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XII.

Es ging mit Mieke Badekow gar nicht gut. Wenn sich auch der Anfall von neulich nicht wiederholt hatte, so war sie doch immer nicht wohl. So schlaff, so müde; am liebsten lag sie oben in ihrer Stube auf dem Bett und schlief. Sie konnte gar nicht genug schlafen. Und essen mochte sie nichts, bis sie's plötzlich wie eine Gier überkam und sie alles in sich hineinstopfte, was sie nur fand. Das bekam ihr allemal schlecht. Und doch wurde sie dabei ordentlich dick. Sie hatte immer sehr helle Haut gehabt, nun leuchtete sie ordentlich vor weißem Fett. Ihre Züge gingen in die Breite, ihr Gesicht verschwamm wie ein bleicher Vollmond.

»Se wird doch nich Wasser haben?« sagte die Badekow.

»Na, so lassen Sie doch den Doktor holen!« Grete hatte es schon vor Wochen gesagt. Aber es war etwas in der Mutter – Hanne Badekow hätte es sicher selber nicht eingestanden, daß es eine Scheu war – was sie abhielt, einen Arzt zu Rate zu ziehen. Es würde auch schon so besser werden! Sie kochte verschiedene Tees und probierte an Mieke Sympathiemittelchen. Aber nichts half. –

Nun würde man doch den Doktor kommen lassen müssen. Diesen Morgen hatte sich der Anfall von damals wiederholt, nur viel schrecklicher. Stundenlang lag Mieke so in halber Bewußtlosigkeit, wie im Starrkrampf. Ein ganz merkwürdiger Zustand!

Sie standen alle um Miekes Bett. Diesmal hatte die Mutter doch Johanns alarmiert, es wurde ihr bange. Zufällig war auch Lene Lietzow gerade einmal vorgekommen: sie lief schnell wieder nach Hause, ihren Mann zu holen.

Nun stand Gottfried auch da, aber auch ratlos wie die anderen, und sah seinen Schwager Johann an. Und Johann sah Gottfried an, und Lene sah ihn auch an. Und dann sah Johann Grete an und Grete Johann, und etwas so Eigentümliches war in der Frau Blicken, daß des Mannes Augen ganz verwundert fragten: was meinst du denn?

Die geborene Schellnack zuckte die Achseln. »Mutter, ich würde Ihnen nu doch entschieden raten, nach dem Doktor zu schicken. Ich habe es Ihnen ja schon lange jesagt: wer weiß, was das is!«

»Sie hat recht, der Doktor muß kommen«, stimmte Gottfried bei. »Warum haste ihn denn nich schon längst holen lassen?« Er wendete sich zur Schwiegermutter.

Die alte Frau murmelte etwas. Sie saß an Miekes Bett und betrachtete mit einer kummervollen Aufmerksamkeit das aufgeschwellte, in die Breite gegangene Gesicht. Sie war ganz versunken. Jetzt, da der Schwiegersohn ihr mahnend die Hand auf die Schulter legte, zuckte sie zusammen. Mit beiden Händen sich an die Schläfen fassend, rief sie mit einer gereizten Erregtheit: »Ich mag keenen Doktor! Sie wissen alle nischt!«

»Ick bin ja ooch nich fürs Doktern. Aber nu kriegt man es doch nachgerade mit die Unruhe«, sagte Gottfried. »Ick wer' man jehn und sehn, ob Schmidt zu Hause is!«

»Nee, nee!« Die alte Frau haschte nach seinem Rockzipfel und ließ ihn nicht los. »Nich unsern alten Doktor, nich den Tempelhofer – man ja nich!«

»Warum denn nich?«

»Nich den, ach nee!« Wie in Angst hob die Frau die Hände. »Ick weeß ooch nicht, ob – nee, nee, bloß unsern Tempelhofer nich!«

»Nanu?!« Gottfried sah verwundert die anderen an und schüttelte den Kopf. Die alte Frau war wirklich auf einmal ganz wie verstört. »Unser Tempelhofer kann jenau so viel und so wenig wie die anderen Doktors ooch. Aber er wird Mieken schon wieder zurechte kriegen. Na, na« – er klopfte der Schwiegermutter auf den gebeugten Rücken – »so verzweifelt steht et doch mit ihr nich!«

Johann's Frau zog wieder die Achseln hoch. Ihr Blick hatte scharf die Kranke gemustert. Mit einem vielsagenden: »Na, ich weiß doch nicht –« trat sie vom Bette zurück. Sie war rot geworden bis unter die flachsblonden Haare.

»Meinste, es is so schlimm?« fragte Johann erschrocken.

Sie gab keine Antwort darauf. Aber sie wollte ihrer Schwägerin Lene etwas ins Ohr tuscheln; doch diese verstand sie nicht: »Was? Was meinste?!«

Da fuhr die alte Badekow auf: »Laßt det Jetuschele!« Sie schöpfte so tief Luft, als würde es ihr schwer, zu atmen. Aber dann gab sie sich einen Ruck: »In Jottes Namen denn, hol einer 'n Doktor. Aber einen aus Berlin. Aus Berlin!«

»Je ja, aber –!« Johann sah Gottfried an. Gottfried Johann. Man konnte doch nicht irgend einen ganz wildfremden Menschen holen. Was der Mutter nur einfiel?! »Ich kenne doch keinen Doktor in Berlin!« sagte Johann.

Grete zupfte ihren Mann; sie zog ihn der Türe zu: »Hol doch den von's Hallesche Tor. Janz vorne beim Belle-Alliance-Platz – an der Omnibushaltestelle. Der das jroße Schild am Hause hat – ach, du weißt ja!« Sie drängte ihn zur Tür hinaus. »Laß anspannen – na, mach man schon, daß du fortkommst!«

Mit einem ganz verdutzten Gesicht schob er ab.

Es war sehr beklommen im Zimmer. Keiner sagte ein Wort. Was sollte man auch sagen? Man hatte den Hufschlag des Pferdes gehört, nun war Johann abgerasselt. Es konnte eine Stunde dauern, bis sie hier waren, wenn alles klappte. Hoffentlich brachte er den Doktor mit!

Lietzows empfahlen sich: was konnten sie denn auch weiter hier helfen? Und zu Hause war zu tun. »Ich komme später auf 'n Abend nochmal wieder vor«, sagte Lene.

Die Mutter nickte. Sie schien es gar nicht acht zu haben, daß Gottfrieds gingen. Auch Grete ging nach einer Weile fort.

Hanne Badekow blieb am Bett ihrer jüngsten Tochter sitzen. Sie sank immer mehr in sich zusammen, nun sie ganz allein war. Wie eine Uralte saß sie da, wie eine ganz Greise, vom Leben gebrochen. Die Hände hielt sie im Schoß gefaltet, immer fester krampften sich ihre Finger ineinander. So hatte sie dagesessen im tiefsten Leid, so damals, als sie ihrem Jüngsten, ihrem Liebling, nachweinte. Heute weinte sie nicht, aber ein Jammer sprach aus ihrem Gesicht, das auf einmal unzählige Falten und Fältchen zeigte, die es sonst nicht gehabt hatte. Wie das Licht scheuend, wie alles scheuend, schloß sie die Augen. Immer tiefer senkte sie den Kopf, immer mehr duckte sich ihre Gestalt, als möchte sie ganz versinken.

So saß die Badekow eine Stunde und länger.

Es wurde dämmerig. Die Tage längten jetzt schon, aber nun wurde der Märzabend doch dunkel. Daß es doch nie mehr Tag würde!

Da klapperten Pferdehufe. Stimmen wurden laut; zwei Männerstimmen. Das war Johann, und das – die Versunkene schreckte zusammen –, das war der Doktor!

Mit einem zitternden Seufzer richtete Hanne Badekow sich auf; ihre verschlungenen Hände lösten sich, sie strich sich den Scheitel glatt. Und dann ging sie, gerade aufgerichtet, der Tür zu. Jetzt mußte sie die Lampe holen und dem Doktor entgegengehen. –

 

Doktor Hirsekorn sah abgehetzt und müde aus; er hatte die Armenpraxis im Halleschen Torbezirk. In seinem innersten Herzen hatte er demjenigen geflucht, der, als er sich eben hatte ein wenig ruhig hinsetzen wollen, heute abend an seiner Glocke riß. Aber was half's, die Praxis mußte wahrgenommen werden. Sie war ohnehin nicht so einträglich, daß man nicht sofort mit so einem Tempelhofer Großbauern gefahren wäre. –

Mit einem scheuen Blinzeln durchsuchte die Badekow des Arztes Gesicht; sie waren beide allein im Krankenzimmer. Ach Gott, der war ja noch jung, ein ziemlich junger Mann – wie konnte ihr Johann bloß so einen jungen Menschen bringen?! Aber, Gott sei Dank, er war ihr ganz fremd, sie hatte ihn noch nie gesehen – und würde ihn dann auch nicht mehr sehen!

Der Doktor sah sie an mit einem scharfen Blick: »Sie sind die Mutter?«

»Jawoll, det bin ick«, sagte die alte Frau. Det is meine Dochter!« Sie stellte sich wie schützend vor das Bett. »Die Mieke – mein unjlückliches Kind! Sie hat als Kind den Veitstanz jehabt, Herr Doktor, sie hat ooch jetzt ihren Verstand oft nich richtig beisammen, se muß ihn wohl jänzlich –« die Stimme, die anfänglich so fest gewesen war, kam nun doch ins Schwanken; sie sprach nicht weiter.

Der Arzt schob sie zur Seite: »Na, bitte, Frau Badekow, nu gehn Sie mal da weg. Wir werden schon sehen!« Er sah sich die Kranke eingehend an; das Deckbett schob er zurück – schonungslos – er entblößte den weißen, geschwellten Körper.

Was fehlte der Mieke – was? Ach! »Hat se Wasser?« fragte die Mutter leise. Eine zitternde Angst war in ihrer Stimme.

Der Arzt hob den Kopf, er hatte ein helles Auge in einem gescheiten Gesicht; geradeaus sah er die Fragende an und sagte kurz: »Wasser – nein!« Es klang, als ob er sie anschnauzte.

Je, war der grob! Hanne Badekow zog sich fast beleidigt zurück; sie würde sich hüten, den noch einmal etwas zu fragen! Aber nun, da der Arzt stumm blieb, stumm in seiner Untersuchung fortfuhr, die eigentlich nur darin bestand, daß er das Mädchen aufmerksam betrachtete, seine Hand einmal hierhin legte, dorthin, sich dann niederbeugte und etwas behorchte, fragte sie doch wieder: »Wat fehlt ihr denn? Is se krank? Sehr krank? Ach, et is doch wohl Wasser, wat?«

»Fragen Sie nicht so viel. Ich werde fragen!« Und dann stellte der Arzt einige Fragen, ganz ruhig, ganz sachlich, Fragen, so wie selbstverständlich, daß sie selbst der Bäuerin zu unverblümt waren. Sie wurde blaß und rot.

Aber was machte der für einen Unterschied, ob hier eine arme Dienstmagd lag, oder die Mieke Badekow? Und war das am Ende nicht ganz gut so? Ihr konnte das doch nur recht sein! Daß er ihr vorhin so jung erschienen war, vergaß die Badekow jetzt ganz. Das war ja gar kein Mann, das war nur ein Doktor! Sie wurde ruhiger, sie schüttelte die peinvolle Verlegenheit ab. Dafür konnte sie freilich nicht, daß ihr die Stimme zuweilen bei der Antwort bebte, daß sie ihr in der Kehle stecken bleiben wollte; sie beantwortete alles, wenigstens so gut sie es wußte. Viel wußte sie freilich nicht.

Ach, hätte sie doch besser auf die Mieke acht gegeben! Sie hätte viel, viel besser aufpassen müssen! Ein Jammern erhob sich in der Mutter, eine Selbstanklage, die so groß war, daß sie glaubte, die nicht tragen zu können. Alle mühsam erkämpfte Festigkeit hielt nicht stand. Mit einem herausgeweinten: »Et is Wasser, nich wahr? Ach, sagen Se doch, Wasser? Sie sagen't doch ooch: Wasser!« ließ sie sich schwer auf den Stuhl am Bett niederfallen.

Da nahm der fremde Arzt ihre kalte Hand, er behielt sie fest in der seinen. Ein flüchtiges Lächeln huschte dabei über sein Gesicht: das war ja fast komisch, wie die alte Bauersfrau sich an »Wasser« klammerte!« Aber dann wurde er wieder ernst – es war doch ein tapferes Weib, diese Alte!

Achtungsvoll sagte er: »Sie wissen's ja schon alleine, liebe Frau Badekow. Warum soll ich Ihnen was vorreden? Es ist keine Krankheit. Das sind Symptome, die ein an sich schon nicht normaler geistiger Zustand unter solchen Umständen öfters mit sich bringt. Ihre Tochter hat kein Wasser. Aber sie wird ein Kind bekommen. Und zwar ziemlich bald!«

*

Das Badekowsche Haus war ein Trauerhaus. Das heißt, von außen merkte man ihm nichts an; die Läden waren nicht vorgelegt, keiner darin trug Schwarz, aber es war eine unheimliche Stille, eine trübselige Stummheit im alten Stammhaus, wie bei einem Todesfall. Und doch sollte ein neues Leben zutage kommen.

Auf der rechten Seite des Hauses saß Johann Badekow vor seinem Zylinderbureau, hatte beide Arme auf die ausgezogene Platte gestemmt und sein Gesicht in den Händen verborgen.

Seine Frau stand bei ihm, sie versuchte zu trösten, aber sie fand doch nicht das rechte Wort. »Wer weiß, ob es wahr is. Irren is menschlich. Schon die berühmtesten Doktors haben sich jeirrt. Jottfried, auf den du doch so viel jibst, der sagte doch auch: sie wissen alle nischt!«

» Der weiß schon!« Johann hob den Kopf aus den Händen und sah seine Frau mit einem ganz verzweifelten Blick an.

»Jott, Johann, hab dich doch man nich so schrecklich!« Sie wurde ganz ärgerlich. »Daß es mit Mieken mal kein jutes Ende nehmen würde, habe ich mir immer jedacht. So 'ne dämliche Person, die wird mannstoll, wenn se in die richtigen Jahre kommt!«

»Die Schande, die Schande!« Johann stöhnte. »Ich kann mich nicht mehr sehen lassen, mit Fingern werden se auf uns zeigen. Ich ziehe fort von hier, ich kann mich ja nich mehr aus'm Hause trauen. So'ne Schande! Totschlagen könnt ich das Frauenzimmer! Wenn ich nur wüßte, wer es jewesen is!«

»Jestern abend jleich, sowie sie wieder bei sich war und der Doktor fort – die halbe Nacht noch habe ich auf se einjeredet. Du kannst dir doch denken wie. Un Lene auch. Mutter sagt ja nischt. Aber wir haben se jefragt un jefragt, was wir konnten, bis Jottfried sagte, wir müßten nu aufhören. Und sie schien es nich mal zu wissen, daß sie in anderen Umständen is – wenigstens macht se sich jar nischt draus. Als Lene so arg weinte, sagte sie: ›Was weinste denn?‹ Was soll man von so jemand denken?!« Die geborene Schellnack schlug die Hände zusammen.

Johann senkte den Kopf noch tiefer, nun lag seine Stirn auf der Schreibtischplatte. Er sagte kein Wort, er atmete nur hastig.

Seine Frau sah, wie sich seine breiten Schultern immer heftiger hoben und senkten. »Um Jottes willen, Johann, du wirst doch nich weinen – um das Frauenzimmer weinen?!« Grete war außer sich; sie hatte ihren Mann noch nie weinen sehen, und sie hatten doch auch so Trauriges erlebt, das erste Kind beim Zahnen verloren. Also so zu Herzen nahm er sich das?!

Sie legte ihren Arm um seine Schultern, ihr rotwangiges Gesicht bekam einen ganz nachdenklichen Ausdruck: was konnte man machen, um dem Johann darüber wegzuhelfen? Wenn es kein Mensch erführe, dann war es doch nicht so furchtbar schlimm! »Weißte was, Johann«, sagte sie überredend, »wir wollen mal mit dem Doktor sprechen. Heute mittag will er ja wieder kommen. Dann nehmen wir'n uns mal vor. Für Jeld kann man alles haben. Mutter muß eben was springen lassen. Der Hirsekorn muß uns ne ordentliche, verschwiegene Frau suchen – ach, die Doktors haben immer so'ne Leute an der Hand –, wo man Mieken hinbringen kann. Wir sagen dann, se is verreist. Un denn, wenn alles vorüber is, is se wieder da, als wäre nischt passiert!«

Das klang tröstlich.

Johann hob den Kopf, es war wie eine Erleichterung in seinem tiefen Atemholen! aber gleich wurde sein Gesicht wieder schwer-sorgenvoll. Er vermied den Blick seiner Frau, als müßte er sich vor sich selber schämen. »Un das Kind?« fragte er leise, »was machen wir mit dem Kind?«

»Jott ja, das Unjlückswurm! Ja, mit dem –?« Nun schlug Grete doch auch eine beklemmende Hitze zu Kopf. Das war eine dumme Geschichte! Sie schwieg für einen Augenblick, auch ratlos.

»Man kann das Wurm doch nicht einfach wegschmeißen«, sagte Johann Badekow finster. »Das würde ich auch nie zugeben!« Mit einem Fluch streckte er beide geballte Fäuste in die Luft und ließ sie dann schwer auf den Tisch niedersausen: »Es bleibt nischt anderes übrig, man muß dem Lümmel noch was zujeben, ihm jut zureden, daß er Mieke Badekow schleunigst zum Altar führt!« Er sprang auf, seine verweinten Augen waren blutunterlaufen: er sah aus, als könnte er jetzt wohl einen, der ihm nicht den Willen tat, mit seinen Fäusten zu Boden hauen.

Erschrocken hing Grete sich an ihn: »Ach was, Johann, das wirste nich tun. Das wäre ja der jrößte Unsinn. Da blamierste dich ja erst recht und die janze Familie mit. Un wer weiß, wer es is – 'n Knecht, 'n Tagelöhner! – Das darfste nich, nee, das leide ich nich!«

Aber er, der sonst immer auf ihr Wort hörte, hörte heute nicht auf sie. Den Kopf schüttelnd, machte er sich von ihr los. Seine Augen starrten mit einem ganz verbohrten Ausdruck geradeaus: »Janz ejal, wer es is!«

Sie rang die Hände. »Jott nee, der Mann, der Mann! Er ist verrückt. Johann, ich sage dir doch, se sagte es ja nich, wer es is!«

»Und wenn ich es aus ihr rausprügeln soll – sie so lange prügeln, bis ich nich mehr kann, sagen muß se, wer es jewesen is!« Er knirschte es zwischen zusammengebissenen Zähnen, er schüttelte die Faust, als hielte er die Schwester schon gepackt und rüttelte sie, daß sie hin und her flog wie ein armseliges Nichts. Er stürzte zur Tür.

»Johann, wohin willste? Johann, Johann!«

Er gab keine Antwort mehr. In einer großen Betroffenheit blieb Grete zurück. –

Drüben auf der linken Seite des Hauses traf Johann nur die beiden Schwestern, Lene Lietzow und Marianne. Die alte Badekow hatte nach ihrer Britzer Tochter geschickt: Mieke wäre krank, sie möchte doch mal kommen. Nun war Marianne sofort erschienen, aber die Mutter war nicht da.

»Se is nach'n Kirchhof zu Vatern jejangen«, sagte Lene und fing wieder bitterlich an zu weinen. Eben hatte sie Marianne unter vielem Schluchzen die schreckliche Geschichte erzählt.

Stumm wollte die junge Witwe ihrem Bruder die Hand reichen, aber er beachtete sie gar nicht. »Wo is Mieke?« fragte er bloß.

Ganz ängstlich sah Lene drein: Gott im Himmel, war der Johann böse, so hatte sie ihn ja noch nie gesehen! »Mieke is doch oben«, sagte sie schüchtern. »Aber se liegt nich mehr zu Bette. Se is so weit janz wohl; se sitzt an ihrem Fenster.«

Er hörte ihr gar nicht mehr bis zu Ende zu, schon tappte sein schwerer Schritt auf der knarrenden Stiege.

»Wenn doch bloß Jottfried schon da wäre!« flüsterte Lene beklommen. »Er wollte doch auch herkommen. Wo er nur bleibt?« Sehnsüchtig spähend drückte sie das Gesicht an die Fensterscheibe.

Marianne saß auf der Mutter Platz, und wie diese zu tun pflegte, faltete auch sie die Hände im Schoß. Sie war in schwarzer Seide, auch heute am Werktag; es ging etwas wie Sonntag von ihr aus. Man sah es ihr kaum an, wie betroffen sie war, ihr Gesicht war glatt und friedlich trotz einiger Tränenspuren unter den Augen. Sie hatte den Blick zur Stubendecke gehoben, gespannt horchte sie nach oben: was wollte Johann denn oben, er würde mit Mieke doch nicht etwa Krach machen?!

Jetzt zog sie die Brauen zusammen: weiß Gott, es war so! Wie unrecht von ihm! Er trampelte, er schrie. Man verstand ganz deutlich, was er brüllte: »Vettel verdammte, mach nich, daß ich dich totschlage! Du sagst, wer es is – auf der Stelle!«

»Wenn se's doch schon sagen wollte«, wimmerte Lene. Sie kauerte sich bei der Schwester nieder und hielt sich die Ohren zu: »Ich kann es nich anhören, wenn Johann so schreit!«

»Ich auch nich«, sagte Marianne. Sie stand auf. »Ich werde lieber mal raufgehen!«

Lene nickte erleichtert: »Ja, jeh du man! Ich wer' auf Jottfried warten!«

Mariannes Schritt, der anfänglich doch etwas zögernd gewesen war, wurde fester und eiliger, je höher sie die Treppe hinauf kam. Sie schüttelte den Kopf: so mit Mieke zu schreien! Das hatte doch gar keinen Zweck.

Immer lauter dröhnte die Männerstimme. Die Grübchen in den runden Wangen der Frau vertieften sich, trotz allen Ernstes des heutigen Tages, für ein paar Augenblicke. So schlimm, wie es sich anhörte, war es doch wohl nicht; Männer sind immer gleich so rabiat, und schwerfällige Männer am meisten, die können nicht so leicht ins ruhige Fahrwasser wieder zurückfinden! Marianne kannte ihren Bruder; sie hatte keine Angst. Entschlossen eintretend, drückte sie leise die Tür hinter sich zu.

Er hatte ihren Eintritt gar nicht gehört. Sie stand schon neben ihm, als er sie erst bemerkte. Er hatte so viel mit den Fäusten herumzufuchteln gehabt, mit den Füßen zu stampfen, mit den Augen zu rollen, daß er für nichts anderes Aufmerksamkeit hatte.

Das Mädchen, das ganz gemächlich im Stuhl am Fenster saß, sich all das, was er ihr zuschrie, anhörte, als ginge es sie gar nichts an, das immer denselben, gleichsam verwunderten Ausdruck behielt auf dem nichtssagenden Gesicht und in den glanzlosen Augen, war ihm unverständlich. Wie konnte diese Frauensperson so wenig Scham haben? Ein ganz verworfenes Geschöpf! Und doch war da etwas, das ihn zurückhielt, die Fäuste auf Mieke niederfallen zu lassen. Er konnte sie nicht schlagen. Und das brachte ihn noch mehr auf, gegen sie, gegen sich selber. Die Stimme brach ihm vor Erregtheit, der Ton schnappte ihm förmlich ab.

Da legte Marianne ihm die Hand auf die Schulter: »Schrei nich so, Johann! Wenn du so schreist, kriegste gar nichts aus ihr raus. Du kennst doch Mieken!«

»Sie soll mir sagen – ich muß es wissen – willste mir wohl jleich sagen, du altes Kalb, mit wem du dich einjelassen hast?!« Er stampfte wieder auf. »Du –!« Er unterdrückte nun doch das Schimpfwort, Mariannes Augen sahen ihn so vorwurfsvoll an. »Es is zum Verzweifeln«, sagte er, wie sich selber entschuldigend. »Da steht man nu und redt an wie jegen 'ne Wand! Nischt rauszukriegen!«

»'n Tag«, sagte Mieke zur Schwester und nickte ihr zu.

Marianne war dicht zu ihr herangetreten; nun strich sie ihr die strähnigen Haare, die noch nicht ordentlich frisiert waren, aus der Stirn. »Soll ich dir 'nen Zopf flechten, Mieke?«

»Ja, ja!« Mieke war sofort bereit. »Mach man, det ich 'n bißken hübsch aussehe. Nachher kommt der Doktor – 'n hübscher Mann!« Ihre glanzlosen Augen belebten sich, in einem geschmeichelten Lachen zog sie dann den Mund breit: »Der is nich so eklig zu mir wie Johann. Sie sind alle eklig. Was er mich immer so anschreit«, wandte sie sich klagend zur Schwester. »Was will er denn bloß?« Wie ein eigensinniges Kind verzog sie das Gesicht, ihre vorspringende Stirn krauste sich. In einer plötzlichen Erregtheit hob sie die Hände gegen den Bruder: »Jeh doch runter, du! Du hast mir jar nischt zu sagen!«

»Nu wird se zu allem noch frech?! Da soll doch jleich 'n Donnerwetter –« Johann wollte wieder losfahren.

Aber Marianne, die hinter Miekes Stuhl getreten war, die verstrubbelten Zöpfe löste und, sie glättend, jetzt immer wieder und wieder mit dem Kamm hindurchfuhr, zwinkerte ihm zu: »Sei doch man stille!« Ein bekümmertes Blicken kam in ihre Augen: das war in der Tat schlimm mit Mieke! So dösig wie jetzt war ihr die noch nie vorgekommen.

»Er soll aus meiner Stube jehn, sonst renne ich weg!« Mieke wurde heftig.

»Sitz stille, sonst kann ich dich ja nich ordentlich frisieren. Ich will dir mal 'ne schöne Krone aufstecken!«

Da saß Mieke ganz still.

Marianne war wohl verrückt? Die mannstolle Jöhre noch in ihrer Eitelkeit bestärken?! »Mach se man noch janz verdreht«, brummte Johann unwirsch.

»Ick wer' schon nich!« Die blonde Frau lächelte ihn an. »Man muß Geduld haben. Siehste, nu biste nett«, sagte sie dann, sich über die Schwester beugend. »Aber nu sage mal bloß, Mieke, wie konntest du uns das antun?! Du mußt nu nich so tücksch und unvernünftig sein; Johann schreit doch bloß, weil er so traurig ist. Willste es uns nich lieber sagen, wer dein Liebster ist – es wäre doch viel besser!«

Die Unglückliche sah die Schwester, in deren Augen jetzt anfingen Tränen zu schimmern, groß an. Immer größer und größer. Der gleichsam verwunderte Ausdruck, den ihre Augen bis dahin festgehalten hatten, wurde zu einem unsicheren. Plötzlich aufschluchzend, legte sie ihren Kopf an Mariannes Brust. Wie erschrocken kniff sie die Lider zu: »Ich weiß es nich!«

Da schlich Johann zur Türe.

Draußen blieb er stehen, verzweifelt glitt sein Blick über den weiten Bodenraum. Hier hatte er als Knabe zur Herbstzeit der Mutter immer fleißig geholfen, Dill und Estragon, Bohnenkraut und Petersilie zum Trocknen ausgebreitet und dann für den Marktverkauf in Bündelchen gebunden. Noch schwebte der Geruch der Küchenkräuter in der Luft. Und da an den Eisenhaspen hing noch das abgerissene Ende des Seils herab, auf dem Jakob das nachzumachen versucht hatte, was er von den Künstlern im grünen Wagen, die früher alle Jahre ein paar Tage auf dem Tempelhofer Feld ihr Lager aufschlugen, gesehen hatte. Der Jakob war dabei eklig zu Fall gekommen, aber es war doch sehr spaßhaft gewesen. Ach – der älteste Badekow seufzte tief auf – hätte er's je gedacht, daß er hier einmal so unglücklich stehen würde?! So bis ins innerste Herz gedemütigt?! –

Sie wußte es nicht einmal – sie wußte es nicht einmal!

Aufstöhnend lehnte sich Johann schwer gegen die Wand. Es war ihm, als müßte er umfallen.

Drinnen weinte Mieke. Horch! Jetzt sagte sie wieder etwas! Ungeduldig klang es: »Ich weiß es doch nich!« Und dann, als Marianne zu ihr gesprochen hatte – was diese sagte, verstand Johann nicht, sie sprach so leise – ganz kläglich wie von einem Kind, das Strafe fürchtet: »Ich will es nich wieder tun, nee, jewiß nich!« –

Johann hatte noch einmal hineingehen wollen, nun ging er doch nicht. Was sollte er da drinnen noch? Da war nichts zu machen. Gar nichts. Sie wußte es nicht einmal – sie wußte es nicht einmal!

Den Kopf hochrot, die Augen zu Boden geschlagen, stolperte Johann die Treppe hinunter, er torkelte wie ein Betrunkener. Grete hatte recht, das war das einzige: man mußte sie fortschaffen. Aber wohin?! – –

Doktor Hirsekorn war wieder oben bei Mieke, und die Mutter war auch oben. Die Geschwister saßen unten in der Wohnstube um den runden Sofatisch. Gottfried war jetzt da. Man hatte hin- und hergeredet, überlegt, beraten, gestritten, sich verständigt und doch wieder gestritten; die Gemüter waren zu sehr erregt. Nun sagte keiner ein Wort mehr.

Johann guckte finster vor sich nieder. Gretes Blick ruhte besorgt auf ihm: das hatte ihn aber mal mächtig gepackt! Hatte er da an den Schläfen seit gestern nicht viel mehr graue Haare bekommen?! Der Ärger kochte über in ihr: und all das um diese Mieke! Sie konnte nicht länger an sich halten, einen vorwurfsvollen Seufzer stieß sie laut aus: »Wie kann in 'ner anständigen Familie so was passieren?!«

Aber da muckte Gottfried auf: seine Mutter war doch auch eine Badekow gewesen. Die geborene Schellnack groß ansehend, sagte er spöttisch: »Na, du scheinst aber ooch nich Bescheid in deiner Familie zu wissen. Les man in der Chronik von Tempelhof nach, da steht et jeschrieben: es war 'ne Schellnack, die Tochter von einem Brose Schellnack, die sich, anno domini – na, ick weß nich so jenau mehr wann, aber Jroßvater weiß Bescheid – die sich mit so 'nem Templer am Klarensee Rangdevus jab und dann eines Knäbleins jenesen is. Ja, 'ne Schellnack!« Schmunzelnd schlug er sich aufs Knie, er freute sich: der hatte er mal ordentlich eins aufs Maul gegeben!

Grete konnte darauf nichts sagen; es blieb ganz still. Noch eine ganze Weile. Endlich hörte man oben mit den Stühlen rücken, die Tür quietschen, nun kamen Tritte die Treppe herunter. Sie kamen hierher.

Die Tür zur Wohnstube aufstoßend, sagte Hanne Badekow: »Treten Se man jefälligst noch 'n Oogenblick hier ein, Herr Doktor. Da sind meine anderen Kinder; sie möchten Ihnen doch ooch mal sprechen!«

Der Doktor verbeugte sich mit einem kurzen Rundumsehen; er nahm Platz auf dem Stuhl, über den die Alte rasch noch mit der Schürze gewischt hatte. Nun saß auch er am runden Tisch wie die anderen. Aber da sie nichts sagten, sagte auch er nichts.

Eine mächtige Verlegenheit war über Johann gekommen; er fühlte wohl, es war an ihm, zuerst hier das Wort zu ergreifen, aber er würgte daran. Es war eine zu verwünschte Angelegenheit. Er winkte dem Schwager heimlich zu: der hatte doch sonst immer die große Schnauze!

Aber Gottfried sah angelegentlich nieder auf den Tisch: mochte Johann nur anfangen, er selber war doch erst in zweiter Linie beteiligt!

Die Mutter hatte sich nicht an den Tisch gesetzt. Sie war von ihnen fortgegangen, auf ihren Platz am Fenster. Die Kinder saßen um den Tisch wie verwaist.

Es blieb peinlich still. Die Gesichter erschienen alle blaß in der trüben Nachmittagsbeleuchtung. Draußen fing der Westwind an vernehmlich zu schnauben, ein paar schwere Regentropfen klopften ans Fenster.

»Det jibt en Pladder«, sagte plötzlich Gottfried. Einer mußte doch endlich etwas sagen. Aber ihm fiel nichts anderes ein.

Doktor Hirsekorn hatte flüchtig nach dem Fenster gesehen, nun rückte er auf seinem Stuhl.

Ach Gott, der hatte gewiß nicht länger Zeit! Wie konnten die Männer aber auch so stumm sein! Marianne Badekow fühlte ihr Herz klopfen. Sollte sie denn da nicht lieber etwas sagen?

Der Doktor rutschte wieder, da räusperte sie sich – sie mußte ihre Stimme erst klar machen – und dann sagte sie rasch: »Ach, Herr Doktor, wir möchten Sie doch sehr bitten, daß Sie verschwiegen sind. Wir –« sie stockte.

Der Doktor hatte sie angesehen – lag es nicht wie eine große Verwunderung in seinem Blick?! Es klang fast beleidigt, als er jetzt sagte: »Ärzte sind immer verschwiegen!«

Na ja, freilich, da hatte er ganz recht. Er hatte auch recht, unangenehm berührt zu sein, es war auch zu dumm von ihr, so etwas zu sagen! Das verstand sich bei ihm ja ganz von selber, daß er verschwiegen war.

Eine Röte war dem Mann ins Gesicht gestiegen, da wurde die Frau auch rot: ach Gott, für wie dumm mußte der Doktor sie alle halten und für ganz ohne Lebensart! Die Millionenwitwe schämte sich; und diese Scham, die ihre Wangen färbte, machte sie jugendlicher. Mit einer Schüchternheit, die seltsam stand zu ihrer fraulichen Fülle und dem starren Seidenkleid, streckte sie dem Doktor die Hand hin; er dünkte sie ganz nett, und die Mutter hatte doch auch gesagt, er wäre so nett gewesen – und überdies brauchte man ihn doch auch jetzt! »Nehmen Sie's nicht übel, Herr Doktor, daß wir heute so – so – na, so wie auf den Kopf gefallen sind. Das sind wir sonst gar nicht!«

»Nee!« sagte Gottfried.

Der Arzt lächelte ein wenig, da bekam Marianne Mut. Sie sah den fremden Mann voll an: ein richtiges Berliner Gesicht, kluge Augen, ein gutmütiges Lachen und die fahle Stadtfarbe. Er kam ihr auf einmal vertraut vor.

Obgleich er die Hand, die sie ihm entgegengestreckt hatte, nicht zu beachten schien, hielt sie sie noch immer hin. »Wir danken Ihnen auch, Herr Doktor. Wir sind wirklich übel dran, wir wissen gar nicht – ach Gott, ich glaube, die Mieke begreift es noch gar nicht, was mit ihr los ist! – Sie helfen uns, nicht wahr, Herr Doktor?« Es klang bittend.

Er verbeugte sich, und nun nahm er ihre Hand; sie fühlte einen herzhaften Händedruck. »Es ist ja meine Pflicht!«

»Denn –« fiel es jetzt auf einmal Johann ein, sich zu äußern – »denn wir möchten um alles in der Welt nich, daß es hier in Tempelhof ruchbar würde. Das wäre schrecklich!«

»Entsetzlich!« stieß Grete heraus.

Lene fing an zu weinen.

Gottfried sagte: »Nee, wissen Se, Herr Doktor, det wär'n zu jroßer Skandal! Die janze Nacht habe ick drüber wachjelegen un nachjedacht: wie macht man't am schlausten?!«

»Es wird sich wohl kaum vermeiden lassen, daß Tempelhof sein Skandälchen bekommt!« Hirsekorn zuckte mit einem leichten Lächeln die Achseln. »Neugeborene Kinder pflegen zu schreien. – Und wir wollen hoffen, daß auch dieses Kind tüchtig schreit!« setzte er ernst hinzu.

Sie sahen ihn alle verdutzt an: wie meinte er das?!

»Nee, das jeht nich!« Grete entrüstete sich. Solch einen Skandal zu erleben?! Sie wurde dunkelrot, mit beiden Händen fuhr sie an die Ohren: »Das mit anhören? Nee, da mache ich nich mit!«

»So'n Frauenzimmer! Man hat immer jedacht, sie is doch wenigstens ein janz jutes Mädel – aber nu?! 'ne Rumtreiberin, 'ne Vettel!« Johanns Empörung steigerte sich wieder aufs neue. Er vergaß ganz, daß am Fenster die Mutter saß, die bei jedem Schimpfwort, mit dem er Mieke belegte, zusammenzuckte; er vergaß auch, daß ein Fremder mit am runden Tisch saß. Ängstlich sahen Frau und Schwester nach ihm hin; das Blut war ihm so zu Kopf geschossen, daß ihn der Schlag rühren konnte.

Er schlug sich vor die Stirn, schwer hämmerte seine Hand auf dem Tisch: »'ner anständigen Familie das anzutun! Unserer Familie! Hunderte von Jahren haben wir ehrlich dagestanden – und nu auf einmal das?!« Er war ganz gebrochen.

»Beruhigen Sie sich, Herr Badekow!« Der Arzt hielt ihm die hämmernde Hand fest. »Sie werden krank, wenn Sie sich so aufregen!«

»Ach, Mann, siehste, ich sagte es ja schon!« fuhr Grete dazwischen.

»Nu wirste noch krank – un alles um so eine, die –«

»Sie müssen Ihren Mann nicht noch mehr aufregen«, schnitt der Doktor ihr streng das Wort ab. »Wenn er jetzt krank wird, tragen Sie ebenso viel Schuld daran, wie das Mädchen da oben; mehr Schuld, denn –«

Donnerwetter, der gab's ihr aber mal tüchtig! Gottfried wechselte mit seiner Lene einen raschen Blick: das konnte der Grete gar nicht schaden!

»Denn –« fuhr der Arzt sehr ernst fort – »das Mädchen ist nicht zur Rechenschaft zu ziehen. Herr Badekow, Sie müssen doch längst bemerkt haben, Sie sind doch kein Kind mehr, daß Ihre Schwester nicht normal ist? Wie kann ich mich als verständiger Mensch entrüsten über ein unglückliches Geschöpf, das – wer weiß, wie es kam – das aber jedenfalls mißbraucht worden ist!«

»Ein unglückliches Geschöpf« – »mißbraucht!« Die Worte waren wie Keulenschläge.

Johann sah vor sich nieder; das hatte er ja noch nie gewußt, daß seine Schwester ein unglückliches Geschöpf war! Doch, gewußt wohl, aber nicht bedacht. »Aber wenn ich nur wüßte, wer der Halunke is«, murmelte er.

»Lassen Sie gut sein!« Hirsekorn hob abwehrend die Hand. »Ich würde an Ihrer Stelle nicht nachforschen. Sie hören nichts Angenehmes und können nichts ändern. Sie müssen sich ins Unvermeidliche fügen, Herr Badekow!«

»Das tue ich ja.« Johann senkte tief die Stirn. Er war ganz still. Aber dann fuhr er noch einmal auf: »Aber fort muß sie – fort, auf alle Fälle! Den Skandal will ich nich hier im Haus!«

»Ja, dafür bin ich nu ooch«, stimmte Lietzow dem Schwager bei. »Dafür is Tempelhof denn doch zu klein, man hört 'n Kind schreien vom einen Dorfende bis zum andern. Hier jeht so was nich!«

»Nee, ach man bloß nich«, seufzte Lene.

»Sagen Se, Herr Doktor, es jibt doch Anstalten jenug – ich meine nich jrade öffentliche – aber Anstalten, so'ne private«, – Gottfried druckste an jedem Wort – »so'ne Häuser, na, so'ne Frauen, wo man sie janz jut unterbringen könnte. Wissen Sie nischt?«

»Daraus wird aber nischt«, sagte jetzt ganz energisch eine Stimme vom Fenster her. Die Mutter war aufgestanden, sie kam an den Tisch heran. »Det jebe ick nich zu, Herr Doktor. Nie zu, det sach ich euch. Mieke is so jut mein Kind wie meine anderen Kinder. Ick wer' doch keins von meinen Kindern aus'm Hause stoßen?! Nee, Mieke kommt nich weg!«

»Det is ja janz schön jesagt«, Gottfried nickte, »aber weißte, leichter jesagt als jetan!«

»Die Mieke kommt nich weg!« Jetzt setzte die Badekow ihren Kopf auf.

»Verrückt!« murmelte Grete. Laut zu sagen traute sie sich jetzt nichts mehr. Sie versuchte nur mit Lene einen Blick zu wechseln, doch diese sah starr vor sich nieder in ihren Schoß.

»Na«, sagte Gottfried mit gerunzelter Stirn, »wenn du denn durchaus nich willst, denn man zu, Schwiejermutter. Aber wenn du denkst, du tust Mieken was Jutes damit, denn biste schief jewickelt. Der wäre es tausendmal besser, se machte det irjendwo janz in'n Stillen ab, als det janz Tempelhof mit Fingern auf ihr zeigt. Sehen lassen kann se sich denn nich mehr hier, det sage ich dir!«

»Ich soll mein Kind aus'm Hause tun? Zu Jott weiß wem? Das Kind, das mich am allernötigsten braucht?!« Die alte Frau jammerte auf. Sie war vorher so ruhig gewesen, stramm hatte sie dagestanden, jetzt knickte sie förmlich zusammen.

»Trösten Sie sich, Frau Badekow! Kommen Sie, setzen Sie sich mal hierher!« Der Doktor war aufgesprungen. Er legte den Arm um sie. »Wie ein Sohn«, dachte Marianne. Er drückte die alte Frau sanft nieder auf seinen Platz und blieb neben ihr stehen. »Hätten Sie Ihre Tochter aus dem Hause tun wollen, so hätte sich vielleicht was leidlich Anständiges finden lassen – aber freilich, so gut wie bei Muttern würde sie's da nicht haben. Sie haben ganz recht, Frau Badekow, daß Sie Ihr Kind lieber bei sich behalten wollen!«

Sie schrieen alle laut auf, Lene, Gottfried, Johann, Grete: wenn der Doktor nun auch noch der Mutter zustimmte! Nein, aber es ging doch nicht, es ging durchaus nicht! Man war sich doch auch was schuldig? Die Mutter war eine alte Frau, der konnte die Zukunft egal sein, aber sie, die anderen, hatten noch mit der Zukunft zu rechnen – besonders für ihre Kinder! Wie Haß blitzte es aus vier Augenpaaren den Doktor an, diesen fremden Menschen, einen Menschen, den man bezahlt. Wie konnte er sich unterstehen, so aufzutreten?!

»Das jeht Sie jar nischt an!« schrie Johann grob den Arzt an.

»Dann holen Sie sich 'nen andern«, sagte der ebenso grob. »So lange ich aber hier noch bin, sage ich auch meine Meinung!«

Johann machte den Mund auf, schloß ihn aber wieder.

»Nanu?« brummte Gottfried, doch auch er sagte weiter nichts.

Sie waren sehr unzufrieden mit dem Doktor – aber ein Kerl war der doch!

Marianne hatte still dagesessen, sich alles ruhig mit angehört, versonnen war ihr Blick. Nun sagte sie plötzlich mit einer gewissen Hast: »Damit kein Unfriede entsteht! Ich bin ja so allein für mich, mein Hof liegt ganz ab vom Dorf – mir hat kein Mensch was zu sagen!« Sie sagte es mit einem Blick auf die Geschwister, und in einem gewissen Stolz reckte sie dabei ihre volle Gestalt, daß das Seidenkleid in den Nähten leise krachte. »Und was meine Dienstboten sind, die sind schon so lange bei mir, die werden den Mund halten. Ich wer' Mieken hinnehmen!« Sie wandte sich zur Mutter: »Wenn es dir recht is?«

Die Badekow blickte zweifelnd.

Da sah der Doktor die junge Witwe einen Augenblick mit seinen scharfen Augen nachdenklich an, und dann sagte er: »Da wird sie auch gut aufgehoben sein, Frau Badekow!«

Marianne war wohl verrückt? Das ging doch nicht! Johann erhob Einspruch, auch Gottfried fing jetzt an: nein, so was ging nicht, noch eine passable Witwe und dann Kleinkindergeschrei?!

»Was fällt dir ein? Was sollen denn wohl die Leute von dir denken?!« Lene entsetzte sich.

Grete murmelte wieder: »Verrückt!« Diesmal schon lauter.

Aber Marianne sagte mit einem Lachen, das wie eine Befreiung im Zimmer wirkte: »Das 's mir ganz egal, was die Leute denken!«

Früher war es ihr nie gleichgültig gewesen. Aber heute. Sie sah fröhlich aus. »Ich wer' sie schon runterkriegen vom Hofe, wenn sie schnüffeln wollen!« Sie lachte noch einmal auf, wie belustigt von einer Vorstellung. »Mein Fassan ist auf den Mann dressiert; wenn ich bloß zu dem sage: ›Paß auf‹, läßt er keinen rauf auf den Hof. Da fliegen Fetzen!« Ihre Heiterkeit steigerte sich, sie sah den ernsthaften Doktor lachen, das machte ihr Spaß; er sah noch viel sympathischer aus, wenn er freundlich war, ordentlich verschmitzt. Ja, der Städter, der mochte nun wohl denken: ›Donnerwetter, 'ne schneidige Landfrau!‹ »Mieke kommt zu mir«, sagte sie sehr bestimmt. »Ich nehm' sie heute noch mit, Mutter!«

»Na denn – na ja – wenn de denn willst! Wenn Sie ooch meinen, Herr Doktor?«

Die alte Frau sah von der Tochter zum Arzt, und von ihm wieder zu ihr. Der Doktor nickte.

Da stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus: Ach ja, wenn die Mieke bei der Marianne draußen sein konnte! Sie hörte jetzt nicht mehr, was die anderen auf sie einredeten. Mochten die sagen, was sie wollten! Sie schrieen gewaltig: wenn es denn auch vielleicht anginge, daß Mieke bei Marianne unterkam und kein Mensch von der Geschichte etwas merkte, aber was sollte denn mit dem Kinde werden?! Das konnte doch nicht bei Marianne bleiben? In einen schönen Ruf käme sie. Was sollte man denn sagen? Und überhaupt – das Kind – das Kind, wohin mit dem Kind?!

Da sagte Hanne Badekow: »Wenn man bloß det Kleine seinen richtigen Verstand kriegt. Dann wird sich schon allens finden!« Und sie faltete die Hände dabei.


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