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XVI.

Wenn die Störche hätten wiederkommen wollen, hätten sie längst da sein müssen. Die Längnick stand im Hof und sah hinauf zum Scheunenfirst, auf dem das Rad des Storchenpaule mit dem mächtigen Reisignest sich im Sonnenschein des Frühsommers recht einladend zeigte; aber es war leer. Ganz leer. Wo nur das gewohnte Storchenpaar blieb? War es tot, beim langen Flug zu Schaden gekommen oder von einem fürwitzigen Sonntagsjäger heruntergeschossen worden?

So oft Rieke Längnick auch drunten stand und emporstarrte, ihre spähenden Blicke sahen keinen schwarzweißen Vogel mit rotem Schnabel sich langsam niedersenken; ihre Wünsche hatten nicht die Kraft, ihn herbeizulocken. Sie hatte immer noch gehofft. Ihre Hoffnungen waren zuschanden geworden. Die Millionenwitwe war nicht mehr zu haben. Der Doktor, der Hungerleider, der abgefeimte Berliner, den ihr Paul auch hatte ins Haus bringen wollen, der hatte sie wegstibitzt. So rasch wie möglich hatte er sie geheiratet, so flugs in aller Stille, daß man eigentlich erst darum gewahr wurde, als sie am Sonntag nach Pfingsten drüben bei der alten Badekow in der Doktorkutsche vorfuhren, und die Marianne an seiner Hand heraushopste in einem funkelnagelneuen weißen Roßhaar-Kapotthut mit rosa Hyazinthenkranz und mit einem Crêpe de Chine-Schal über dem Seidenkleid.

In einem Grimm, der etwas von Angst in sich hatte, streckte die Längnick die geballte Faust zum First empor – wo waren die Vögel, die Glücksvögel? Pah, Glücksvögel – Teufelsvögel! Mochten sie wegbleiben!

Sie kehrte der Scheune den Rücken und ging ins Haus. Aber es litt sie nicht in den Räumen der Villa. Wieder ging sie hinaus auf den Hof und stand abermals und starrte hinauf zum Scheunenfirst. Man war es doch so gewohnt, daß um diese Zeit das Storchenweibchen da oben brütete und das Männchen Atzung zutrug von Fröschen und Schlänglein. Sie kehrte sich ab: man würde sich eben anders gewöhnen. Dann sollten sie wegbleiben, in drei Teufels Namen – mochten sie verrecken anderswo.

Aber auch in der Nacht sah Rieke Längnick immer das leere Nest vor sich; sie wälzte sich rastlos in ihrem Bett. Hundert Jahre, vielleicht viel länger schon, hatten immer Störche da oben genistet; im vergangenen Herbst noch hatten sie und der Paul die Vögel zum Fluge sich üben sehen, und nun, nun –! Schweiß brach ihr aus. Sollte es auf einmal vorbei sein mit dem Glück bei den Längnicks?!

Es war eine unerquickliche Nacht; wie Träume, die quälen, kam es der Längnick. Als die Wachspuppe, das spillrige Ding, hier noch herumgegangen war, da – ach was, zum Kuckuck, was hatte das mit dem Glück zu tun?! Besser war es, die lag im Grabe – – – aber war es wirklich besser?!

Der Schwiegertochter zarte Gestalt erhob sich plötzlich vor der Schlaflosen. So zart die Wachspuppe war, sie war doch riesenstark. Seit sie tot war, wie war's seitdem mit dem Paul?!

Die Längnick kniff die Augen zu, sie zwang sich, gleichmäßig ruhig zu atmen; mit Gewalt mühte sie sich, den Schlaf auf sich herabzuziehen. Aber er wollte nicht kommen, er floh sie beharrlich.

Mit Augen, deren hartes Weiß von rötlichen Äderchen durchschossen war, stand sie am andern Morgen auf. Es drängte sie zum Fenster: es könnte doch sein, sie kämen noch verspätet. Hatte nicht etwas geklappert heute bei Tagesanbruch? Wenn sie es wären!

Aber sie zwang sich, vom Fenster zurückzubleiben: was ging es sie an, ob die Störche da waren oder nicht? Zu Zeiten des Storchen-Paule, da gab man noch was auf ihr Erscheinen, das Glück bringen sollte, aber jetzt hatte kein Mensch mehr solch einen Aberglauben!

Als der erste Knecht, schlaftrunken noch, über den Hof schlorrte, rief die Längnick ihn an: »He, die große Leiter angelegt, die Feuerleiter, da an die Scheune, das Nest runtergestoßen, das leere Nest!«

»Wat, dat Storchennest runterstoßen? Dat Storchennest?!« Der Knecht versuchte Ausflüchte: es war verdammt hoch, man konnte den Hals dabei brechen!

»Dann brecht'n!« sagte die Bäuerin kurz. »Wenn Ihr nich ruffsteigt, steige ick selber ruf! Runter muß et!«

Da legte er denn murrend die Leiter an. Aber die Leiter war zu kurz, und ein eiserner Haken an langer Stange reichte auch nicht bis zum Rand des Storchen-Paule. Der Knecht mußte selber aufs Dach hinauf. Wie ein Reiter rutschte er den First entlang, die Stange wie eine Waffe vor sich gestreckt; unsicher genug.

Unten feuerte Rieke an: »Man zu, man zu! Denn jibt's ooch 'n Schnaps. Ihr kriegt ooch zehn jute Jroschen. Los, man los!«

Er stieß mit der Stange, aber das Nest saß fester im morschen Rand, als man hätte denken sollen; es stürzte nicht. Wohl aber bekam der Dachreiter beim heftigen Stoß das Übergewicht, er ließ die Stange fahren, griff wild um sich, mit einem Aufschrei kollerte er abwärts über die schräggeneigten Ziegel. Der Fall war hoch, aber unten war gerade der Mist.

War er tot? Die Längnick konnte sich gar nicht rühren; sie traute sich nicht, nach dem Gestürzten zu sehen, erst das Schreien der Mägde, die aus dem Hause gelaufen kamen, brachte sie zu sich.

Alles, was an Dienstleuten auf dem Hofe war, kam herbei: »Den Doktor! Holt den Doktor!« Ach, der Gustav, war er tot? Der arme Mensch! Das war doch keine Arbeit für einen ehrlichen Knecht. Es war eine Gemeinheit von der alten Längnick!

Zornige Blicke trafen sie, laut wurde gemurrt: »Leuteschinder'n!« Einer hielt ihr die Faust unter die Nase: he, was gab sie nun dem armen Teufel dafür, daß er sich Arme und Beine gebrochen hatte?

Die Längnick senkte den Kopf, sie murmelte etwas von: »Kurkosten zahlen« – »Schmerzensgeld« – »Nich so schlimm« – und dann, ohne sich weiter um etwas zu kümmern, ging sie in die ihr zunächst liegende Tür des alten Hinterhauses und schlug sie hinter sich zu.

Lautes Schimpfen erhob sich draußen. Sie halfen jetzt dem Gustav auf, er kam aber schon wieder allein auf die Beine; er war nur ein wenig betäubt gewesen vom Sturz. Schon hinkte er herum und schimpfte gewaltig: »Hat man je so was erlebt, 'n Storchnest runterstoßen? Det bringt allemal Unjlück!« Es sollte ihr teuer zu stehen kommen, der alten Hexe. Eine Rechnung würde er ihr aufsetzen für Doktor und Kurkosten, daß sie sich wunderte. Und wenn sie nicht gutwillig zahlte, dann klagte er. Das war jetzt nicht mehr so wie früher, auch auf dem Lande nicht mehr; man war klug geworden wie die Berliner. Man hatte es gar nicht nötig, sich aufs Dach schicken zu lassen. Aber die Reichen, die dachten, für ihr Geld könnten sie sich alles herausnehmen. Oho!

Der Sturz vom Dach war eine willkommene Gelegenheit, sich im Wirtshaus ein wenig zu stärken. Sie zogen alle miteinander ab.

Rieke Längnick dachte nicht daran, die Abziehenden zurückzurufen. Sie saß auf der Alteisenkiste im verödeten Raum, in dem als einzig Lebendiges Mäuse huschten. Ein Entsetzen hatte sie gepackt: o weh, die Störche waren nicht wiedergekommen, und das leere Nest blieb ihr zum ewig-drohenden Zeichen aufgestellt! Es schüttelte sie wie Frost. Ihr Gesicht war grün-fahl, sie schmeckte wieder die Galle; wieder wie damals, als sie sich hatte so ärgern müssen über die Schwiegertochter. Ha, die war an allem schuld, die war auch an diesem schuld, die hatte das Unglück übers Haus gebracht!

Ein heftiges Anklagen erhob sich in der Mutter Brust gegen die Tote. Was hatte die aus dem Paul gemacht? Noch jetzt, da sie im Grabe lag, zerrte sie ihn so mächtig hinter sich her, daß er trinken mußte, trinken, um nicht um seinen Verstand zu kommen in seinem Schmerz. Der arme Junge! Und trotzdem fand er noch Zeit, alle Tage auf den Kirchhof zu rennen, wo jetzt an dem Kreuze die Marmorfrau stand, die er immer wieder mit seiner Frau verwechselte, und die ihm mit ihrem weißen Arm winkte. Sie mußte weg.

Dieser Gedanke erhob sich plötzlich in Rieke, riesengroß, und ließ sie alles andere vergessen. Ihre Zerknirschung fing an zu weichen, wieder regte sich etwas in ihr wie ein leiser Triumph. Das Bild im Klavierzimmer hatte sie schon vor einiger Zeit weggehängt, und er hatte es gar nicht bemerkt – nun mußten auch die Gänge auf den Kirchhof aufhören! –

Oft war die Längnick ihrem Paul nachgegangen in stillen Stunden, wenn der Mond wie eine blasse Sichel neben dem verdämmernden Holzturm der alten Kirche stand und vom Park der Engländer herüber sehnsüchtige Nachtigallen lockten. Sie war ihm immer gefolgt, und es war ihr jedesmal durchs Herz gefahren wie Messer – sie konnte ihre Augen ja nicht blind machen, so gern sie dies auch gewollt hätte, – wenn sie seinen Schmerz sah. Und sie fing jetzt auch an, diesen Schmerz zu begreifen. Aber er sollte nicht Schmerz empfinden, er durfte nicht Schmerz empfinden ihr Sohn, ihr Paul, ihr einziges Kind!

In Gedanken verloren ging die Längnick über den Hof ins Haus zurück, tiefe Falten hatten sich auf ihrer Stirn eingegraben. Lange hatte sie in der öden Kammer gesessen, eine Stunde, lang wie ein Jahr – der große Entschluß war in ihr reif geworden: sie konnte ihm helfen!

Wenn er doch jetzt da wäre! Aber er war schon zum Frühschoppen bei Kiekebusch. Wenn sie ihn jetzt dagehabt hätte, sie hätte ihm gern über die Wangen gestreichelt. Heute hatte sie ein Bedürfnis danach; ihr Herz war weicher als sonst. Es fühlte Zärtlichkeit, und doch hatte es nie wilder gehaßt als heute. Und als sei das Gewicht dieser beiden Empfindungen zu schwer zu tragen, so ging sie mit gesenktem Kopf; sie schritt nicht so aufrecht wie sonst. –

Die Dienstleute grinsten hinter ihr drein: das war der Alten doch höllisch in die Knochen gefahren! Was die sich wohl ärgerte, daß sie dem Gustav ordentlich was würde zahlen müssen für seinen Schreck!

Rieke Längnick überlegte: sollte sie nicht lieber jetzt gleich zum Totengräber Tudichum gehen, der den Kirchhof auf- und zuschloß, und das Nötige mit ihm besprechen? Ein hohes Trinkgeld mußte sie ihm zusagen, damit er sich nicht weigerte. Aber warum sollte er sich weigern? Was man auf den Kirchhof gebracht hat, kann man doch auch wieder wegholen. Er würde die Pforte aufschließen, morgen war Vollmond – die Leute wurden gleich noch heute bestellt – wenn Paul morgen nacht von Kiekebusch nach Hause kam, war alles erledigt!

Tief atmete die Längnick auf: ja, sie wollte gleich gehen. Aber ehe sie die blaue Leinenschürze abband, eine andere Haube aufsetzte und statt der Holzpantinen, in denen sie stets auf dem Hof herumklapperte, die knarrenden Lederschuhe anzog, dauerte es eine Weile. Sie konnte heute nicht rasch genug fertig werden; das Band ihrer Schürze verknotete sich, ihre Finger waren so zittrig.

War das schwül! Die Luft hatte schweren Druck, das Atmen wurde ihr sauer; wie eine Last legte es sich ihr auf die beklemmte Brust. Lahm trat sie hin und her, – da schellte es an der Villentür heftig. Sie hörte ihren Namen rufen und erschrak.

Ein Bote von Kiekebusch war gekommen: »Der Herr Längnick is besoffen! Der Herr Längnick macht so'n Krach! Der Herr Längnick schlägt allens kaputt – sie wollen schon nach 'm Schandarm schicken. Die olle Längnicken soll mal rüberkommen!«

Nun waren ihre Füße nicht lahm; sie war nicht langsam mehr.

Schon draußen auf der Straße hörte sie den Lärm. Alle paar Minuten flog etwas anderes durchs Fenster von Kiekebuschs Wirtsstube: eine Flasche, ein Krug, ein Stuhlbein, ein Bierseidel; die Scheiben zerklirrten. Und man hörte das Umwerfen von Tischen, das Krachen von Stühlen; ein Scharren und Trampeln, ein Schleifen von Körpern, ein Poltern, ein Stoßen, als wenn Männer ringen. Und ein dumpfes Brüllen.

»Zehn Männer können 'n nich halten, er brüllt wie'n Ochs!« Die Tür war von Neugierigen dicht belagert, die durch die weißgestrichenen Drahtgitterchen, die das Glas des Einganges undurchsichtig machten, zu spähen versuchten. »Schade, man kann jar nischt sehen – hör, nu schreit er wie'n jestochnet Schwein!«

Die Längnick stieß die Neugierigen beiseite. Jemand stürzte mit erschrockenem Gesicht jetzt grade aus der Tür, sie drängte sich schnell hinein.

Drinnen eine Wolke von Staub, ein Nebel von Zigarren- und Pfeifenrauch, ein undurchsichtiger Dunst; aber sie sah doch sofort.

In der Mitte unter der schaukelnden Hängelampe stand Paul. Eben hatte er einen zu Boden geschleudert – es war Bauer Hahnemann, der sich den Bauch haltend, unter einen Tisch kroch. Die Fäuste aufs neue schwingend, die blutunterlaufenen Augen stier geradeaus gerichtet, die schweißtriefenden Haare strähnig ins Gesicht hängend, stand der Längnick Sohn. Sein Gesicht war krampfhaft verzogen, und kein Glied seines Körpers konnte er ruhig halten, alles flog an ihm.

»Paule!« Die Mutter wollte auf ihn zueilen.

Aber der Wirt hielt sie zurück: »Nich, nich, Längnicken, er haut Euch eene rin! Er is rein wie doll!«

»Laßt, laßt ihn man bloß!« Die anwesenden Gäste hatten sich auf einen Haufen geschart in allgemeiner Panik. Das war ja gräßlich mit dem Paul Längnick! Ganz aus heiler Haut hatte den plötzlich die Wut gepackt – Kiekebusch hatte ihm nur nicht noch einen Schnaps geben wollen – losgegangen war er gegen jeden, zerhauen hatte er alles, was ihm unter die Finger kam. Eine Schande, sich so toll zu betrinken!

Paul Längnick brüllte jetzt auf. Schaum stand ihm vorm Mund, seine starren Augäpfel fingen an zu rollen. Jetzt packte er die Hängelampe – ein Ruck, sie war von der Decke herunter. Er holte zum Wurf aus. Da hingen sich ihrer fünf, sechs an seinen erhobenen Arm, von hinten packten ihn auch ein paar: man mußte den Kerl doch bändigen können!

Aber krach, die Lampe flog im Schwung, wieder klirrte eine Scheibe, und dann senkte Paul Längnick den Kopf wie ein Stier, der stoßen will. Er bäumte sich mit gewaltiger Kraft gegen die ihn Haltenden – er war wieder frei. Er fuhr auf den Schenktisch los, da lag ein Bandmesser, er packte es mit einem wilden Triumphgeheul. Das wurde gefährlich.

»Paule!« Mit harter Stimme schrie die Mutter ihn an, mit einer Stimme, die in ihrer Strenge nichts von der Qual, dem Entsetzen, der Angst verriet, die ihr das Herz zerrissen.

Er hörte sie nicht. Das Messer in der erhobenen Faust, blickte er wild umher, blindlings stach er darauf los in die Luft, immer laut brüllend.

Alle waren geflüchtet, hinter den Schenktisch drängten sie sich; er kehrte sich gegen sie.

Da packte die Mutter des Sohnes Handgelenk: »Paule! Hörste nich?« Sie schlug ihm ins Gesicht.

Er duckte sich.

Sie hielt ihm die bewaffnete Faust mit eiserner Willenskraft. Aber es war nicht die Stärke ihrer Hand, die ihn zwang. Sie sah ihm starr ins Gesicht, die Festigkeit ihres Blickes hemmte sein Augenrollen. Immerfort, immerfort sah sie ihn so an; keine Muskel in ihrem Gesicht zuckte.

»Paule! Paule!« Es klang mahnend, drohend, wie man einen Knaben anruft, der nicht hören will.

Da ließ seine Faust das Messer fallen. Der Längnick Fuß stieß es in eine Ecke. Verächtlich streifte der Blick der Frau die Zusammengedrängten hinter dem Schenktisch, spöttisch verzog sie den Mund. Und dann packte sie ihren Sohn unter den Arm: Jetzt kommste!«

Sie zog ihn zur Tür, und er ließ sich ziehen.

»Alle Achtung, Donnerwetter nochmal«, sagte Bauer Hahnemann, der nun unterm Tisch hervorgekrochen kam, und spuckte auf die Diele. »So'n Aas!« –

Rieke Längnick brachte ihren Sohn nach Hause, ohne fremde Hilfe. Unter den Linden, die blühen wollten, zog ihre starke Hand ihn weiter. Sie schob ihn, sie stieß ihn, sie zerrte ihn; er konnte allein nicht gehen, er taumelte. Ihre Stirn war heiß und rot, der staubige Gewitterwind, der sich plötzlich aufgemacht hatte, riß ihr unter der Haube die Haarsträhnen hervor, blähte ihr die blaue Schürze von schwerem Hausmacherleinen um den hageren Leib und peitschte ihr den Rock zwischen die Beine. Jeder Schritt ward ihr erschwert. Sie biß die Zähne aufeinander.

Die Neugierigen, die vor Kiekebuschs Wirtschaft sich angesammelt hatten, wagten nicht, dicht zu folgen; nur von ferne spähten sie nach. Der Blick der Frau hatte sie zurückgeschreckt.

Die knochige Gestalt aufgereckt, den Kopf hochgehoben, stieß Rieke Längnick den Willenlosen vor sich her in ihre Haustür hinein, und dann schloß sie mit Riegel und Kette.

Kein Mensch bekam heute noch etwas zu sehen. Die Tür öffnete sich heute nicht mehr; wie ausgestorben lag die Längnicksche Villa. Es zeigte sich auch am Abend kein Licht, finster blieben die Räume nach der Straße hinaus. Da erlosch die Neugier: der Paul schlief wohl noch immer seinen Rausch aus, es war ja auch ein Mordsrausch gewesen! Das würde eine schöne Rechnung sein, die die Alte bei Kiekebusch zu zahlen hatte; was der Mensch in der Geschwindigkeit alles zertrümmert hatte! Kiekebusch hatte ganz recht, wenn er ihr's ordentlich ankreidete. So ein Skandal, schon beim Frühschoppen! Sämtliche Stammgäste waren außer sich. Wenn so etwas noch einmal vorkommen sollte, dann konnte Kiekebusch sich nach anderen Stammgästen umsehen.

Der Wirt war in Verlegenheit: sollte er seine guten Kunden verlieren? Wer stand ihm dafür, daß so etwas mit dem jungen Längnick nicht noch einmal passierte? Aber wie sollte er dem seine Gaststube verbieten?!

Er hätte es nicht nötig gehabt, auf einen Ausweg zu sinnen. Rieke kam, zahlte, ohne mit der Wimper zu zucken, die beträchtliche Rechnung, und Paul Längnick ließ sich in seinem alten Stammlokal nicht mehr sehen.

Er hatte sich überhaupt ein paar Tage gar nicht gezeigt; als man ihn zum ersten Mal wiedersah, wanderte er dem Kirchhof zu. Aha, wieder zum Grabe seiner Frau! Er war trotz allem ein armer Kerl. Wie setzte er doch die Füße komisch, und keinen Menschen schien er zu bemerken! Man ging ihm nicht nach.

Nur einige Kinder stellten sich draußen am kleinen Mauerpförtchen auf, mit einer gewissen Spannung warteten sie auf sein Wiederherauskommen: wie der wohl aussah, der neulich bei Kiekebusch beinahe alle Gäste totgestochen hatte?! Sie mußten lange warten. Trotzdem sie auf dem nahen Pfuhl mit Steinen flitschten und die Enten und Gänse, die dort herumpaddelten, mit ihren Würfen ängstigten, wurden sie ungeduldig: er kam ja so lange nicht!

Es wurde schon dunkel. Rieke Längnick war heute ihrem Sohne nicht nachgegangen. Unbeobachtet blieb der Witwer am Grabe. Niemand rief ihn, als die Sonne sank.

Die Arme weit von sich ab gestreckt, lag Paul Längnick platt vornüber hingestürzt, bewegungslos, besinnungslos, völlig erschöpft nach dem neuen Anfall, der ihm eben wieder Körper und Geist durchrüttelt hatte. Das Kreuz hatte er umklammert, wie in tobsüchtiger Wut daran gerüttelt, versucht, es umzustürzen, aus dem Boden zu reißen; die Fäuste hatte er sich daran blutig geschlagen: wo war sie?! Seine Frau, seine Ethel!

Seine Frau, seine Ethel stand nicht mehr hier.

 

Die Längnick hatte Doktor Schmidt kommen lassen. Paul war krank. Was fehlte ihm eigentlich? Bewußtlos hatten sie ihn vom Kirchhof heimgebracht.

Aber der alte Tempelhofer Doktor zuckte die Achseln und machte ein betroffenes Gesicht. Wenn es ihm auch klar scheinen wollte, was für ein Fall hier vorlag, es war ihm doch lieber, wenn noch ein Berliner Kollege zugezogen wurde. Er enthielt sich jeder weiteren Äußerung. – – –

An der Lippe nagend, stand Rieke Längnick vornübergebeugt am Fenster; sie horchte auf das Rollen eines Wagens. Bald mußte der Bote zurückkommen, den sie zu Doktor Hirsekorn geschickt hatte. Nun hatte sie selber ihn holen lassen müssen, diesen Besserwisser, diesen Pflastertreter, diesen aufgeblasenen Berliner. Aber sie wußte sich keinen anderen Rat. Und Doktor Schmidt hatte gestern abend gleich nach einem Berliner Arzt verlangt und heute morgen wieder, und Hirsekorn sollte ja tüchtig sein. Es wäre ernst, sagte der alte Schmidt.

Ernst?! Ein ungläubiges Lächeln zuckte um den Mund der Bäuerin; sie zog die Schultern hoch. Ihr Paul lag doch nun ganz friedlich in seinem Bett, sah gegen die Stubendecke an, aß und trank und sah dann wieder den oben kreisenden Fliegen zu. Da war doch nichts Ernstes weiter dabei? O nein, o nein!

Sie unterdrückte den zittrigen Seufzer, der sich ihr entringen wollte, ihre gebeugte Gestalt richtete sich gerade auf: der Tempelhofer verstand ja gar nichts, der Berliner würde am Ende doch mehr verstehen. Wenn er nur erst käme!

Sie lauschte wieder. Eintönig rauschte draußen Landregen nieder, der Himmel war dunkel, kein Stern daran. Hätte sie doch lieber eher geschickt! Den ganzen Tag hatte sie dazu Zeit gehabt, aber sich nicht entschließen können. Nun war es schon spät, Hirsekorn war am Ende nicht zu Hause, war mit der Marianne zu einem Vergnügen gegangen – der konnte ja nun lachen, der hatte die Millionenwitwe geschnappt. Ach was, Millionenwitwe, das war jetzt ganz gleich – wenn er nur kam!

Der Längnick Herz klopfte beschleunigt, sie stützte beide Hände auf das Fenstersims und beugte sich weit hinaus. Der starke Regen schlug ihr hart ins Gesicht. Wenn er nun nicht mehr so weit über Land auf Praxis käme?! Es wäre ja auch eigentlich dumm von ihm, er hatte es jetzt ja gar nicht mehr nötig. Noch immer ließ kein Wagenrollen sich hören. Er kam nicht! Wütend schlug sie das Fenster zu.

Aber sie konnte sich doch nicht beruhigen: es wäre doch besser, wenn er käme! Paul schien der Berliner so gut gefallen zu haben, er hatte gesagt: »Sie kommen doch wieder?« Betroffen senkte die Frau den Kopf: dumm, dumm, daß sie es nicht gleich bedacht hatte, Hirsekorn wollte wohl nicht in ihr Haus kommen, sie war zu grob gewesen damals. Wäre sie lieber höflicher gewesen! Aber wer konnte auch denken, daß man ihn einmal brauchen würde?!

In einer rastlosen Unstetigkeit trat die Längnick hin und her. Bald war sie in des Sohnes Stube – er warf sich stöhnend, und sein Gesicht war verzerrt –, bald stand sie am Fenster, bald sogar an der Haustür. Und dann wieder saß sie in der Stube, hielt sich die »Vossische Zeitung« vor die Augen, las aber nicht, und stand dann wieder auf. Es wurde immer später. Und sie hatte dem Boten doch so eingeschärft, daß er's dringend machen sollte, sehr eilig. Vom Turm schlug's halb – Herr Gott, schon halb elf Uhr! Sie erschrak: nun kam er wirklich nicht mehr!

Wie erschöpft sank sie auf ihren Stuhl. Nun kam wieder die Nacht, die lange Nacht! – Da hörte sie einen Wagen rollen.

Er fuhr vor. Seine Laternen warfen huschenden Schein herein. Sie eilte ans Fenster: weiß Gott, der Hirsekorn kam doch noch! Jetzt sprang er aus der Kutsche, er warf den Schlag zu – huh, war das ein Regen! Es goß, es strömte. Sie eilte hinaus auf den Flur, sie schrie: »Rasch dat jroße Hoftor aufmachen! Den Wagen in den Schuppen unterfahren lassen! Den Kutscher in die Küche reinnehmen!« –

Hirsekorn war nach neun erst aus seiner Praxis gekommen; er saß mit seiner Frau noch beim Abendbrot, da war der eilige Bote aus Tempelhof erschienen. »Du wirst doch heute abend nich noch hingehen?« hatte Marianne gesagt.

»Selbstverständlich!« Er zog die Serviette, die er vorn in die Weste gesteckt hatte, heraus und stand auf.

Ach, und sie hatte sich so auf diese einzige ruhige Stunde gefreut!

Er sah in ihr Gesicht, das in der Stadtluft ein wenig schmaler geworden war; es zeigte deutlich die große Enttäuschung. »Arme Doktorsfrau!« Es klang ein wenig spöttisch. Aber dann sagte er ernsthaft: »Du weißt doch, was vor ein paar Tagen bei Kiekebusch passiert ist, du selber hast es mir ja erzählt. Es muß mit dem jungen Längnick schlecht stehen, sehr schlecht, daß die Alte mich rufen läßt!« Er rief zur Tür heraus: »Noch mal anspannen!«

»Der arme Kerl dauert mich!« Und dann legte er seinen Arm um seiner Frau rundliche Schultern: »Na, nun bist du wohl sehr schlecht auf mich zu sprechen?«

»I wo!« Sie sprang auf; ihre Grübchenhand gab ihm einen Klaps: »Ich möchte dich gar nich leiden, wenn du anders wärst. Geh man schnell, geh!« Sie hatte ihm selber in den Regenmantel geholfen und ihm noch ein seidenes Cachenez umgeknüpft. –

Das ermüdete Pferd hatte nicht rascher traben wollen. Der Regen goß einen Strom über die dunkle Chaussee, die Räder holperten zwischen den unterspülten Pferdebahngeleisen. Man hatte doppelt so lange Zeit gebraucht als sonst nach Tempelhof.

Der Doktor sah müde aus! Die Längnick fühlte etwas, was an achtungsvolle Dankbarkeit grenzte, als er eintrat: sieh mal einer an, er war doch gekommen, trotzdem! Sie reichte ihm die Hand: »Ich habe Ihnen rufen lassen. Icke!«

Er setzte sich ans Krankenbett, seine Kneifergläser funkelten, stumm betrachtete er den Daliegenden. Eine lange Weile. Dann sagte er leise: »Herr Längnick hat wohl wieder viel getrunken in letzter Zeit?«

»I wo! Mal ab und zu 'n Jlas. Warum soll er denn nich?« Ein Zorn kam über sie, die dankbare Aufwallung von vorhin verschwand: was, wollte der Berliner wieder kontrollieren? Da sollte er nur weiter fragen, von ihr erfuhr er nichts! Sie kniff die Lippen ein und stand finster, die Arme verschränkt, regungslos am Fußende des Bettes.

Paul warf sich unruhig. Da legte der Arzt, der sich über ihn gebeugt und sein Herz behorcht hatte, ihm die Hand auf die Stirn. Gleichmäßig strich er ihm über den Schädel, sacht und immer in gleicher Richtung. Auch eine lange Weile. Das schien den Kranken zu beruhigen, sein rastloses Werfen hörte auf.

»Geben Sie mal das Licht her!«

Eine flackernde Kerze stand auf dem Tisch. Mit großen Augen sah die Längnick zu, wie der Doktor jetzt Pauls Lider in die Höhe zog, wie er nahe hineinleuchtete in die starrenden Augäpfel. Was machte er, wozu tat er das? Die Frau fühlte eine Ungeduld und eine plötzliche Unruhe. »Wat fehlt ihm denn nu?«

Der Arzt gab keine Antwort. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf den Patienten gerichtet, einen Augenblick nur sah er die Frau an. Sie glaubte etwas Vorwurfsvolles in seinem Blick zu bemerken, das Funkeln seiner scharfen Gläser erregte sie. Warum sah er ihren Paul immerfort so an? Und warum fragte er sie denn gar nichts mehr? Ein seltsames Frösteln kroch ihr über den Rücken, die Hände wurden ihr kalt, der Kopf wurde heiß. Mit starren Blicken folgte sie jeder Bewegung des Arztes; sie belauerte ihn.

Er blieb noch immer stumm.

Da hielt sie's nicht mehr aus. Derb trat ihr Lederschuh auf den Boden: »Nu sagen Se doch! Det er sich neulich bei Kiekebuschen 'n bißken ufjeregt hat, det 's doch nich schlimm!«

»Ich weiß. Weiß schon.« Er nickte kurz, und dann, als sie weitersprechen wollte, machte er eine abwehrende Handbewegung: »Sst!«

»Haben Sie Kopfweh, Herr Längnick?« fragte er jetzt sanft.

Der Kranke hatte gestöhnt. Nun öffnete er für einen Moment die Augen, sah den Frager verständnislos an und schloß die Lider wieder.

»Kennen Sie mich nicht, Herr Längnick?« Hirsekorn sprach lauter, er faßte den Kranken jetzt an.

Keine Antwort.

Da schwatzte die Längnick dazwischen: »Ihnen nich kennen? Warum soll der Paule Ihnen denn nich kennen?« Sie lachte spöttisch auf. Aber dieses kurze Auflachen war das Lachen heimlicher Angst. »Nu is et doch wohl endlich genug mit die Untersuchung? Wat's denn eijentlich los?«

Der Doktor stand auf vom Bett, er winkte ihr ins Nebenzimmer. Obgleich sie ihn nicht hatte leiden können, obgleich sie ihn auch jetzt nicht leiden konnte, folgte Rieke Längnick ihm, widerwillig, aber sie folgte. Dicht trat sie vor ihn, ihre Blicke sprangen ihm förmlich ins Gesicht: »Na?«

Ihr Ton reizte ihn. Was er ihr vielleicht sonst nicht so unverblümt gesagt hätte, jetzt sagte er's grade heraus: »Frau Längnick, Ihr Sohn ist leider geistig erkrankt!«

»Wa–a–at?!« Sie lachte ungläubig. Aber dann, als verstünde sie jetzt erst, was der Arzt meinte, riß sie die Augen weit auf; man sah all das harte Weiß grell leuchten.

»Gei–geistig erkrankt? Sie meinen wohl damit verrückt?!« Laut schrie sie auf: »Det is nich wahr! Mein Paule verrückt?! Sie verstehen ooch nischt – wie unser Tempelhofer – jar nischt!«

Ihr Gesicht war verzerrt, ein solcher Ausdruck von Qual lag darauf, daß sie ihn plötzlich dauerte; er hätte es ihr doch rücksichtsvoller sagen sollen! Der Blick des Städters forschte in dem harten Gesicht der Bäuerin: sie hatte am Ende doch wohl mehr Empfindung, als sie für gewöhnlich zeigte?!

Aber jetzt sprühte nichts als Zorn aus den Augen der Frau. »Det is nich wahr – det kann ja jar nich wahr sein – det darf nich wahr sein!« Sie rang die Hände ineinander, und dann, dem Doktor noch näher tretend, ballte sie die Fäuste. »Ick jloobe Ihnen nich!«

Unwillkürlich war er einen Schritt zurückgetreten, so fauchte sie ihn an. Er zuckte die Achseln: »Fragen Sie andere Ärzte, sie werden Ihnen leider meine Diagnose bestätigen. Ich habe Herrn Längnick bereits einmal beobachtet, in Britz, im Hause meiner damaligen Braut!«

Die Längnick zuckte zusammen.

»Und wenn Sie sich erinnern, ich habe Ihnen bereits damals gesagt« – der Arzt hob den Finger –, »nicht so viel trinken!«

»Na, un warum denn nich?« Die Längnick hatte sich wieder gesammelt. Jetzt stemmte sie die Arme in die Seite. »Trinken Sie man nich, wenn Ihnen der Jram das Herz abfrißt. Kucken Se mir nur nich so an, ick weeß schon, wat ick due! Ick vertrete det ooch allezeit. Janz richtig war et – det einzige. Soll ick zusehen, wie mein Paule, mein armer Junge, dem spillrigen Ding, der Engländerin, die kein Hemde uf'm Leibe hatte, nischt als falschen Schmuck, der ihr Vater mir betrogen hat um Jott weiß wieviel, die ihm nischt als Unjlück gebracht hat, det er der nachjault wie'n verlassener Hund? Denn lieber verrückt! Denn hat er ihr wenigstens verjessen. Un er soll ihr verjessen, er muß ihr verjessen!«

Wie eine sinnlos Wütende hob die Frau beide Hände, ihre Finger krallten in die Luft. »Dot soll sie sein – dot – uf ewig dot!«

Das war nicht mehr ein Weib, ein Bauernweib, roh, ungebildet, mit Gefühlen, von denen es sich selber keine Rechenschaft gab! Vor Hirsekorns Augen wuchs die aufgeregte Gestalt mit den drohenden Armen ins Übergroße, weit über gewohntes Maß hinaus. Das war eine Furie, eine gewaltige Hasserin! Und doch – unwillkürlich schoß ein vergleichender Gedanke an seine Schwiegermutter durch Hirsekorns Kopf – auch eine Mutter!

Er senkte den Kopf. Er fühlte Mitleid. Die drohend erhobenen Arme zog er ihr herab: »Frau Längnick! Ich begreife Ihre Erregung. Wir wollen heute nicht rechten. Sie lieben Ihren Sohn. Seien Sie ruhig! Wir wollen ja alles Mögliche versuchen. Vielleicht läßt sich doch noch eine Besserung erzielen. Die hereditäre Belastung ist schwer – und starker Alkoholgenuß immer Gift, bei dieser psychischen Veranlagung doppeltes Gift – aber wir werden zuerst versuchen, ihm systematisch den Alkohol zu entziehen. Am besten, Sie tun ihn in eine Anstalt und dann –«

»Wat? In 'ne Anstalt?« Grob unterbrach sie ihn. »Sie sind wohl doll? Ick meinen Sohn in 'ne Anstalt jeben? In 'n Dollhaus meinen Sie wohl – in det Mäsong nach Schöneberg? Da kennen Sie mir schlecht. Mein Paule bleibt zu Hause, mein Paule bleibt bei mir. Ick wer' schon für meinen Paule sorgen. Och, Sie mit Ihre Fremdwörter, bleiben Sie mir man vom Leibe! Allens Unsinn, wat Sie jeredt haben!« Sie atmete tief auf.

»Ich wünschte, es wäre so!« Er empfahl sich kurz. »Doktor Schmidt wird wohl die weitere Behandlung übernehmen?« Er sagte es fragend; er wollte ja trotz allem gern wiederkommen, dem unglücklichen Menschen da drinnen zuliebe. Er wartete: würde sie nichts sagen?

Aber sie verharrte in eisigem Schweigen. Als schien sie jedes Wort, das ihr entschlüpft war, jetzt zu gereuen, so setzte sie die Zähne fest aufeinander.

Da griff er nach seinem Hut.

Sie reichte ihm nicht die Hand zum Abschied, sie nickte nur ein wenig mit dem Kopfe.

Ein Grunzen wurde plötzlich im Nebenzimmer laut, ein ganz tierisches Grunzen. Nun horchte der Arzt doch auf und zögerte noch.

Aber die Längnick sagte, ruhig abweisend: »Er schnarcht man bloß!« Dem Doktor den Rücken kehrend, ging sie ins Zimmer des Sohnes und machte die Tür hinter sich zu.

Hirsekorn eilte fort. Es war ihm, als brennte ihm der Boden unter den Füßen, und doch war's ihm eiskalt. Morgen würde er sich mit dem behandelnden Arzt in Verbindung setzen, Doktor Schmidt seine Beobachtung mitteilen – was sollte er denn auch noch hier?! Er empfand mit einem Schauder das Trostlose: zu helfen war hier nicht!

Fröstelnd stieg er in den Wagen und fuhr durch die finstere Regennacht dem Berlin zu, das seine Lichter wie Feuerzeichen über dem Dunst des dunklen, durchweichten Feldes aufsteigen ließ. Er fühlte eine Sehnsucht nach warmen und weichen Armen.

 

Einsam blieb die Mutter am Bett des Sohnes zurück. Nun der Doktor gegangen war, hätte sie ihn doch noch einmal zurückrufen mögen: stand es wirklich so schlimm mit dem Paul?!

Sie nahm das Licht, und wie vorhin der Arzt getan hatte, beleuchtete sie jetzt hell das Gesicht ihres Sohnes. Paul schien zu schlafen. Sie hielt das Licht bald von der linken Seite, bald von der rechten, sie ließ den Schein der flackernden Kerze von oben herunterfallen und von unten heraufleuchten – nirgendwo, nirgendwo fand sie mehr den jungen und hübschen Mann. Etwas Fremdes schien ihr in diesem Gesicht. Viel Fremdes.

Mit bebender Hand stellte sie die Kerze wieder hin. »Verrückt – verrückt?« Sie murmelte es fragend. Und dann gab sie sich selber laut die Antwort: »Unsinn – wer det jloobt. Ick jloobe et nie!« Sie verließ das Zimmer.

Im strömenden Regen schritt sie über den nächtlichen Hof, die Stallaterne unter der Schürze bergend. Das Hinterhaus, das früher immer offen gewesen war, war jetzt immer verschlossen. Sie zog den Schlüssel aus der Tasche.

In den rostigen Angeln kreischte die Tür, der Laternenschein leuchtete auf. Nun schloß die Längnick noch an einer Tür, an der Tür zu der Kammer, wo früher die Kornhaufen gelegen hatten. Außer den Mäusen wohnte jetzt noch jemand darinnen – die marmorne Frau.

Den Arm erhoben, stand die weiße Gestalt und winkte beständig. Mochte sie winken! Durch die dichtvergitterten, spinnenverwebten Fensterchen sah ihr Winken kein Mensch.

Rieke Längnick stellte die Laterne zu Boden und ließ sich schwer auf die Alteisenkiste nieder.

Einen großen Schatten warf die Marmorfigur an die helle Tünche der rissigen Wand und wuchs vom Boden bis empor zur Decke.

Die Längnick rückte die Laterne anders; sie rückte sie noch einmal: der Schatten, übergroß in seiner Unbeweglichkeit, blieb. Und der Arm der weißen Frau winkte nicht, sondern er drohte gebietend. Ein huschendes Lächeln ging übers Steingesicht – wurde das lebendig?

Lebendig?! Ein eisiger Schreck rieselte der Längnick durch den Körper, wie gelähmt blieb sie sitzen. Was rührte sich da? Wollte die, die da stand, sich jetzt auf einmal regen, anfangen zu seufzen, Paul zu rufen?!

Ein paar Mäuse fegten über den zerbröckelten Estrich – pah, nur Mäuse! Und draußen der Wind zwischen den Scheunen! Rieke tat einen tiefen Atemzug: weiter war's nichts.

Entschlossen stand sie auf, trat vor die weiße Gestalt hin, hielt ihr die Laterne dicht ans Gesicht: »Du, ha, du!« Stein – bloß Stein – nein, die wurde nicht mehr lebendig!

Ein triumphierendes Lachen huschte über der Längnick Gesicht, sie hob ihren Finger. Nun konnte sie, sie der da gebieten.

»Du! Siehste, nu kannste nischt mehr. Jar nischt mehr. Nu kannste ihn ooch nie, nie mehr quälen!«


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