und brachte ihn sich heim. Oder sie ließen auch den Wagen voranfahren und wanderten zu Fuß hinterher durch sommerahnende Felder. Dann nahm sie nicht seinen Arm, sondern sie gingen Hand in Hand, wie vormals die Burschen und ländlichen Mädchen gingen auf Liebesgängen.

Man hatte in der Familie als selbstverständlich angenommen, daß der Doktor heraus nach Britz ziehen würde. Hirsekorn aber dachte gar nicht daran, seine Praxis aufzugeben, und Marianne war auch damit einverstanden. Nein, das sah sie vollkommen ein, daß er nicht nur der Mann seiner Frau sein wollte. Der Wirtschafter blieb auf Britz, sie konnten ab und zu hinausfahren und kontrollieren – ach, und ihr Herz hing ja gar nicht an Britz! Es waren zu freudlose Jahre dort gewesen. Wenn sie jetzt zurückdachte, kamen sie ihr doppelt freudlos vor. Lange Jahre, träge Jahre, Jahre, in denen ein Tag gewesen war wie der andere: kein großes Leid, aber auch keine große Freude – wie hatte sie das nur aushalten können?! Sie war's eben nicht anders gewöhnt gewesen, aber jetzt –?! Ihr Mund, ihre Augen, ihr ganzes Wesen lächelten: sie würden Britz verkaufen, sowie sich eine günstige Gelegenheit bot.

Marianne dachte es sich sehr schön, ihren Mann auf die Praxis zu begleiten; sie konnte ja dann im Wagen auf ihn warten. Aber dafür war er nicht: Praxis apart, Frau apart! Aber wenn sie sich beteiligen wollte, konnte sie für seine armen Patienten Suppen kochen, denn aufgeben würde er die Armenpraxis nicht, wenn er nun auch in die feinere Wilhelmstraße zog, Equipage hatte und es Gott sei Dank nicht mehr zum Lebensunterhalt nötig brauchte, fünf Treppen hoch zu steigen und in die Keller hinabzuklettern.

»Kiek eener an, er heirat't doch in ihr nich nur 't jroße Portemonnaie«, sagte Gottfried Lietzow bewundernd. »Na, denn will ich ooch nich mehr so futterneid'sch sein – mag er denn trommeln!«


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