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In der Abenddämmerung flogen die Fledermäuse, sie fanden viel Unterschlupf in den alten Scheunen des Dorfes. Nun waren sie aufgewacht aus langem Winterschlaf und probierten das Flattern. Noch war es nicht völlig Frühling, aber es war doch schon lind. Ein weiches Wehen säuselte um die Linden, ihre nackten Äste streckten sich silbrig gegen den Mond. Wolken, die ab und zu zogen, verdunkelten ihn zuweilen, aber wenn er hell schien, konnte man die kleine Gestalt deutlich sehen, die vor Karl Lietzows Haus hockte. Da saß sie auf den verfallenden Steinstufen, hatte rechts einen Teckel an sich gedrückt, links einen; sie sahen alle drei in den Mond.
Hulda traute sich nicht hinein ins Haus – » sie« war böse. Nicht, daß sie geschlagen hätte, sie hatte nur so geguckt! Die Kleine hielt sich mit beiden Händchen die Augen zu: o, davor hatte sie Angst! Sie schauerte zusammen. Ach, und die Hulda verriet doch nichts! Wenn Vater mal fragte: »Wo is sie hin?« – oder wenn die Magd fragte, oder der Hausknecht, oder sonst irgend jemand: »Wo is sie denn nu wieder hin?« – dann brauchte die Frau nicht bange zu sein, die Hulda war flink bei der Hand, die sagte schnell: »Zu ihrem Vater nach Berlin is se rein, der machts nicht mehr lange!« Oder sie erfand irgend sonst eine Ausrede. O, dumm war die Hulda noch lange nicht!
Die Kleine reckte ihr blasses, altkluges Gesichtchen gegen den Mond. Der da oben, der war ihr Freund, den mochte sie gern. Der sagte auch nichts. Der ging immer stumm, und sah doch so viel!
Lautlos rutschte Hulda vom Bänkchen herab. Sie wollte auch gehen, wieder was sehen, es machte ihr Spaß, in die Fenster zu gucken. Wenn man sich auf die Zehen stellte, so konnte man überall hineinsehen. Leise pfiff das Kind den Teckeln. Sie trippelten miteinander vorsichtig vom Hause weg.
Erst hinüber zu Gottfried Lietzow: da kriegten die Kinder gerade Abendbrot. Hei, waren das feine Stullen, so dick belegt! Aber der Fritz war wieder unartig. Der war immer unartig! Der Lauscherin kleines Gesichtchen wurde ganz alt, strafend schaute sie drein: nun riß der böse Bube wieder seine Schwester an den Haaren, wie er sie selber auch einmal gerissen hatte. Der müßte ordentlich Haue kriegen; aber sein Vater, der gegen den Ofen lehnte, lachte sich eins und drohte nur mit dem Finger. Das war dumm von dem – er war zu gut. Gut! Wie das wohl sein mochte, wenn ein Vater so gut war?!
Das Kind drückte sich näher an die Scheibe, sein Näschen hob sich witternd. Die Teckel witterten auch. Durch das Fensterglas zog ein Duft heraus. Alle drei blickten sie gierig hinein in die Stube.
Die Mutter trug Milchreis auf; die Hunde leckten sich schmatzend die Mäuler: da dampfte auch eine frische Wurst!
Wie entrückt starrte Hulda immer, noch immer hinein: jetzt schnitt der Vater die Wurst entzwei, er gab jedem Kind zu kosten von seiner Gabel. Wie dumm von der Johanna, daß die nicht mochte! Die war überhaupt dumm; die saß ja auch immer zu unterst in der Schule! Das alte Gesichtchen verzog sich geringschätzig, aber dann lächelte es stolz: sie, die Hulda, saß immer Erste! Aber das Lächeln war ohne Freude. Was nützte es, wenn man Erste saß und keiner zu Hause freute sich darüber?! Nein, sie mochte nun nicht mehr Erste sitzen; lieber Letzte sitzen wie die Johanna und Bratwurst kriegen auf Vaters Gabel!
Der Johanna Zopf war aufgegangen, die Mutter flocht ihn ihr wieder zu und band wieder die blaue Schleife daran, und jetzt – jetzt strich sie gar der Johanna übers Haar!
Mit einem Satz sprang Hulda vom Fenster weg; die Teckel ihr nach.
Hatten die drinnen die Lauscher draußen bemerkt? Kam jemand vorüber?! Nein. Und doch huschte das Kind weg.
Nun schlich es weiter. Es schlüpfte durch die Pförtchen der Lattenzäune, die auch nachts immer offen blieben. Es guckte in alle Fenster, aber es hielt sich nirgendwo so lange auf.
Bei Schellnacks saß der alte Großvater im Sorgenstuhl, man hörte sein Husten bis hinaus auf die Straße. Er hatte das Wasser. Na ja, die würden auch froh sein, wenn der Alte abschrammte! Sie hatten viel Last von ihm.
Bei Hahnemanns war nur die Frau zu Haus; sie saß und strickte. Gott, was die Hahnemann wohl immer warten mußte, bis er nach Hause kam! Bei Kiekebusch war, wie immer, viel los. Horch, sie kegelten schon in der Kegelbahn! Polternd, lachend. Das war ein Radau! »Alle Neune!« Aha, das war Bauer Hahnemann, der hatte heute Dusel – da konnte die Hahnemann noch viel länger als sonst auf ihren Mann lauern!
Hin und her über die Dorfstraße huschte das Kind. Nächtliche Stille; es hörte jeden leisesten Laut. Noch brannte kein Gas in Tempelhof, Petroleumlaternen flinzelten mühsam, der Mond hatte sich auch verkrochen. Aber des Kindes Auge, an Dunkelheit gewöhnt, sah alles. Sah, wie ein paar Buben bei Doktor Schmidt an der Schelle rissen und dann eiligst davonrannten; sah, wie Schatten unter den Linden auftauchten, sich umschlangen und dem Versteck der Scheunen zuschlichen. Ein pfiffiges Lächeln umspielte Huldas Mund: hihi, die Pärchen! Sie schlich ihnen nach, klein und grau wie ein neugieriger Gnom: was die wohl da machten?! Erst wenn ein besonders scharfes Ohr ein unheimliches Huschen zu vernehmen glaubte, wenn ein Bursche mit einem »Donnerwetter!« sich umdrehte oder ein Mädchen erschrocken wisperte: »Is da nich jemand?« wich sie zurück.
Die Pärchen blieben verschwunden im Versteck der Scheunen; wie Hulda auch lauerte, sie kamen nicht wieder hervor. Da erst ging sie weiter. Vor der neuen Villa hielt sie an. In die Fenster konnte sie nicht hineinsehen, die waren zu hoch überm Erdboden, und ein verschlossenes Gitter trennte zudem das Haus von der Straße; aber doch blieb sie stehen.
Ah, die Engländerin spielte drinnen! Die konnte mal schön! Eine Flut von Akkorden drang heraus, von perlenden Läufen – und dann eine Weise, sanft und süß.
Die Augen des Kindes wurden größer, sie öffneten sich erstaunt weit, ein entzücktes Lächeln machte das alte Gesicht auf einmal froh-kindlich und hübsch. Den Kopf nach den Schwingungen der Musik sacht hin und her wiegend, lauschte Hulda. Ah, das war schön, so schön! Sie konnte sich gar nicht losreißen. Und wenn jetzt auch Leute gekommen wären, sie wäre nicht scheu davongehuscht wie sonst. Wie ein Tierchen, das eine Zauberweise aus seinem Schlupfwinkel hervorgelockt hat und das sich keiner Gefahr mehr bewußt ist, so verharrte sie. Der Mond war hinter den Wolken hervorgekrochen, er beschien sie hell; deutlich war ihre kleine Gestalt auf der Straße zu sehen.
Der Wind hatte sein Wispern um die Fliederbüsche der Vorgärtchen, um die Lindenbäume der Straße eingestellt. Ah, auch Mond und Wind hörten jetzt zu! Das Kind nickte. Und dann gab es den Teckeln, die anfingen unruhig zu werden, einen strafenden Tritt: »Hört doch auch zu!«
Die Teckel winselten leise, aber dann schmiegten sie sich still zu den Füßen der Herrin. Hulda hielt den Atem an: das wurde immer schöner und schöner! Ihre Augen wurden immer größer und größer. »Oh!« Ein zitternder Laut des Bedauerns entschlüpfte ihr – die schöne Musik drinnen hörte jetzt plötzlich auf. Wie sie auch wartete, sehnsüchtig lauschte, kein Ton war mehr hörbar. Die großen Fenster blieben wohl hell, aber die Engländerin spielte nicht mehr.
Da wich Hulda, traurig-enttäuscht und jäh ernüchtert, vom Haus bis unter die Bäume der Straßenmitte zurück; nun war es aus! Und wenn sie jemand sähe! Ihre Augen bekamen plötzlich wieder den scheuen Blick, das Gesicht den alten, schlau-spähenden Ausdruck. Sie suchte sich zu verbergen vor dem hellen Mondlicht, sie schmiegte ihre Gestalt in den Schatten der Lindenstämme – da – da – nun konnte sie doch etwas sehen! Sie reckte sich auf die Zehen. Heimlich kicherte sie in sich hinein: die hatten wohl ein Gitter vor ihr Haus gemacht und die Fenster so hoch überm Boden, aber hindern konnten sie's doch nicht, daß man ihnen hineinsah. Von hier aus ganz bequem.
Da war ein feines Zimmer: rote Tapete, ein goldener Bilderrahmen, und gerade unter den Kerzen des Kronleuchters, an einem großen Klavier, ganz hell beschienen, die Engländerin! Hulda hatte sie wohl einmal über die Straße gehen sehen, aber heute war sie doch viel schöner.
Als wäre sie eine lichtumflossene, übernatürliche Gestalt, staunte das überraschte Kind die junge Frau an. Das Haar hing ihr offen – es glänzte wie Gold – auf ein lichtes Gewand herab. Wer sah denn sonst noch so aus in Tempelhof? Niemand, niemand! Nur die Feen im Märchen und die Engel im Himmel erschienen so.
Starr vor Entzücken blickte das Kind unverwandt – jetzt, jetzt hob sie die Flügel! Ach, sie würde doch nicht davonfliegen? Aber nein!
Zu den Füßen der jungen Frau hatte etwas gesessen, an ihr Kleid geschmiegt wie ein großer Hund. Hulda hatte es erst kaum bemerkt; nun erkannte sie den sich Aufrichtenden – es war Paul Längnick. Ach, was mußte der selig sein bei der lichten Frau! Die Flügel so weiß und so lang hoben sich jetzt auf – die Flügel wurden zu Armen, zu Händen – um den Nacken des Mannes schlangen sie sich – – – ha, das war etwas anderes, als wenn die Pärchen hier draußen sich umhalsten!
Schauer auf Schauer rann der lauschenden Kleinen über den Leib. Lange hätte sie noch so stehen mögen, hineinstaunen in das helle Licht mit andächtigen Augen, aber die Teckel stießen jetzt ein warnendes Knurren aus. Sie stellen sich auf die Hinterpfoten, stiegen am Schürzchen der Herrin auf und kratzten dringlich. Aha, da kam jemand! Rasch duckte Hulda sich nieder. Die Teckel gaben keinen Laut mehr, sondern drückten die Nasen zu Boden.
Eine Männergestalt schlenderte unter den Linden heran, die Zigarre im Mund. Hulda spürte den Rauch. Ganz dicht ging der Mann bei ihr vorüber – ein Glück, daß der Mond sich gerade wieder verkroch. Es war nicht zu erkennen, wer es war, Hulda sah nur das rotglimmende Fünkchen der Zigarre. Als sie sich wieder aufrichten konnte, war das Licht in den großen Fenstern der neuen Villa erloschen.
Aber drüben auf das Haus der Badekows ging nun der Kerl los, als wäre er seiner Sache ganz sicher. Mit Augen, die in der Nacht scharf wie am Tage sahen, spähte Hulda ihm nach. Was der da wohl zu suchen hatte?! Bei Badekows war ja alles finster, die schliefen schon. Jetzt pfiff er, recht leise, aber mit einem besonderen Pfiff – er wurde gleich gehört. Droben unterm vorspringenden Dach der ausgebauten Mansarde glimmte ein Lichtchen auf, vorsichtig wurde das Fenster geöffnet.
»Wer ist das?«
»Ich. Komm runter!«
»Ich komme schon!«
Das Fenster schloß sich wieder. Nanu, eine Magd? Au, wenn die alte Badekow das wüßte! Näher heran traute sich Hulda nicht; sie hätte gar zu gern gewußt, wer der Mann war, aber der Mond gab nun doch wieder etwas unsicheres Licht, am Ende würde der Liebhaber sie sehen, sie packen und sie kriegte Prügel. Schade, schade! So mußte sie sich damit begnügen, von weitem zuzusehen, wie Badekows Haustür sich leise auftat, wie die Magd herausschlüpfte, gar nicht erst wieder zuschloß, sondern sich gleich dem Wartenden an den Arm hängte und mit ihm abging. Hinter der alten Strohscheune verschwanden sie schnell. Ein Käuzchen erhob einen kläglichen Schrei. Fledermäuse pfiffen. Es huschte und schlich was über den Weg. Nun die Menschen alle verschwunden waren, machte sich Nachtgetier auf.
Das einsame Kind war an dergleichen gewöhnt; oft hatte es seine Teckel auf Ratten gehetzt, die aus dem versumpften Wasserlauf des alten Burggrabens den Schweineställen und den Körnern der Dorfscheunen zustrebten. Aber heute überkam es ein Schauern. War die Nacht doch noch so kalt?! Es fror bis in die innerste Seele.
Hulda band ihr Schürzchen ab und schlang es sich um den Kopf; ihr Röckchen schlug sie hinauf und hielt es über der Brust zusammen, kaum daß die Nasenspitze noch aus der Umhüllung vorguckte. Aber es wurde ihr doch nicht wärmer. Ach, wenn sie nun zu Hause im Bette läge! Im Bett war es warm. Und wenn man die Augen zukniff, dann sah man auch nicht mehr, wie » sie« guckte. Ob denn niemand daheim sie vermißte? So spät war sie lange nicht draußen gewesen. Wenn man sie nun schon gesucht hätte? O nein, daß sie weg war, das merkte kein Mensch. Sie würden alle in der Schenkstube sein; wenn die Stiefmutter nicht schon in ihrer Schlafkammer war, dann ging sie abends auch da hinein. Es saßen auch jetzt noch Gäste drinnen.
Hulda stand am väterlichen Hause still. Horch, die Uhr vom Turm schlug elf Mal! Hohl dröhnte ihre Stimme. Es war recht schauerlich, so allein noch draußen zu sein. Jetzt nahte die Geisterstunde. Ob es wirklich so war, wie die Liese ihr erzählt hatte, daß der Ordenskomtur, der sich einmal eine junge Maid aus Berlin hatte kommen lassen zur Unterhaltung, sie ihren eigenen Eltern abgekauft hatte, daß der um Mitternacht hier zu hören war!? Er war zwar verbrannt worden auf dem Tempelerberg, aber sein Geist ging noch spuken und grunzte wie ein Schwein.
Pah, das war ja schon so lange her! Und die Liese war ein ganz dummes Mädchen aus einem ganz kleinen Dorf. Vor so etwas war sie nicht mehr bange! Hulda ballte die kleine Faust. Aber wenn die alte Längnick noch zündeln ginge? Die hatte vor ihrem Hof gesessen, die Knöchelchen von ihrem Mann in der Molle auf dem Schoß!
Einen scheuen Blick warf Hulda zurück, von wo sie gekommen war: nichts, niemand! Ganz still lag die Dorfstraße, schwach nur beschienen, so ruhig, als wäre nie ein Fuß auf unrechten Wegen darüber hingeschritten. Sie atmete förmlich Frieden aus. Und doch schaute das Kind, ängstlich Obdach suchend, zu den Fenstern der Schenkstube auf, deren Läden vorgelegt waren. Nur durch die ausgeschnittenen Herzen schimmerte noch Licht; Stimmen hörte sie nicht. Wer weiß, der Vater saß nur noch allein da, sie war längst zu Bett! Wenn man nun leise die Haustür aufklinkte, husch, dann war man drinnen!
Vorsichtig tastete Huldas Hand, sie versuchte – die Tür gab dem Druck nicht nach – o weh, zugeschlossen! Ein Seufzer entrang sich ihren Lippen. Sie war nun sehr müde. Und so kalt. Sie befühlte ihre eisigen Bäckchen und Ärmchen. Ach, und die Füße waren ihr auch wie Eis!
Die Teckel winselten leise und drückten sich an sie. Die sehnten sich auch nach ihrem Bettchen. Und Hunger hatten sie alle drei. Das heißt, essen hätte sie eigentlich jetzt nicht mögen, trotz des wehen Gefühls hier – hier! Hulda drückte sich die Hand gegen die Brust.
Was sollte sie nun machen? Sonst hatte sie immer die Türe offen gefunden; aber freilich, so spät wie heute war's noch nie geworden. Es half nichts, sie mußte es wagen, anzuklopfen am Laden der Schenkstube. Ihr Fingerchen krümmte sich, sie reckte den Arm hoch und pochte an. Viel zu leise. Nichts regte sich drinnen, niemand kam ans Fenster und fragte: »Wer ist da?« Sie pochte noch einmal und noch einmal – jetzt schon stärker –, aber immer vergebens. Sie würde klingeln müssen. Ach, klingeln, klingeln? – O weh! Dann kam sie die Treppe herunter, dann war sie so böse, dann sagte sie bloß: »Du –?!« Und ihre Augen – huh!
»O weh, o weh!« Das Kind wimmerte auf. Wie gebrochen vor Angst sank es ganz in sich zusammen, dann schnellte es aber wieder empor: nur fort, fort, wo anders hin, nur nicht sie noch böser machen!
Wieder eilte Hulda über die Straße, und wie sie vorher zuerst bei den Lietzows drüben hineingeschaut hatte, so wollte sie auch jetzt dort hineinschauen. Vielleicht – da waren ja auch Kinder – Onkel Gottfried war gut – die Frau auch – sie hatten ihr im Sommer oft Kirschen gegeben, und einmal hatten sie sie auch hereingerufen, sie hatte sich selber Erdbeeren pflücken dürfen in dem großen Garten – vielleicht –?!
Das Kind wußte selber nicht recht, was es hoffte. Ein unklares Empfinden trieb es dahin, wo Menschen wohnten, die gut waren. Aber hier waren die Läden jetzt auch zugemacht, und kein Lampenschein schimmerte mehr durch die Ritzen. Lietzows schliefen schon. Was nun, was nun?!
Ein kalter Nachtwind schnob vom offenen Feld in die Dorfstraße hinein und durchpustete die Kleider des Kindes. Es zitterte, es fror. Wie schutzsuchend drängte es sich dicht an die Mauer des Hauses, es duckte sich unters Fenster und blieb so zusammengekauert sitzen. O, war das schrecklich, und so dunkel, so kalt, und so schaurig! Der Spuk, über den Hulda vorhin das Näschen gerümpft hatte, dünkte sie jetzt nicht mehr unglaublich. Jetzt gefiel ihr auf einmal die Nacht, in der sie sonst so gern spazierte, nicht mehr.
Den Teckeln gefiel sie auch nicht; ungeduldig schoben sie die Schnauzen unter das verhüllende Röckchen und stießen die feuchtkalten Nasen gegen den nackten Kinderarm. Da stieß Hulda einen gellenden Schrei aus: wer packte sie da?! Sie war zu Tode erschrocken. Halb ohnmächtig preßte sie die Augen zu. Die Teckel heulten auf. Da öffnete Gottfried Lietzow das Fenster der Schlafstube, die neben dem Wohnzimmer nach vorn heraus lag, spaltbreit: wer hatte denn da so geschrien?
»Es wird wieder 'n Betrunkener sein, leg dich doch man schon wieder hin!« Frau Lene war ärgerlich, sie war gerade im ersten Einschlafen gewesen.
Aber der Mann schüttelte den Kopf: so schrie seiner Lebtag kein Betrunkener. Er lauschte, er hörte ein wimmerndes Weinen und stieß rasch den Laden vollends auf. Da sah er unterm Fenster an der Erde etwas Dunkles hocken.
»Zum Donnerwetter, wer ist denn da?!« Hoch sprangen die Teckel in die Höhe und bellten – nun erkannte er seines Bruders Tochter.
»Hulda?!« Gottfried fuhr in die Hosen und lief auf bloßen Füßen zur Haustür hin. Als er sie öffnete, drängten sich sofort schnüffelnd die Teckel herein, langsamer folgte die Kleine. Sie hatte Angst. Aber der Onkel war freundlich, er nahm sie bei der Hand und führte sie in die Schlafstube, wo Frau Lene auf dem Bettrand saß und sich die Strümpfe anzog.
Wie kam das Wurm hierher, mitten in der Nacht, was machte es denn noch draußen? Gott im Himmel, es war ja ganz verklammt! In einem mütterlichen Instinkt rieb Lene dem Kind die erstarrten Hände, und dann faßte sie es um – eins, zwei, drei, – und packte es in ihr warmes Bett.
Ernst sah Gottfried seine Lene an: »Hab ich es dir nich schon früher gesagt, da drüben is 't nich so, wie et sein sollte?!« Weiter sagte er nichts. Er fragte das Kind auch weiter nicht aus, während Lene sich erschöpfte: »Nee, sag man bloß, Huldchen, wie kommste denn hierher?!
Aber Hulda antwortete nicht. Von Schauern gerüttelt, lag sie im warmen Bett und sah nicht einmal ihre Teckel an, die auf die Bettdecke gesprungen waren und Lust bezeigten, ihr das Gesicht zu lecken.
Gottfried kleidete sich an. Das ging nicht an, daß man das Kind hier behielt, die drüben würden es suchen. »Jib 'n Tuch her, Lene, ich trag se rüber!«
Ach je, das arme Kind, die arme Kleine! Lene weinte fast. Sie brachte ihr dickwollenes Umschlagetuch und hüllte Hulda fest ein.
Willenslos ließ diese alles mit sich geschehen. Sie sagte kein Wort, stumm ließ sie sich über die Straße tragen. Nur als Gottfried jetzt an Karl Lietzows Haus die Schelle kräftig zog und die Teckel alarmierend kläfften, drückte sie ihr kleines Gesicht an des Onkels Hals: » Sie – sie –!«
Er fühlte ihr Zittern. Und er riß noch einmal an der Klingel, daß sie gellend durchs ganze Haus schrie. Eine Tür knarrte, langsame, schlorrende Schritte ließen sich drinnen vernehmen.
»Ich, der Jottfried! Karl, mach man fix auf!« Ungeduldig pochte Gottfried mit der Faust.
Da wurde endlich geöffnet; Karl machte auf, er hatte noch einsam beim Glase gesessen. Trüber Lichtschein fiel aus der Schenkstube.
Gottfried trat rasch ein und setzte seine verhüllte Last auf den nächsten Tisch: »Da bring ich se dir!«
»Sie läuft immer fort«, sagte Karl mürrisch. Er war gar nicht erstaunt. Die Zeit war ihm rasch vergangen, er hatte gedruselt über seinem Glase, hatte keine Ahnung, wie spät es war.
»Mitternacht fast! Karl, Mensch, wat denkste eijentlich, die Kleene so spät draußen rumlaufen zu lassen?«
»Ich dachte, se schliefe!« Karl zuckte die Achseln.
»Kümmerste dich denn um dein Kind so wenig?« Gottfried war empört; in dem lebhaften Gefühl des Unrechts, das hier begangen wurde, kochte der Zorn in ihm über, er schrie den Bruder an: »Schämen sollste dich in deinen Hals rein! Sitzt hier un saufst! Hast reineweg nischt zu tun und hast doch nich mal Zeit, dich ums nächste zu kümmern. Du bist ja ein janz miserabler, lumpiger –«
»St – nich so laut!« Karl ging und drückte leise die offengebliebene Stubentür ins Schloß. »Mach nich, daß sie et hört! – Marsch!« Mit gedämpfter Stimme fuhr er die Kleine an: »Ins Bette!«
Aber Gottfried hielt die Hand über das Kind. Hulda war vom Tisch heruntergeglitten, sie stand auf der sandbestreuten, schmutzigen Diele.
Das flackernde Licht der Hängelampe zeigte, wie gespenstisch blaß sie war. Nun wurde ihr Gesicht ganz totenfahl. Oben klappte eine Tür, man hörte Tritte auf der knarrenden Treppe.
» Sie!«
Auch der Vater schreckte zusammen.
Die Tritte näherten sich, die Tür wurde aufgerissen, Ida Lietzow, in Nachtjacke und kurzem Unterrock, das Gesicht vom Zorn aufgeschwellt, die Augen drohend, stand auf der Schwelle.
»Rumtreiberin! Aber, wenn du wieder so spät kommst, denn komm leise, das bitt ich mir aus!« Krachend warf sie die Tür wieder zu. Gleich darauf schmetterte oben auch eine Tür.
Ganz verdutzt sah Gottfried seinen Bruder an: das war alles?
Karl seufzte auf, er war plötzlich ernüchtert. Ja, so war sie immer. Aber sie meinte es nicht so böse, es war nun mal so ihre Art.
»Na, ich danke!« Gottfried kraute sich den Hinterkopf. Nun begriff er auf einmal, warum das Kind so verängstigt war und warum Karl trank.
»Du saufst«, sagte er kummervoll und betrachtete seinen Bruder. Wie sah dieser einstmals so hübsche Mensch aus! Die Züge waren aufgedunsen, die Augen verschwommen, die Nase rot, über das ganze Gesicht zog sich Kupfer, und die Stimme klang, als käme sie aus zu enger Kehle. »So jehste zujrunde, Karl!« Gottfried ergriff des Bruders Hand, der sich schwer auf seinen alten Platz hinter der Kümmelflasche hatte fallen lassen. »Sag, lebste denn unjlücklich mit ihr?«
Karl schüttelte verneinend: »Nee. Wir prügeln uns nich. Aber siehste« – er kriegte plötzlich das Weinen, seine heisere Stimme schluchzte – »se is 'ne se – sehr hübsche Frau – wu – wu – wunderhübsch – sie jefiel mir – sie je – fällt mir auch noch – aber ich – wü – wünschte doch, sie wäre, wo der Pfe – Pfeffer wächst! I – ich – zum Donnerwetter noch mal, was bin ich nich jeworden, was du bist – 'n Mistfink?!« Er schlug eine dröhnende Lache auf, und dabei weinte er doch. Sein Gesicht hatte etwas Schreckliches.
Unverwandt sah seine Tochter ihn an.
»Karl, Karl«, mahnte der Bruder. Gottfried wußte nicht, was er weiter sagen sollte; er wußte hier wirklich keinen Rat.
»Es wäre besser, sie wäre weg«, sagte da plötzlich ein feines Stimmchen.
Beide Männer sahen verblüfft die Kleine an. Sie stand mitten im Zimmer, ihre schwarzen Augen, schlau und beweglich wie die einer Maus, fuhren umher, sie blitzten ordentlich. »Uns kann se nich leiden!«
»Wa – was?!« Karl Lietzow blickte auf. Seine verdunsenen Augen quollen ihm aus dem Kopf. Auf einmal brüllte er wütend: »Jöhre verdammte! Was quatschste da?!«
»St!« Gottfried legte die Hand auf des Kindes Mund. »Du mußt nich sagen, was nich wahr is! Warum soll Mutter euch denn nich leiden können?«
»Es is aber doch wahr!« Hulda schlüpfte unter seiner Hand weg; in einem Husch war sie fern in der Ecke, im Winkel zwischen Ofen und Wand. Da lugte sie vor, halb trotzig, halb erschrocken: »Wir sind ihr im Wege!«
»Verflixte Jöre, woher weißte das?«
Aber sie schüttelte das Köpfchen: »Ich sage nichts!«
Es war nichts mehr aus ihr herauszubringen. Wie eine verängstigte Maus blieb sie verkrochen in ihrem Winkel. Gottfried wandte sich seufzend zum Gehen: hier hält man's nicht lange aus!
»Karl«, sagte er noch, bevor er aus der Tür ging, trat zu dem jetzt finster vor sich Hinbrütenden und legte ihm die Hand auf die Schulter: »Bring Hulda'n doch zu Bette, sie wird wohl Angst haben, alleine nach oben zu jehen. Un denn jeb dem Kind doch noch irgend 'nen Rock. Et friert ja erbärmlich!«
Vater und Tochter waren allein. Und beide stumm. Und stumm war die Nacht. Und stumm das Haus. Plötzlich erlosch die Lampe, ihr Petroleum war ausgebrannt.
»Komm her«, sagte der Vater heiser und streckte die Arme ins Dunkle; da fühlte er auch schon das Kind an seinen Knien. Es war an Finsternis gewöhnt, es hatte sich lautlos herangeschlichen. Er hob es auf seinen Schoß, er fühlte die eiskalten Händchen und Füßchen. Mit einem mitleidigen: »Na, trink man, kleine Kröte, daß de warm wirst!« führte er sein Glas an des Kindes Mund.
Und es trank aus dem Glase.