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X.

Hanne Badekow seufzte, als sie den Tod der jungen Frau erfuhr: »Die Jungen müssen fort, die Alten müssen bleiben!« Ach ja, wenn es auch ganz schön war, zu leben, am Ende wurde man doch müde!

Nun rüstete sich alles zur Begräbnisfeierlichkeit. Es war eine »große Leiche«; eine volle Stunde wurde geläutet. Ganz Tempelhof nahm teil am Leichenbegängnis. Die neue Villa war dicht belagert von Menschen. Es waren viele hineingegangen und hatten sich die Engländerin noch einmal angesehen.

Ethel Brown war aufgebahrt vorn in dem großen Zimmer bei ihrem Flügel. Da lag sie in einem kostspieligen Sarg. Der Sargdeckel mit den silbernen Beschlägen und den Engelsköpfchen lag daneben am Boden; gleich sollte zugenagelt werden.

Hulda Lietzow war auch unter den Neugierigen. Das Kind hatte sich mit hineingeschlichen; es hatte die glückliche Gelegenheit erwischt, in das feine Zimmer zu kommen, aus dem einmal süße Töne zu ihm gedrungen waren, heller Glanz, der große Schimmer des Glücks. Ach, da war ja die rote Tapete, der goldene Bilderrahmen, der Kronleuchter mit den vielen Kerzen! Und da war auch sie – sie!

Huldas neugierig-unruhige Blicke wurden starr; sie schlich noch einen Schritt näher heran. Ganz nahe stand sie nun bei der Märchengestalt, sie verschlang sie mit den Augen.

Ein weißes Kleid hatte die heute an – fein – aus Seide war es. Das mußte rauschen! Mit einer Diamantbrosche war das Kleid vorn zugesteckt – ja, die Längnicks, die hatten's dazu, die waren so reich! Und einen Kranz hatte sie auf aus Myrtengrün, mit weißen Blümchen und Knospen aus Wachs.

Rieke Längnick hatte die Schwiegertochter geschmückt. Sie selber hatte ihr das Brautkleid angezogen, die weißen Atlasschuhe, die durchbrochenen Strümpfe, und wieder wie damals am Hochzeitstag mit schwerer Hand ihr den Kranz auf den Scheitel gedrückt. Die Längnick dachte an alles, sie sorgte für alles; sie hatte selbst nicht vergessen, das spitzenbesetzte Brauttaschentuch der Toten zwischen die zusammengelegten Hände zu stecken.

Das Kind sah alles. Es sah auch die langen Wimpern auf den zarten Wangen ruhen; leicht geschlossen nur waren die Lider. Die machte jetzt gewiß gleich wieder die Augen auf! Und wie freundlich der Mund war, gerade, als wollte er lächeln. O, die war ja so lieb, so schön!

Kein Grausen des Todes faßte das Kind an. Es war voller Entzücken. Nur ein bißchen Rot auf den Wangen fehlte, sonst war die weiße Frau gerade wie das Schneewittchen, von dem es im Märchenbuch gelesen hatte. Schneewittchen hatte auch so dagelegen im Sarg, weil die böse Königin es umgebracht hatte, aber die sieben Zwerge, die traurig den Sarg bewachten, die sahen auf einmal, wie Schneewittchen – ach!

Ein plötzliches Entsetzen befiel das Kind: der Sarg hier, der war ja nicht von Glas!

Ein paar schwarze Männer waren hereingekommen, sie nahmen den Sargdeckel vom Boden auf; sie hoben ihn nur mit Mühe, er war groß und schwer und dick, aus Eichenholz. Sie legten ihn über Schneewittchen.

»Huh!« Einen Laut des Schreckens stieß das Kind aus, einen unterdrückten Angstschrei: ach, nun konnte die nie mehr aufstehen! Jetzt ward es des Todes Grausen inne, verzweifelt hub es ein Weinen an.

»St! Stille doch! Raus!« Eine Hand riß Hulda fort, man stieß sie hinaus.

Drinnen dumpfe Hammerschläge; sie nagelten den Sarg zu.

 

Immerfort, immerfort läutete die Tempelhofer Glocke. Der Kirchhof war zu klein, alle heute Nachfolgenden zu fassen.

Hätten die Längnicks nicht hier das Erbbegräbnis gehabt, so hätte die junge Frau auf den neuen Kirchhof gemußt; auf dem alten wurden nicht Stellen mehr vergeben. Alles war besetzt.

Zwischen den Gräbern stand man dichtgedrängt; Männer, die Hüte in der Hand, Frauen, die Schnupftücher an die Augen führend. Ein Gesangverein sang, es war sehr ergreifend. Kinder belagerten die Kirchhofspforte, der Küster wollte sie verjagen, er brachte sie nicht fort. Und auf den Ästen der Templer Bäume, die jetzt zum Park der Engländer gehörten, saßen rittlings größere Burschen und guckten herüber.

Der letzte Vers des »Es ist bestimmt in Gottes Rat« war verklungen, der Prediger sprach das Schlußwort. Nun schwebte der Sarg an den Stricken hinab in die Gruft.

Rieke Längnick hatte sich nach Paul umgesehen; der Totengräber präsentierte ihm eben die Schaufel voll Erde – er langte nicht zu. Der Kopf hing ihm auf die Brust, er sah nicht, er hörte nicht; ein paar Männer mußten ihn unter den Armen stützen, kaum hielten sie ihn so aufrecht. Da trat sie heran, festen Schrittes, und warf statt seiner die drei ersten Hände voll der Toten nach. Sie hatte ordentlich zugegriffen, hart prasselten die trockenen Erdschollen; dumpf dröhnte es unten, es tönte aus der Grube eine laute Klage herauf. Aber gelassen trat die Längnick zurück.

Sie war wieder ganz die Alte. Von der Krankheit, die sie vor ein paar Monaten so arg mitgenommen hatte, war ihr jetzt nichts mehr anzumerken; sie sah wieder ganz aus wie früher, hager, aber kräftig, ein von kleinen blauen Äderchen durchschossenes Bauernrot auf den Backenknochen. Sie reichte allen, die mit Leid getragen hatten, die Hand; bei dem Geistlichen bedankte sie sich für die schöne Rede in wohlgesetzten Worten. Alles, wie es sich gehörte. Nur als sich Paul von den ihn haltenden Männern losriß und mit einem Aufschrei seiner Frau nachstürzen wollte in die noch nicht zugeschaufelte Gruft, erblaßte sie für einen Augenblick. Sie biß sich auf die Lippen.

Das mußte ihr aber doch arg sein, daß ihr einziger Sohn solch ein Unglück hatte! Mit leisem Geschnüffele begleiteten die Frauen mitleidig das wilde Schluchzen des jungen Witwers.

Er ließ sich jetzt von seiner Mutter fortführen. Sie winkte allen ab, sie ging ganz allein, langsam, mit ihm dem Ausgang zu. Sein Kopf lag auf ihrer Schulter. –

Alle anderen waren nun auch gegangen. Es hatte lange gedauert, bis sich der Kirchhof leerte, denn das war ein Fall, über den man sich gar nicht genug erzählen konnte. Wie hatte der arme Mensch ausgesehen! Wie ein Irrer, ganz wahnsinnig vor Schmerz. Es war aber auch zu schrecklich, daß die Frau ihm hatte sterben müssen, so jung und so glücklich! Was fing er nun an mit den zwei kleinen Kindern? Er würde wieder heiraten müssen.

Aber andere, die klüger waren, schüttelten die Köpfe: als ob die Längnick eine Schwiegertochter leiden möchte! Mit der Engländerin war es noch so eben gegangen, die war ein sanftes Geschöpf gewesen – aber mit einer anderen?!

Gottfried Lietzow faßte seine Frau unter den Arm: »Komm, Leneken, nach Hause. Et is mir orndtlich uf 'n Magen jeschlagen. Brrr! Ick jloobe, ick muß 'nen kleenen Kümmel trinken. Et schuddert mir!«

Das Ehepaar Lietzow wollte auch die Mutter zu einem kleinen Kümmel mitnehmen – sie mußte ja bei ihnen vorbei – aber die Badekow wollte nicht mitkommen.

»Ick sehe mir hier erst noch 'n bißken um«, sagte sie.

»Na, det kennste doch hier allens zur Jenüge, Mutter«, meinte Gottfried. Aber Lene wisperte ihm zu: »Sie will alleine sein. Sie hat jetzt manchmal so'ne Schauern!«

So gingen denn alle, nur Hanne Badekow blieb noch da. Langsam wanderte sie zwischen den Gräbern umher. Bald stand sie hier still, bald da, betrachtete einen Stein, der schief und schon halb eingesunken im dunkel wuchernden Efeu stand, strich die Ranken zur Seite und buchstabierte 1529 heraus. Ja, das war auch ein Badekow gewesen! Gürgen Badekow, Kirchspielvogt und weiland Schulze von Tempelhove. Hier herum lagen sie alle. Ein ganzes Geschlecht. Ob sie nun auch weiter hier liegen würden? Nein. Nur sie kam noch auf die Erbbegräbnisstelle, die dort an der Mauer von ihres Schwiegervaters Vaters-Vater selig angelegt worden war; weiter ging keiner mehr rein. Aber sie würden wohl überhaupt kaum mehr in Tempelhof zu liegen kommen – vielleicht der Johann noch – wer weiß, wo die anderen sich hin zerstreuten?!

Ein bitteres Gefühl stieg in der alten Frau auf, sie mußte es gewaltsam niederkämpfen: nein, sie wollte nicht ungerecht sein. Die Kinder sind nun einmal nicht mehr, wie die Alten sind; sie können es auch gar nicht mehr sein, das Leben ist jetzt so anders! Wenn sie sich jetzt umsah, hier, wo man sonst nichts gesehen hatte, als hinter der kleinen Kirche die waldigen Bäume des Templer Gartens, den dunklen Wallgraben, und draußen vor der Mauerpforte den Dorfpfuhl in grasbewachsener Mulde, und rechts und links davon nichts als Gärten und Felder, nichts gehört hatte, als zur Sommerzeit das wohlige Quakquak der Frösche und im Herbst das behagliche Klippklapp in den Scheunen, jetzt sah man auch hier etwas anderes. Im vorigen Jahre noch hatten sie um diese Zeit wacker gedroschen! Vergebens horchte die alte Frau: es war nichts mehr davon zu hören. Und auf den Feldern wurde nicht Dung mehr gefahren, nicht mehr bestellt zur Winteraussaat.

Ach, und da hinter dem Birkenwäldchen, nach Schöneberg zu, auf Gottfrieds Acker, stand der schöne Kohl nicht mehr! Alles war wüste gemacht, Menschen trampelten darauf herum. Herrgott! Die Badekow befiel ein plötzlicher Schreck: sie würden doch nicht jetzt, schon jetzt zu bauen anfangen?! Und schmerzlicher noch als das, was sie sah und hörte, hatte sie es im Gefühl: hier kamen einst hohe Häuser hin statt der niedrigen; hier wurde alles anders. Tempelhof gab seinen Grund und Boden her. Aber dann stand das Dorf selber auch nicht mehr fest. Seine Kinder – ihre eigenen Kinder wollten nicht Bauern mehr sein. Lene und ihr Mann würden sich nun wohl auch eine Villa bauen. Die Schwiegertochter Grete hatte erst neulich zu ihr gesagt: Mutter, wenn Sie tot sind, denn verkauft Johann, denn ziehen wir nach Berlin.« Auguste und Jakob wohnten ja schon dort. Ach, und Mieke?!

Eine unbestimmte Angst zitterte plötzlich über das Gesicht der Frau. Sie stand am Grabe ihres Mannes, vor der Tafel, auf der mit Goldschrift Geburtstag und Todesdatum verzeichnet waren, und darüber:

»Selig sind die Toten!«

Mechanisch bückte sie sich und zupfte ein paar dürre Blätter aus den Rhododendronbüschen, die schon alle die Knospen fürs kommende Frühjahr zeigten, rupfte jede nicht mehr ganz gute Blume aus den Kränzen der künstlichen Rosen, mit denen sie immer wieder seine Ruhestätte schmückte. Mit der Mieke war das eine böse Sache, es war jetzt gar nicht mehr fertig zu werden mit dem Mädchen. Immer raus, rein; und dösiger wurde sie dabei alle Tage!

»Badekow«, sagte die Frau ganz laut, kniete nieder und legte die Hand aufs Kopfende seines Hügels, »Badekow, nu sage man bloß, wie det kommt, dat det Mächen so verkehrt is? Ich bin bange!«

Sie seufzte aus bekümmerter Mutterbrust. Aber der Vater da unten gab keinen Seufzer zurück.

Da erhob sie sich von den Knien, strich an ihrem Kleid herunter und klopfte die Erde davon ab. »Adjö, Badekow!« Sie nickte ihrem Mann zu. Noch ein prüfender Blick: war denn auch alles wieder schön in Ordnung? Und dann ging sie.

Langsam, wie müde, schritt sie durch die Mitte der Linden. Rechts war Gottfrieds Haus, sie ging ganz auf die linke Seite hinüber: die würden sie sonst sehen und mit Gewalt herüberholen, und – nein, sie mochte jetzt nicht.

Vor Karl Lietzows Haus saß die kleine Tochter. Die alte Frau wunderte sich: es war doch schon frisch, die Blätter fielen, und die Kleine saß noch auf den Steinstufen im kattunenen Kleidchen?!

Ein Buch hielt Hulda auf dem Schoß; links von ihr saß ein schwarzer Teckel, rechts von ihr der andere. Den glatthaarigen schwarzen Kopf hielt sie tief geneigt, sie las ihren Teckeln vor mit singender Stimme:

»Und als die böse Königin ihren Spiegel befragte:

›Spieglein, Spieglein an der Wand,
Wer ist die Schönste im ganzen Land?‹

da sagte das Spieglein:

›Ihr, Frau Königin, seid die Schönste allhier!‹

Da war die Königin froh in ihrem Herzen, denn Schneewittchen war ja nun tot …«

Die Badekow schüttelte den Kopf im Weitergehen: so ein dummer Unsinn! Sie hatte ihren Kindern nie Märchenbücher zu lesen gegeben. Und doch war etwas Wahres in dem Unsinn – sie stutzte. Die Rieke schien auch wirklich nicht sonderlich unglücklich, daß die junge Schwiegertochter gestorben war. Ja, nun war sie wieder Herrscherin, ganz alleine, das sollte ihr wohl gefallen!

Einen nachdenklichen Blick warf Hanne hinüber zum Haus des Todes. Hinter der neuen Villa ragte der alte Scheunengiebel; das Nest darauf war jetzt leer. –

Zu Hause fand die Badekow eine Überraschung vor. In der Stube saß Auguste Paschke am Fenster.

»Na, so was!« Die Mutter schlug die Hände zusammen. »Ick habe dir ja jar nich erwartet. Na, aber nu leg man ab, sitz nich so da. Wir haben eben die arme kleine Frau von drüben bejraben. Aber nu freue ick mir doch!«

Es war etwas Herzliches in der Art, wie Hanne Badekow ihre Auguste begrüßte. Die kam ja auch so selten. Die Mutter nahm ihr selber den Hut ab: »Na, so, Kind, nu setz dir man uf't Kanapee. Ick will man bloß rasch jehn, dir 'nen Kaffee kochen. Du hast ja janz kalte Potekens!«

»Laß doch, Mutter. Ich kann ja auch mitkommen«, setzte Auguste zögernd hinzu.

»Nee, nee, bleib man sitzen. Weißte, früher durfste nie uf't Kanapee. Nu derfste!« Die Alte lief geschäftig nach der Küche, Mieke war nicht da, sie machte rasch selber Feuer an.

Währenddessen blieb Auguste in der Stube. Die war ihr so vertraut. Am selben Platz stand noch dieselbe Tasse, an der Wand im selben Rähmchen hing noch dieselbe Photographie. Jeder Stuhl war noch am selben Platz. Und hier auf dem Sofa lagen dieselben gehäkelten Deckchen, die sie kannte seit Jahren und Jahren schon; und dasselbe Kissen lag darauf mit dem Perlenhund und der grünen Kreuzstichfüllung. Nur auf der Spiegelkonsole war etwas Neues hinzugekommen. Da stand ein Bild von ihr und ihrem Mann. Gleich nach der Hochzeit hatten sie es machen lassen, im Brautstaat. Nun war das auch schon bald drei Jahre her!

Auguste stand auf, nahm das Bild in die Hand und betrachtete es mit verängstigten Augen. Kein gutes Bild von ihr, gar nicht vorteilhaft! Sie seufzte. Wie alt sie darauf aussah! Aber Julius sah hübsch aus. Und hübsch war er noch immer. Sie lächelte trübe. Wenn sie ihm nur die Hoffnung bringen konnte, daß die Mutter aushalf! Hoffnung, Hoffnung – nein, er wollte die feste Zusicherung. »Sieh man zu, daß du auf alle Fälle Geld rauskriegst! Die zehntausend Mark mindestens. Ich muß sie haben. Ich will sie haben!« Er hatte dabei mit dem Fuß aufgestampft. »Wozu hab ich denn 'ne vermögende Frau geheiratet?! Wenn du das nich mal kannst!«

»Ja, ja«, hatte sie versichert, »ich gehe schon!« Sie hatte darauf gewartet, aber er hatte ihr nicht einmal einen Kuß mit auf den Weg gegeben. Hätte er ihr doch einen gegeben! Dann würde sie jetzt hier nicht so zaghaft sein, dann würde sie Mut haben; was würde es ihr dann ausmachen, wenn ihre Mutter auch gegen sie anging – alle anderen – wenn nur ihr Mann in Liebe ganz eins mit ihr war?!

Die Tür knarrte, Auguste erschrak. Das Bild fiel ihr aus der Hand, es klirrte am Boden.

»Aber Juste«, sagte die Badekow vorwurfsvoll und las die Scherben zusammen. »Det jute Bild!«

»Ich finde es gar nicht gut!« Auguste sagte es mit blassen Lippen. »Ich sehe darauf aus wie seine Großmutter. Laß, laß doch, Mutter!« Sie versuchte die Kniende am Auflesen zu hindern. »Kehr alles zusammen, schmeiß es in den Ofen!«

»I, wo wer' ick!« Die Badekow hatte alles aufgesammelt, nun versuchte sie vorsichtig, die noch zwischen Rahmen und Photographie steckenden Glassplitter zu entfernen. »Siehste, o je, nu biste dazu noch janz verkratzt!«

Auguste hatte ihr das Bild aus der Hand gerissen: »Ich mag es nich leiden, ich mag es nich sehen!«

»Der Mensch kann nich anders aussehen, als wie er is. Aber laß man. Juste, es muß auch so'ne jeben!«

Die Tochter sagte nichts darauf. Sie saß stumm da. Sie mochte auch nicht Kaffee trinken, sie rührte nur in ihrer Tasse herum.

Die Badekow sah sich das eine Weile mit an. »Na«, sagte sie dann endlich, »warum biste denn eigentlich jekommen?«

»Ich –?!« Auguste versuchte völlig harmlos zu tun.

»Ja, du. Denn daß de was uf'm Herzen hast, det kann doch 'n Blinder sehen. Also man los, wat willste?« Scharf sah die Mutter ihre Tochter an.

Diese erbleichte. »Geld«, sagte sie leise.

»Jeld – wozu?« Die Badekow erblaßte auch: kamen denn ihre Berliner Kinder immer nur nach Geld?! »Jeld – wozu brauchste't denn?« Ach was, am Ende wollte die Auguste ihrem Mann ein besonders großes Weihnachtsgeschenk machen – das Zigarrengeschäft ging ja so gut! Die Mutter beruhigte sich.

»Julius hat verloren. An der Börse«, flüsterte die blasse Frau. Man konnte sie kaum verstehen.

Aber »verloren«, und »an der Börse«, das verstand die Badekow sofort.

»Wat?« Ihre Hand schlug derb auf den Tisch, »en Börsenjobber is der Windhund ooch noch jeworden!« Es fuhr ihr so heraus. Sie hatte Auguste nicht kränken wollen, aber unwillkürlich drängte sich ihr die Bezeichnung, mit der die anderen der Familie Julius Paschke immer benannten, auf die Lippen. Sie war empört. Die dreißigtausend Taler, ihrer Tochter Mitgift, weg?! Aber mehr als das empörte sie Augustens Anblick. Wie saß die denn da?! Ganz zusammengesunken wie eine alte Frau, und der Blick, den sie jetzt scheu-bittend zur Mutter erhob, hatte etwas Herzzerreißendes.

»Julius hat eben Pech gehabt!« Es sollte trotzig klingen, Auguste wollte den Kopf in den Nacken werfen, aber verschwiegenes Leid drückte ihn ihr gleich wieder herunter. »Andere gehen doch auch an die Börse – alle Welt geht jetzt an die Börse«, murmelte sie. »Er hat 'nen Freund, der ist so reich dadurch geworden – ach, nur Herr Rosenthal hat ihn dazu verführt!«

»Papperlappapp. Schieb nich andere vor!« Die Badekow sagte es streng. »Det Nicharbeitenwollen und doch Schnellreichwerden hat ihn verführt. Jawoll« – sie lachte kurz auf und betrachtete ihre Hände, die trotz der Schonzeit des Alters Arbeitshände geblieben waren –, »det Reichwerden jeht nich in eins, zwei, drei. Sage man bloß, wie kannste det zulassen, det dein Mann an der Börse spielt?!«

»Ich habe ja auch gesagt, er möchte das doch lieber sein lassen, aber –«

»Du bist 'ne Jans!« Die Badekow kriegte einen ganz roten Kopf. »Is et dein Jeld, oder is et sein Jeld, he?«

Auguste antwortete nicht. Immer tiefer senkte sie den Kopf; als sei sie gebrochen im Rücken, so klappte sie vornüber.

Die Mutter polterte los; sie war sonst gar nicht so heftig – das Geld wäre auch noch zu verschmerzen, Auguste kriegte ja noch mal genug – aber ging dieser Paschke, dieser Windhund, mit dem Mädel auch ordentlich um?! Ein großes Mitleid überkam plötzlich Hanne Badekow. Sie setzte sich dicht neben die Tochter und zog deren Kopf an ihre Schulter.

Auguste weinte leise.

»Na, Juste, Justeken!« Sie klopfte auf den gebeugten Nacken. »Na, na, Justeken!«

Ein tief-inneres Schluchzen erschütterte die spärliche Gestalt.

Der Badekow wurde ganz ängstlich. »Er is doch nich etwa schlecht zu dir, Juste?«

Auguste hielt an sich, ihr Schluchzen hörte plötzlich auf, rasch hob sie den Kopf von der Schulter der Mutter, eine flammende Röte übergoß ihr verhärmtes Gesicht.

»Du hast ja noch Muttern«, sagte die Badekow weich. »Hier kannste immer kommen. Dein Bett steht noch oben, leg dir man rein. Der Paschke – na, wir werden schon sehen!«

Da schrie Auguste auf: »Schlecht?! Mein Mann schlecht zu mir?!« Sie brach in ein hysterisches Gelächter aus, ein Gelächter zwischen Lachen und Weinen. »Julius ist reizend – ja, reizend ist er zu mir – er hat mich sehr lieb – sehr lieb – lieb – sehr lieb!« das versicherte sie immer wieder.

»Na, denn is't ja schön«, sagte die Badekow. Sie sah die Tochter im Rot der Scham, sie sah die unruhige Angst in ihren Augen. Auguste log wohl? Oder machte das arme Ding sich selber was vor?! Aber die Mutter sagte nichts mehr davon. Wozu Auguste noch mehr erregen? Wenn sie denn durchaus wollte – eigensinnig wie ein störrisches Pferd war sie immer gewesen – dann mußte sie sich auch allein durchfinden.

Auguste weinte nicht mehr. Mit funkelnden Augen saß sie da. »Willste uns aushelfen?« sagte sie jetzt ganz fest. »Julius hat auf Anraten von Rosenthal Kaschau-Oderberger gekauft – sie standen schon ziemlich hoch – sie gingen rasch herauf – man dachte, sie würden noch höher steigen.«

»Du redest ja wie'n Jeschäftsmann!« Die Badekow nickte. »Na, und denn?« »Dann hätte Julius natürlich gleich verkauft. Aber da –« sie stockte. »Da – bums!« Die alte Frau stand vom Sofa auf. »So'n Krach is immer janz in der Ordnung. Wat spekulieren die Leute denn? Ick will dir wat sagen, mein Dochter!« Sie reckte ihre kleine Gestalt ganz energisch. »Von mir kriegt ihr nischt!«

Auguste riß die Augen weit auf, ganz entsetzt sah sie die Mutter starr an.

»Nee, mein Kind!« Die Badekow schüttelte verneinend. »Da is mir mein Jeld doch zu schade vor, det schöne Jeld!«

» Ich habe aber doch Geld!« brauste Auguste auf.

»Vor der Hand is noch allens mein Jeld. Un Jott sei Dank«, sagte die alte Frau ganz ruhig. »Un Dank ooch Badekown. Wenn der mich nich zum Erben einjesetzt hätte un euch erst nachher – na! Wer weiß, wie froh du noch mal bist, det ick jetzt ›Nee‹ sage!«

Auguste lachte schrill; sie war auch aufgesprungen, sie stand vor der Mutter: »Du sagst wirklich ›Nein‹?! Dem Jakob hast du doch auch gegeben. Und wenn der jetzt käme, der kriegte, der –« das Schluchzen kam ihr wieder, es stieß sie förmlich – »der kriegte si – sich –«

»Sicher ooch nischt mehr«, ergänzte die Badekow. Aber der Jammer kam nun auch ihr, durch die Ruhe ihrer Stimme zitterte ein Klang von Herzensqual: »Kinder, Kinder, wat soll ick denn machen?! Die Welt is doll jeworden, ihr seid et mit. Wie kann ich euch besser helfen, als det ick von jetzt ab immer sage: Nee!«

»Mutter!« Auguste ergriff ihre beiden Hände, preßte sie fast schmerzhaft in verzweifelter Angst: »Ich kann nich nach Hause kommen ohne was. Ich darf nich nach Hause kommen. Julius – ach Gott, Julius – er wird außer sich sein. Er – Mutter, Mutter!« Sie weinte laut heraus. »Wenigstens zehntausend Taler gib mir doch!«

»Keinen Pfennig!« Unerbittlich stand die kleine Frau da.

Auguste war wieder aufs Sofa gesunken, sie hielt sich die Hände vors Gesicht.

Jetzt sagte die Mutter: »Aber du kannst zu mir kommen, Juste. Allezeit!« Sie machte eine Bewegung als wollte sie die Arme ausbreiten.

Aber die Tochter sah diese Bewegung nicht, oder wollte sie nicht sehen. Beleidigt schrie sie auf: »Ich werde nie kommen, nie, nie, nie, daß du's weißt! Bei meinem Julius bleibe ich, zu meinem Julius gehöre ich. Und wenn ihr auch alle auf ihn schimpft, wenn ihr alle kein Verständnis für ihn habt, ich lasse nichts auf ihn kommen. Nichts, gar nichts. Ich – liebe ihn!« Sie riß ihren Hut, ihre Mantille an sich: »Ich gehe!«

Aus dem Zimmer war sie in wilder Flucht, ehe die Mutter noch zum Bewußtsein kam. Aber draußen auf dem Flur zögerte sie doch noch einen Augenblick – würde die Mutter sie nicht zurückrufen?

Aber die Badekow rief sie nicht zurück. Sie stand in der Stube, wo sie gestanden hatte, als die Tochter wie eine Wilde hinausgestürzt war, und faltete die Hände vor ihrer Brust. Sie mußte sich sammeln. Das war ein Ansturm gewesen – ach, sie hatte sich kaum halten können dagegen!

Einen tiefen Seufzer stieß sie aus, im Herzen schmerzte sie etwas sehr. Ach, und wenn die Auguste nun am Ende noch gar dächte, ihre Mutter hätte sie nicht lieb?!

*

»Mutter spricht gar nicht von Augusten; ob es der eigentlich nicht gut geht?!« sagte Marianne Badekow. Sie war bei Johann zum Besuch. Die verschiedenen Geschwister waren durchgeredet worden.

Rund und rosig saß die Millionenwitwe da, nett anzusehen mit ihren blanken Augen und dem freundlichen Mund. So ähnlich mußte Mutter Badekow auch einmal ausgesehen haben, als sie noch jung war. Die reiche Witwe hatte einen Sakko-Plüschmantel an und einen Hut mit Straußenfedern auf nach der neuen Mode. »Wenn Auguste etwa Geld brauchen sollte. Was is denn das groß! Ich kann's ihr ja geben. Ich will doch mal gleich 'rübergehen und mit Muttern reden!« Sie stand auf.

Aber die Schwägerin Grete, die neben ihr auf dem Sofa saß, zog sie wieder nieder, und Johann sagte: »Das lass mal lieber sein, Marianne. Du tust Muttern keinen Jefallen damit. Wieviel is dir der Jakob denn schon schuldig?!«

»Ach, reden wir nich drüber!« Die behäbige Frau errötete wie ein junges Mädchen. »Laß doch schon, Johann, laß! Jakob is so'n guter Kerl, und wer weiß – ein etwas träumerisches Blicken kam in ihre munteren Augen – »am Ende nehme ich mir noch eins von seinen vielen an Kindes Statt an!«

»Na ja, er hat ja jenug!« Johann lachte gezwungen, er blickte bedenklich. »So jerne ich es dir gönnen möchte – 'n Kind – aber!« Er schüttelte den Kopf. »Mit der Mutter, der Jule, ist doch zu wenig los!«

»Sie is so unjebildet«, sagte Frau Grete, »man merkt ihr an, woher sie is. Nee, wie konnte Jakob sich bloß die heiraten?!«

»Das is auch so'n Streich von ihm«, sagte Johann ärgerlich. Über den Jakob hatte man doch schon zu oft den Kopf schütteln müssen. Die Jule war zwar ein hübsches Mädchen gewesen damals und hatte dem Junggesellen auch ganz ordentlich den Haushalt geführt, aber was hatte er sie denn gleich zu heiraten gebraucht!

»Das war doch eigentlich nur anständig von ihm«, sagte Marianne.

»Na, ja doch!« Johann kratzte sich den Kopf. »Wir sind ja auch alle janz anständig zu ihr!«

»Aber wohl fühlt sie sich in der Familie doch nich«, sagte Grete. »Sie fühlt es, sie jehört da nich rein!« Die geborene Schellnack rümpfte die Nase. Sie sah die Schwägerin Marianne, vor der sie sonst einen großen Respekt hatte, ganz mitleidig an: »Nur anständig von ihm, sagste? Du hast wohl auch was von Jakob seinen neumodischen Ideen? Na, der is bös reingefallen. Weiter kann se nischt, als Kinder kriegen un Kinder kriegen – das kostet erstens viel Jeld und zweitens wird es langweilig auf die Dauer. Ich jlaube, dem Jakob is das auch schon lange langweilig!«

Johann sah seine Frau bewundernd an: das war eine Kluge! Die hatte was von ihrem Großvater; der alte Schellnack hörte auch noch das Gras wachsen, trotzdem er jetzt nicht mehr aufstehen konnte aus seinem Sessel. Johann nickte: »Jrete hat recht. Jakob fühlt sich zudem auch nich wohl in seinem Metjeh – der hätte nie mit Muttern auf'm Marcht gesessen. Was Jrete –« er blinzelte seine Frau an, mit einem ungeschickten Versuch, zu scherzen – »wenn wir hier verkaufen, dann machen wir in Berlin 'n jroßes Jeschäft auf?«

»Das sollte mir fehlen!« Sie verstand seinen Spaß nicht gleich; schon wollte sie empört auffahren, aber dann sagte sie: »Wir leben unser Jeld. Und unsre Jungens studieren.«


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