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Ein Baumeister aus Berlin hatte die neue Villa der Längnicks gebaut. Rasch war sie entstanden, aber immer war es Paul Längnick noch nicht rasch genug gegangen. Mit eigenen Händen hätte er die Steine schleppen mögen, auf seinen breiten Rücken die Balken laden. Seine Ethel sollte nicht so lange in den niedrigen dunklen Stuben bleiben. Er hatte gedrängt und getrieben: der erste Junge, der Stammhalter, mußte in der Villa geboren werden. –
Die Längnick sah ihren Paul in hohen Stiefeln am frühen Morgen schon auf dem Bau herumsteigen; und abends war er der letzte, der Feierabend machte. Er gönnte sich weder den Frühschoppen mehr, noch den Dämmerschoppen bei Kiekebusch. Laut hörte sie über den Hof seine Stimme kommandieren. Und sie ärgerte sich. Es war Pauls Wille, sowie sie in der Villa wohnen konnten, das alte Vorderhaus herunterzureißen und einen hübschen Ziergarten dort anzulegen. Aber am meisten ärgerte die Mutter sich, daß der Sohn nicht ihren Rat dabei einholte. Majorenn war er freilich, Herr seines Erbes, aber wie kam er dazu, auf einmal so selbständig zu sein?! Starr saß sie in ihrem Hinterhaus, stumm vor Staunen.
Daß sie nun nicht mehr hinaus auf die Straße sehen konnte, durch ihren Spion das Dorf kontrollieren, das wurde der Längnick gleichgültig, aber daß ihr Sohn so aufzutreten wagte, das verzieh sie der jungen Frau nicht. Nur die allein war Schuld daran. Sie, die keinen Pfennig ins Haus gebracht hatte, deren Schmuck noch dazu – die Ohrringe, das Halsband, die Kette, die Armringe, alles, womit sie ausstaffiert gewesen – falsch war!
Sechs Wochen nach der Hochzeit war es gewesen, da hatte sich der große Brillant in dem einen Ohrring der jungen Frau aus der Fassung gelockert. Ethel selber war zu unpäßlich, um ihn nach der Stadt zu bringen, Paul hatte auf dem Bau zu tun, einem Knecht konnte man solche Kostbarkeit nicht anvertrauen, so war denn Rieke selber damit hineingefahren.
Den Kopf hoch erhoben, betrat sie den Laden, umständlich hob sie ihren Oberrock auf, kramte aus der versteckten Tasche des Unterrocks den Ohrring hervor und legte ihn dem Juwelier auf den Tisch. Ein Sonnenstrahl traf den großen Brillanten, daß er grün, blau und rot funkelte.
»Machen Se det wieder rin!« Sie sprach es nachlässig, mit der ganzen Würde, die das Bewußtsein eines solchen Brillanten gibt. Da hatte der Juwelier gesagt: »Eine vorzügliche Imitation«, und lächelnd den Stein auf der Hand blitzen lassen im Sonnenstrahl. »Funkelt ganz wie'n echter!«
Was – nicht echt?! Tief gedemütigt war Rieke aus dem Laden gegangen. Sie hatte den Mann erst ausgelacht, aber sie mußte ihm wohl glauben – er war doch Hofjuwelier – und was hätte er denn für ein Interesse daran, den Stein für falsch zu erklären?! Zu Fuß ging sie den weiten Weg zurück, sie wollte sich erst zur Ruhe laufen.
Aber die Stimme bebte ihr noch, als sie zur Schwiegertochter in die Stube trat: »Wo haste die Ohrringe her?«
»Von Papa!« Verwundert hob die junge Frau die müden Augen; sie lag auf dem alten Roßhaarsofa, Paul hatte es ihr mit Kissen bequem gemacht. »Von deinem Vater? Na, ich danke!« Die Längnick warf den Ohrring so heftig auf den Tisch, daß der Stein vollends aus der Fassung sprang und in eine Dielenritze hüpfte. »So'n Dreck!«
Was war denn?! Ethel wurde blaß und rot. Sie war sehr erschrocken. »Falsch is er, falsch! Nich 'nen Dreier wert!«
Und als Ethel noch immer nichts darauf sagte, die Schwiegermutter nur anstarrte mit ganz verwunderten Augen, erboste sich diese noch mehr.
Was gaffte sie denn noch groß und tat so unschuldig? Wie konnte sie sich unterstehen, jemanden so anzuführen, ihn so blamieren, für echte Brillanten ausgeben, was doch falsche waren?! Immer mehr geriet die Längnick in Hitze. Und all der andere Schmuck war sicher auch falsch! Was?!
»Ich habe ihn auch von Papa bekommen«, flüsterte Ethel und senkte tief den Kopf. Was sollte sie noch weiter sagen – o Gott, wie heftig die Frau schrie!
Da kam Paul vom Bau. Er hatte schon von weitem die erregte Stimme seiner Mutter gehört. Was war denn los hier?!
Die Alte schoß auf ihn zu und packte ihn vorn bei der Weste: was sagte er nun, die Ohrringe waren falsch, nur Imitation! Der ganze Schmuck war falsch! Und nicht einmal eine Aussteuer hatte sie gehabt, nicht für einen Sechser! Sie waren schön reingefallen! Empört, gekränkt und erbittert über die eigene Dummheit, vergaß die Längnick jegliche Schonung.
Aber Paul trat zu seiner Frau, die leise weinte und dabei zitterte wie ein Vögelchen, das die Katze verfolgt. Er legte den Arm um sie. Und zornig fuhr er die Mutter an: »Was haste dich denn so? Was geht es dich an? Und wenn alles falsch is, mir ganz egal! Ethel wein doch nicht! Ich kaufe dir ja anderen Schmuck – alles, was du willst! Ach, bist du böse mit mir?!«
Da war Rieke, ohne weiter ein Wort zu sagen, gegangen. Aber ein Stich war ihr in die Brust gefahren, der hatte ihr Herz getroffen.
Der Paul war vernarrt in seine junge Frau, so vernarrt, daß er andere Leute ganz darüber vergaß. Vernarrt, so ohne Sinn und Verstand, daß es sich nicht einmal verlohnte, ihm mitzuteilen, was man nun zu wissen bekam, so nach und nach. Dieser Mister Brown, der war der rechte! Ein loser Vogel, dem die erwachsene Tochter nur im Wege gewesen war. Eine aus der Walhalle, eine, die da tanzte im kurzen Röckchen, die Beine schmiß und anstößige Lieder sang, so eine hatte er sich mit herübergenommen. Und er wollte das Mensch sogar heiraten, so erzählten sie. Er selber ließ ja nichts mehr von sich hören. Eine noble Verwandtschaft das.
Ein dumpfer Groll schwelte in Rieke. Sie schämte sich fast, auf die Straße zu gehen; wie ein lichtscheuer Uhu hockte sie im Hintergebäude. Sie kam selten ins Vorderhaus. Auch als die neue Villa fertig war, kam sie nicht öfter dorthin.
Paul hatte es nun doch durchgesetzt, seine junge Frau hielt schon ihr erstes Wochenbett in lichteren Räumen. Die Mutter hatte sich angeboten, die Schwiegertochter zu pflegen und, während diese lag, im Haushalt nach dem Rechten zu sehen, aber Paul hatte das abgelehnt. Er war ja da, er sorgte schon für alles, und es ging Ethel ja so gut.
Wer hätte von diesem spillrigen Ding, von dieser Wachspuppe gedacht, daß sie es so leicht überstehen würde?! Andere, Stärkere, viel Gesündere mußten sich doppelt und dreifach so lange quälen. Die Längnick wußte noch ganz genau, wie sie hatte leiden müssen bei ihrem Paul, und sie fühlte etwas wie Neid: ja, die hatte unverschämtes Glück in allem! Groß und hager, die Stirn in Falten gezogen, die Augen kalt, stand die Längnick an der Wiege des Neugeborenen. Da lag es nun in den Daunen, auf einem stickereibesetzten, schneeweißen Kissen, ein Kind mit zartem Köpfchen; es hatte nicht Pauls Schädel. Sie sah lange darauf nieder, aber kein großmütterliches Gefühl wollte in ihr aufwallen. Vielleicht später, wenn das Kind erst größer war – nein, nie!
Sie wandte sich kurz ab. Das war wieder etwas, was ihr noch ein Stück von dem Sohne nahm – das letzte Stück. Alles andere hatte die ja schon weg! Und sie schoß einen finsteren Blick durch die offene Tür nach dem Nebenzimmer, wo die junge Mutter lag und an ihrem Bette der Mann saß, glückstrahlend, zärtlich ihre Hand in der seinen haltend.
Auch zur Geburt des Enkels hatte Mister Brown nicht geschrieben; er hatte auf die Anzeige des jungen Vaters, auf die mit Bleistift gekritzelten Worte der Tochter nur ein kurzes Telegramm gesandt. Und nicht aus London kam es, sondern aus Liverpool: »Many good wishes.« Weiter nichts. Das grämte Ethel. Was die Schwiegermutter ihr auch hinterbracht hatte über den Vater, das Denken an ihn konnte sie doch nicht lassen. Und wenn der Schmuck auch nur Imitation war, ihr ganzer Schmuck: er hatte sie damit doch erfreuen wollen. Und zu tragen brauchte sie ihn ja jetzt nicht mehr; Paul hatte ihr eine Diamantbrosche aufs Bett gelegt für den ersten Jungen, eine ganz große. Aber der frühere Schmuck war hübscher gewesen. –
Ethel hatte niemanden in Tempelhof, mit dem sie sich hätte unterhalten können. Sie war allen freundlich, und alle waren auch freundlich zu ihr, aber die Frauen hier waren eben so anders. Hanne Badekow gefiel ihr noch am besten, obgleich die doch eine Verwandte der Schwiegermutter war. Es war ein freundliches Grüßen aus der neuen Villa hinüber ins Badekowsche Haus; der junge blonde Kopf nickte dem alten grauen gern zu, aber dabei blieb es auch. Ethel hatte nur ihren Mann.
Paul gab sich alle Mühe, er tat seiner Ethel alles zuliebe, aber es lag doch immer noch wie eine Sehnsucht in den Augen der jungen Frau. Jetzt hatte sie alles: ein Heim, wie sie früher nie eines gekannt hatte – ruhig konnte sie draußen die Blätter davonwirbeln sehen – einen guten Mann und ein liebes Kind, das jetzt schon nach ihr seine Händchen streckte, und doch –! Ihre Seele wollte die Schwingen breiten, aber konnte sie denn hier fliegen –?!
Ethel saß viel am Klavier. Ihr Mann hörte ihr gern zu, abends besonders; dann schlief er darüber ein, denn zu rauchen hätte er sich nicht getraut in ihrem Zimmer.
Wenn Ohren dagewesen wären, Ohren, die hörten! Aber Paul sagte: »Spiel doch mal was Lustiges!« Am liebsten hörte er Tänze, und so spielte sie denn Tänze auf dem Blüthnerschen Flügel, den er ihr gekauft hatte.
Kein Mensch in Tempelhof hätte gedacht, daß diese Ehe so gut ausfallen würde: der Paule, der Schlummerkopp, und noch dazu eine Engländerin! Aber die zwei Leutchen waren wirklich glücklich miteinander. Man sah es dem Paul an, er strahlte, er war auf einmal ganz aufgewacht. Bei Kiekebusch ließ er sich auch gar nicht mehr sehen, und da hatte er doch früher so oft gesessen. Aber es war wirklich ganz gut für ihn, daß die feine Frau den Wirtshausgeruch nicht leiden mochte. Ja, die hatte Kraft in ihren zarten Patschen, die regierte ihn feste! Seine große Wirtschaft führte er nun ganz fleißig und ordentlich, kümmerte sich mehr darum, als man es ihm je zugetraut hätte. Und was er sich für ein feines Haus gebaut hatte!
Paul Längnicks Villa wurde viel besprochen; sie war ein Ereignis für Tempelhof. Aber nun konnte sich Gottfried Lietzow auch eine bauen, eine noch viel feinere, eine noch viel großartigere. Er hatte glänzend verkauft! Wie ein Lauffeuer flog diese Neuigkeit durchs Dorf. – – –
Neben der englischen Terraingesellschaft war eine Berliner Terraingesellschaft gegründet worden; auf Aktien. Jetzt, wo Grund und Boden so unglaublich begehrt waren, jetzt beim Erwachen einer Baulust, wie man sie vor dem Kriege gar nicht gekannt hatte, schien es einfach lächerlich, die Engländer allein den Gewinn einstreichen zu lassen. Der Militärfiskus suchte zudem ein geeignetes Terrain, vierundzwanzig Morgen zum mindesten. Ein neues Garnisonlazarett, ein Lazarett großen Stils, für sechshundert Kranke, mit Isolierbaracken, mit Winterblocks und Sommerpavillons, mit Wirtschaftsgebäuden und Wärterwohnungen, mit Villen für Chefarzt und Oberinspektor sollte gebaut werden.
Das hätte Gottfried Lietzow sich auch nicht träumen lassen, daß seine Kohlgärten noch einmal so viel wert sein würden. Gegiert hatte er nicht nach Verkaufen, nur langsam sogar hatte er sich dazu entschlossen. Oder war das Schlauheit von ihm gewesen, sich so förmlich drängen zu lassen?!
Einmalhundertunddreiundneunzigtausend Taler – das war ein Wort! Und bloß für die paar Felder, die Lietzow hinter dem Birkenwäldchen nach Alt-Schönberg zu liegen hatte.
War er es denn nicht auch seinen Kindern schuldig? So sagte Lene. Sie sagte es zu ihm, wenn sie morgens aufstanden, wenn sie abends zu Bette gingen, sie sagte es immer wieder, besonders wenn er schon gern geschlafen hätte. Daß seine Kinder ihm nicht dermaleinst Vorwürfe machten! Vor der Mutter freilich sagte Lene es nicht, sie war eine gute Tochter, sie begriff, daß die Mutter sich nicht vom alten Besitz trennen mochte; aber sollten sie, die Jungen, denn unter dieser Schrulle der Alten leiden?
Johann gab seiner Schwester recht, aber auch nur im stillen, denn wenn man der Mutter von Verkaufen redete, wurde sie ganz böse und heftig, oder ganz traurig, und das war noch schlimmer. Na, man würde ja auch mal an die Reihe kommen! Damit tröstete Johann sich.
Gottfried hatte verkauft, aber Aktionär der Berliner Terraingesellschaft hatte er nicht werden wollen. Dafür dankte er, in Aktien ausgezahlt zu werden. »Ick jebe mein Land bar, ick verlange ooch Jeld bar – det heißt, mit juten preuß'schen Konsols will ick mich zufrieden jeben«, sagte er mit einem Schelmengesicht und steckte die Hände in die Hosentaschen. Er stand breitspurig da: »Sonst wird et nischt mit dem Jeschäft!« Dem Vorschlag, der ihm wohlmeinend gemacht wurde, seinen übrigen Grund und Boden auch noch in die Gesellschaft hineinzugeben und Großaktionär zu werden, wies er mit Entrüstung zurück: »Wat soll ick denn dann machen? Immer bei Kiekebuschen sitzen? Nee! Vor der Hand baue ick noch weiter meinen Kohl. Un iebrijens –!« Er zog die Schultern hoch, blinzelte schlau und schlug dann ein schallendes Gelächter auf: »Na, so dumm!«
Auch in den Aufsichtsrat wollte er nicht hinein: »Nee, nee, laß sich man andere damit bemengen!« Zu seiner Frau sagte er: »Ick verstehe ja von so was allens jar nischt, aber det sage ick dir: et is jenug, wenn einer aus der Familie sich verplempert!«
Lene wußte ganz wohl, auf was er anspielte, sie nickte bedenklich, ja, das war eine Sorge mit dem Jakob! Nicht allein, daß der sein Haus heruntergerissen hatte bis zum ersten Stock und einen Neubau draufsetzen ließ, so schwindelhoch, daß man immer denken mußte: trägt die alte Geschichte da unten das auch noch? – Er hatte sich auch sonst noch auf allerlei Unternehmungen eingelassen. Jakob war beteiligt bei der ersten Altenburger Zuckerfabrik, Kohlenbau- und Landwirtschaftlichen Industriegesellschaft. Großartig las sich der Prospekt:
»Zu den gesegnetsten Fluren des deutschen Vaterlandes gehört der Ostkreis des Herzogtums Sachsen-Altenburg. Die vorzügliche Fruchtbarkeit seines Bodens ist im allgemeinen anerkannt. Aber er birgt auch die wertvollsten unterirdischen Reichtümer – ein Braunkohlenlager von seltener Mächtigkeit, das eine industrielle Entwicklung in Aussicht stellt, welche nur der weckenden und fördernden Hand wartet, um rasch eine dauernde Blüte zu erlangen –«
Und so ging die verlockende Schilderung weiter und eine hinreißende Rentabilitätsberechnung. Den Aktionären wurde als Mindestes eine Verzinsung von zehn Prozent in Aussicht gestellt.
Jakob hatte den Prospekt den Geschwistern zugeschickt. Und er trug sich auch mit der Absicht, einen Aktienkonsumverein zu gründen.
»Aber jescheit muß er doch mächtig sein«, sagte Lene, trotz ihrer Besorgnis, mit einer geheimen Bewunderung.
»I wo!« Gottfried pfiff leise. »Wenn er jescheit wäre, lüde er sich nich so viele Hypotheken auf 'n Hals. Wenn ick bloß wüßte, wo er det Jeld zum Bauen herkriegt; Marianne sagt, bei ihr hat er nich mehr drum anjefragt. Na, nu soll er bloß sorgen, daß er all die Zinsen immer zur Zeit zusammen hat. Un laß da man nur eine Wohnung leerstehen – wat dann? Aber det is ja nu mal so, heutzutage. Jeder will jrabschen, un jejründet wird, wat haste, wat kannste, ob einer 'n Strousberg is oder 'n Esel!« Er zuckte die Achseln und vergrub die Hände in den Hosentaschen. »Ick verstehe ja von so wat allens nischt. Et interessiert mich ooch nich im jeringsten, aber ick meine, die fünf Milliarden haben uns keenen Segen jebracht!«
»Wieso denn nich?« fragte Lene. »Das hat doch aber jar nischt mit Jakob'n zu tun?«
»Äh, sie sind alle verrückt jemacht dadurch«, sagte Lietzow ärgerlich und brach das Gespräch ab. –
In Tempelhof war das Fieber der Zeit ebensogut zu spüren wie in Groß-Berlin. Aktien, Aktien, Aktien schwirrten durch die Luft; sie waren wie Fliegen, die sich nicht verscheuchen ließen, die immer wieder heransurrten. Jetzt wurden besonders Pferdebahnaktien empfohlen als gute Anlage. Eine Pferdeeisenbahn-Aktiengesellschaft, »Berlin-Tempelhof« war ins Leben getreten; sie hatte einen Bahnhof gebaut auf Tempelhofer Terrain. Bauer Hahnemann hätte am liebsten sämtliche Aktien allein an sich gerissen: das war mal ein Unternehmen! Alle Welt würde nun von Berlin nach Tempelhof hinausfahren und die Tempelhofer wiederum fuhren immer nach Berlin herein. Das rentierte sich anders als der langsam ratternde Omnibus.
Und so waren noch viele andere gute Geschäfte zu machen. Die vormals berühmte Hopfsche Brauerei an der Chaussee war schon Aktiengesellschaft gewesen, jetzt aber vergrößerte sie sich bedeutend; sie kaufte noch immer Terrain zu. Wahrhaftig, Großvater Schellnack mußte seinem Ende nahe sein, daß er nicht mehr die Kraft hatte, »Nein« zu sagen, als der Amtmann nun losschlug! Die Lüdeckes hatten auch verkauft an eine Handelsgesellschaft, die das Terrain parzellierte, Häuser darauf bauen wollte; die Straße war schon abgesteckt: »Am Tempelhofer Berg«. Aber den Hauptcoup hatte doch Gottfried Lietzow gemacht. Neunzigtausend Taler hatte damals die Längnick für ihre Ländereien an der Britzer Chaussee bekommen – es war nicht viel länger als zwei Jahre her – und schon hatte er mehr als das Doppelte bekommen! Fünfhundert Taler war jetzt die Quadratrute Land wert. –
Rieke Längnick war wie betäubt, als sie von Lietzows Verkauf hörte. Die Neuigkeit wurde ihr zugetragen mit einer gewissen Schadenfreude. Eine lange Weile saß sie regungslos. Sie hatte erst kaum begriffen, was sie gehört hatte; von einer großen Summe dämmerte es ihr unklar. Aber dann fuhr sie auf: was, einmalhundertdreiundneunzigtausend Taler? Und sie, was hatte sie bekommen? Einen Pappenstiel!
Beide Fäuste reckte sie in die Höhe und brüllte auf: »Un ich, ich?! Ich bin betrogen!« Sie schüttelte die gereckten Fäuste.
Aber der, dem ihr Drohen galt, den sie jetzt an der Gurgel gepackt, wenn er vor ihr gestanden, ihn geschüttelt hätte, so heftig, wie man einen Baum schüttelt, daß alle Blätter fallen, der war ihr entwischt. Ein Weltmeer streckte sich zwischen ihm und ihr. Mister Brown hatte es neulich seiner Tochter kurz zu wissen getan: nach Australien ging er, wurde Pferdezüchter dort. Die Längnick lachte grell auf: der und Pferdezüchter? Gauner. An den Galgen mit ihm! An den ersten krummen Ast sollte man ihn hängen, den Betrüger!
»Ich bin betrogen, betrogen!« Weiter konnte sie nichts denken. Und dann, nach und nach, wuchs ein Gefühl in ihr auf, das Gefühl eines gewaltigen Unrechts, das an ihr begangen worden war. Waren ihre Äcker nicht ebenso günstig gelegen wie jene? Nein, viel besser!
Wie eine Rasende schnob sie hinaus. Leute, die sie laufen sahen, verwunderten sich: was rannte die Längnick denn wie verrückt?!
Sie rannte hinaus nach der Britzer Chaussee. Da lagen die Äcker, die sie verkauft hatte, noch immer wie früher, das heißt, sie waren nicht mehr bestellt, nur von dem, was einst hier gewesen war, kam noch einiges durch. Verlorene Körner waren aufgegangen, ein paar Halme schossen spärlich und hingen schon zerknickt; hie und da hatte eine Kartoffel gekeimt, eine kraftlose Staude war emporgeschossen. Wilde Kamillen blühten, dazwischen rankte kriechendes Unkraut, alles überwuchernd.
Sie warf sich auf die Knie und raufte mit beiden Händen das Unkraut aus, das waren ihre Äcker, ihre kostbaren Äcker! Sie krallte sich ein in die sandige Krume und wühlte darin: ha, das war alles Gold, alles Gold! Aber ihr war es entglitten. Mit einer Verwünschung schleuderte sie den rasch durch die Finger rinnenden leichten Sand weit von sich ab; sie weinte laut. Und dann sprang sie empor und sah wild um sich: betrogen, schmählich betrogen – an wem rächte sie das?!
Planlos irrte sie übers weite Feld, sie rannte sich müde. Rute auf Rute schritt sie ab, Morgen um Morgen. Ha, da waren ja Lietzows Kohlpflanzungen! Noch standen da sein Weißkraut, sein Rotkraut, seine Mohrrüben, seine Kartoffeln, aber schon erhob sich ein Bauzaun. Zwischen den Kohlköpfen wanderten Menschen herum, Männer mit Stangen, und zertrampelten alles. Was schadete ihm das jetzt – pah, zertretenes Gemüse – er hatte ja Gold, so viel Gold dafür eingeerntet!
Das Herz schnürte sich ihr zusammen, ein bittrer Geschmack stieg ihr in den Mund und legte sich ihr auf die Zunge; der Gaumen war ihr wie vertrocknet. Lechzend rang sie nach Luft. Die Füße versagten ihr fast den Dienst, aber sie ging doch noch nicht heim; sie konnte sich nicht trennen. Ihre Augen fuhren unstet umher, hungrig hingen sie am Kohlfeld. Also dafür, für diese paar Strünke hatte der Lietzow das viele Geld gekriegt?! Ihre Äcker waren größer gewesen – mehr Land – aber noch einmal so viel hatte er für die seinen bekommen!
Eine ohnmächtige Verzweiflung packte die Frau: wer gab ihr ihre Äcker wieder, die der Schurke ihr abgeluchst hatte! Jetzt konnte sie sie besser verkaufen. Die Äcker waren nicht mehr wiederzubekommen, und wenn sie die neunzigtausend Taler auch wieder hinzählen würde. Neunzigtausend Taler waren jetzt nichts mehr dafür. Bald waren sie neunmalhunderttausend wert! In der Verzweiflung steigerten sich ihre Vorstellungen, die Summen fanden gar keine Maße mehr; sie sah die Tausende nur so strömen, aber alle hierher, hierher. Sie war die Betrogene! Wütend verzerrte sich ihr Gesicht.
Als die Männer, die Vermessungen vornahmen, sich ihr näherten, schleuderte sie ihnen einen Blick zu, vor dem sie scheuten.
Was war denn das für ein verrücktes altes Weib, das da wie eine Vogelscheuche stand mit ausgereckten Armen?
Nur zögernd entfernte die Längnick sich. Sie schlorrte langsam nach Hause. Aber nicht über den Hof ging sie in ihr Hinterhaus, stracks vorne hinein ging sie, in die neue Villa. Wie eine Fremde trat sie dort ein. Aber dann pochte sie nicht an wie bei Fremden, sondern trat sogleich ungestüm ein. Ethel war allein. Sie saß am Flügel, den Kinderwagen mit dem Kleinen hatte sie neben sich stehen.
»Baby hört auch schon zu!« rief sie lächelnd, ohne die Augen von den Tasten zu erheben; sie glaubte, es sei ihr Mann, der da eilig eintrat. Aus dem träumerischen Chopinschen Nocturno glitt sie liebenswürdig in eine hüpfende Polka über; er sollte doch gleich zum Willkommen etwas ihm Wohlgefallendes hören.
»Is Paule nich da?« fragte hart die Stimme der Längnick.
Da erschrak die junge Frau. Seit die Schwiegermutter sie damals so angefahren hatte wegen des Schmuckes, empfand sie eine Furcht vor ihr, eine Scheu, die sich nicht verlor, wenn jene seitdem auch wieder freundlich zu ihr gewesen war. Ethel hatte kein Vertrauen zu dieser Freundlichkeit.
Rasch stand sie auf vom Klavier und ging dem Besuch entgegen: »Wünschest du etwas von Paul? Er ist fort, aber er muß bald zurückkommen. Bitte, nimm Platz! Er kann ja auch gleich zu dir kommen, wenn du das lieber willst«, setzte sie verlegen hinzu, denn die Schwiegermutter schwieg beharrlich und setzte sich auch nicht.
Was wollte sie denn? Was war nun schon wieder nicht recht?! Der jungen Frau stockte der Atem, sie wußte nicht, was sie noch sagen sollte. Ganz steif stand die Frau da, so groß und so hager. Ethel kam sich selber ganz kleinwinzig vor. Wenn doch Paul käme!
Scheu sah sie zu der großen Gestalt hin; ein Ungewitter braute auf deren Gesicht, die Augen blickten ganz düster. Die junge Frau fühlte den finsteren Blick wie etwas Durchbohrendes. Unwillkürlich wich sie hinter den Wagen des Kindes zurück; sie preßte nervös ihre zarten Hände gegen die Stirn.
Noch immer sagte die Schwiegermutter nichts, aber der Erschrockenen wäre es lieber gewesen, sie hätte laut gescholten. Wenn die es ihr doch sagen möchte, was sie wieder verbrochen hatte! Denn daß ihr der Zorn galt, das fühlte sie.
Vor den überreizten Blicken der verängstigten Frau wuchs die Gestalt der finster Dastehenden, sie wurde drohender und immer drohender, sie wuchs ins Übergroße. Und sie reckte und streckte sich immer, immer noch.
»Was habe ich getan?« Zitternd stieß Ethel die Frage heraus.
Da kam Leben in die starr-drohende, finstere Gestalt. Mit einem einzigen Schritt stand die Längnick der Schwiegertochter nahe gegenüber, schwer schlug ihre Hand auf das Bettchen des Kindes, daß die Daunen stoben: »Du alleine bist schuld dran, du!«
*
Ethel hatte es ihrem Manne nicht gesagt, daß sie sich fürchtete. Als er nach Hause gekommen war, vor dem Sofa kniete, ihre matt herabhängende Hand küßte, ihr schmales Gesicht mit seiner breiten Hand ungeschickt streichelte, konnte sie es ihm da sagen, daß ihr so bange war vor seiner Mutter? Es würde ihn zu sehr betrüben. Es war auch dumm, ganz kindisch von ihr, bange zu sein! Diese alte, bäuerische Frau, die war zwar grob mit Worten, aber getan – nein, getan hatte die ihr noch nie etwas!
Entschlossen versuchte Ethel ihren gesenkten Kopf, auf dem sie es stets fühlte wie den Druck einer schweren Hand, aufzurichten, sie versuchte ein Lächeln: »Ich bin nervös, Paul, ich fühlte mich nicht wohl. Du mußt nicht drauf achten, daß ich weinen muß. Nun ist alles schon wieder gut!« Sie küßte ihn.
Und er war selig. Er merkte nicht, daß ihr Lächeln erzwungen war, daß sie zusammenschreckte bei jedem Tritt auf dem Flur. Ethel war eben empfindlich – zart war sie, das sagte auch der Doktor – aber das würde ja bald wieder besser werden, es lag jetzt in ihrem Zustand.
Sie erwartete diesen Herbst noch das zweite Kind. Wenn es sich nur nicht gerade so traf, daß das ankam, während er fort war!
Der junge Längnick war einberufen worden zu den Kaisermanövern. Er war zwar eingekommen um Verschiebung seiner Übung – aber ob ihm diese bewilligt werden würde? Nun, schlimmstenfalls war die Mutter ja da! Pfeifend, die Hände in den Hosentaschen, schlenderte Paul jetzt zu dieser über den Hof; Ethel schickte ihn, die Mutter hatte vorhin nach ihm gefragt.
Rieke Längnick lag im Bett. Daß sie sich hinlegte am hellen Tag, das war noch nie vorgekommen; so lange wenigstens nicht, als der Sohn sich erinnern konnte, und er war ganz erschrocken. »Was fehlt dir, Mutter?«
Aber sie machte nur eine stumm-abwehrende Handbewegung. Fahl, ganz gelbgrün war ihr Gesicht, die Nase spitz; kalter Schweiß brach ihr aus. Sie bekam eine Gallenkolik; man mußte den Doktor holen.
Es war das erste Mal in ihrem Leben, daß Rieke Längnick krank lag. Doch daß sie es dulden mußte, daß die Schwiegertochter an ihrem Bette saß, ihr die Tropfen reichte, ihr die Umschläge machte, das war schwerer zu ertragen als die entsetzlichsten Schmerzen. Wegen der Schmerzen, die ihren Körper peinigten, hatte die Längnick sich nicht. Sie preßte die Lippen zusammen, wenn die Krämpfe kamen, und unterdrückte das Wimmern, – nun ja, sie war jetzt hingeworfen, doch würde sie schon bald wieder auf die Beine kommen! Aber wenn sie daran dachte, weshalb sie hier lag, dann konnte sie nicht an sich halten. Von dem Vater betrogen, der ihr dies spillrige Ding auf den Hals geladen! Und nun mußte sie es dulden, daß dieses Halunken Tochter an ihrem Bette saß! Sie stöhnte laut auf.
»Fühlst du dich wieder krank?« fragte Ethel mitleidig und legte ihr einen neuen Umschlag auf mit sanfter Hand.
In ohnmächtiger Wut stieß die Kranke mit den Füßen unten gegen die Bettstatt, ihre Hand krampfte sich unter der Decke heimlich zur Faust: nur so viel Kraft, nur so viel Kraft, um die da hinauszuwerfen! Laut ächzte sie; sie wußte es gar nicht, wie laut sie ächzte.
Paul konnte der Mutter Leiden nicht mit ansehen, er lief aus der Stube. Es waren die Arme der Schwiegertochter, die die Längnick stützten und hoben. Es war erstaunlich, mit wieviel Geschick Ethel das tat. Paul, der besorgt war, seine Frau könne sich überanstrengen, ließ eine Wärterin kommen. Aber nun empfand die Längnick erst recht eine Qual: jene, die sie nicht sehen konnte, die sie hätte packen mögen an ihren goldigen Haaren, hinauszerren aus dem Haus, jene, die sie haßte – ja, jetzt haßte sie die! – jene entbehrte sie jetzt, das war Höllenpein. Und sie haßte sie doppelt darum.
Wie faßten die plumpen Hände der teuerbezahlten Person hart und ungeschickt an! Wie ein an der Kette liegender böser Hund knurrte die Kranke. Es war kein leichter Posten bei ihr.
Die Wärterin seufzte: nichts konnte man der auch recht machen! Sie wäre fortgelaufen, hätte nicht des reichen Längnick Bezahlung sie doch wieder gehalten. Aber sie rächte sich an der Kranken, sie klatschte im Dorf herum.
In Tempelhof lachte man: am eigenen Gift war die Rieke erkrankt, sie hatte sich zu sehr gebost über des Lietzow Einmalhundertdreiundneunzigtausend! Daß sie nur nicht krepierte an dem, was sie herunterschlucken mußte!