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Nun wartete Karl Lietzow schon vier Wochen auf seine Hulda; sie kam noch immer nicht zurück.
Sie würde wohl auch nicht mehr zum Vorschein kommen, darüber war man sich in Tempelhof einig. Aber dem Vater hätte man es nicht gesagt. Wer hätte gedacht, daß der Karl Lietzow sich das so zu Herzen nehmen würde! Die Angenehmste war die Kleine wirklich nicht gewesen – ein recht unfreundliches, verschlagenes Ding, das sich immer auf der Straße herumtrieb – aber er mußte doch wohl viel von ihr gehalten haben. Zur Polizei war er gerannt wie ein Verrückter, alle Reviere in Berlin hatte er abgelaufen. Ein Aufgebot von Schutzleuten streifte das Feld ab und die ganze Nachbarschaft. In alle Blätter hatte er's setzen lassen, eine Belohnung ausgeschrieben, eine hohe Belohnung. Aber alles war bis jetzt vergebens gewesen. Keine Nachricht kam über Hulda; und die Hunde, die sie mitgehabt hatte, die waren stumm. Die saßen jetzt nur immer auf den Steinstufen der Haustür, mit trüben Augen und winselten leise.
Es war in den letzten Monaten mehr Zuspruch gewesen in Lietzows Ausschank. Die schöne Frau in dem Dorfwirtshaus war entdeckt worden wie ein Wunder. Am Bau des Lazaretts waren jetzt die feineren Handwerker beschäftigt: Maler, Dekorateure, Monteure, auch die Herren Ingenieure, und sie kamen alle ins Dorf herein und verkehrten alle bei Lietzows.
Ida ging nun in hellen Zephyr gekleidet, war sorgfältiger frisiert und lachte oft. Das waren doch endlich Menschen, Menschen, mit denen es sich lohnte, freundlich zu sein! Berliner, die da wußten, was hübsch und was fein war! Sie war nicht mehr spröde.
Huldas schlaue Augen hatten viel zu sehen gehabt, und ihre feinen Ohren auch viel zu hören. Sie wußte selber nicht, warum sie so gern zuhörte. Von Berlin ging immer die Rede, von Berlin. Und es waren alles so feine Leute, lauter freundliche Herren! Hulda wurde jetzt öfter einmal getätschelt, sie bekam auch wohl etwas geschenkt, und einer hatte sie sogar einmal gehascht, sie auf den Arm nehmen wollen und mit seinem Schnurrbart ihre Wange gekitzelt. Sie war nicht mehr soweit fortgelaufen wie sonst, wie die Katze hielt sie sich beim Hause. Sie strich durch Schenkstube und Kegelbahn, überall war sie. Sie war sehr neugierig.
Und diese Neugier wurde brennender. Wer doch auch so hübsch und groß wäre wie die Stiefmutter! Die tat schön mit all den freundlichen Herren, und die freundlichen Herren mit ihr. Aber da war einer, der Stukkateur mit dem schwarzen Schnurrbärtchen und den lockigen Haaren, der schien ihr ganz besonders zu gefallen. Ja, der war aber auch hübsch! Und immer so lustig! Des Kindes Augen wurden groß, wenn er eintrat. Dann ging es nicht gern aus der Stube; aber die Frau jagte es hinaus.
Als Hulda sich doch einmal wieder hereingeschlichen hatte, in einer Ecke stand und den schönen lustigen Berliner mit glänzenden Augen immerfort ansah, da bekam sie einen Schlag von der Stiefmutter Hand. Der Schlag war nicht kräftiger, als sonst eine Ohrfeige, aber Hulda fühlte ihn viel, viel stärker. Vor dem jungen Mann da mußte sie sich schlagen lassen, züchtigen wie ein kleines Kind?! Sie stampfte mit den Füßen. Ein haßerfüllter Ausdruck kam in ihr Gesicht. Was hatte sie denn Schlimmes getan? Sie hatte doch weiter gar nichts gesehen, als daß ›er‹ am Tisch saß und ›sie‹ bei ihm stand, den Ellenbogen auf den Tisch stemmte und sich zu ihm hinüberbeugte, ganz dicht.
Des Mädchens Fäustchen ballten sich, ein wissendes Lächeln machte den jungen Mund alt: aha, die wollte nur allein, ganz allein mit ihm sein!
Von nun an paßte Hulda der Stiefmutter auf. Sie belauerte die Frau. Sie schlich ihr nach mit Katzenschritt. –
Es war ein heißer Tag gewesen; eine müde Nachmittagsstunde lastete schwer auf Tempelhof. Nichts gab Laut. Etwas Brütendes war in der Stille; von fernher nur kam Hammerschlag vom großen Bau des Lazaretts. Die Linden standen mit schlaffen Blättern, die Häuser hatten ihre Augen zugemacht, überall lagen vor den Fenstern die Läden.
Matt krochen in Lietzows Schenkstube die Fliegen. Um diese Zeit waren kaum je Gäste da; der Wirt hatte sich lang auf eine Bank gestreckt und schlief, den Mund offen. Sein gedunsenes Gesicht war fahl-bleich im dämmrig-schläfrigen Licht. Er hatte heute mittag schon vier Absynthe getrunken – sie war ihm wieder so grob gekommen, noch dazu vor Gästen. Darum verschlief er jetzt alle Gedanken. Er träumte angenehm, da fühlte er sich am Ärmel gezupft.
Vor ihm stand Hulda, ganz blaß, aber ihre Augen funkelten, sie glitzerten förmlich in der dunklen Stube. Sie legte den Finger auf den Mund.
Verdutzt starrte Karl seine Tochter an.
Sie zog ihn auf, sie sagte kein Wort, ihre Rechte zerrte ihn mit sich zur Stube hinaus, ihre Linke hielt sie noch immer an die Lippen. Und sie zog ihn weiter; er war so verschlafen, daß er nichts fragte, willenlos ließ er sich ziehen. Zur Hintertür führte sie ihn hinaus, immer leise schleichend; seine weichen Filzschuhe trappten auch nicht.
Hinter dem Haus lag die Kegelbahn; ein düsterer, langer Gang, links von Büschen bestanden, rechts von altersgedunkelten Planken geschützt, und am Ende die halb verfallene Laube.
Ein Hahn krähte verschlafen von irgendwo her. Sonst war nichts zu hören. Hulda ließ jetzt des Vaters Hand los. Vorsichtig das Buschwerk der Kegelbahn auseinanderbiegend, winkte sie ihm; ein schadenfrohes Zucken ging um ihren Mund, ihre Augen öffneten sich weit mit fiebrigem Leuchten.
Karl Lietzow stieß einen Wutschrei aus – da war sie! Auf der Kegelbahn, in der Laube! Und sie lag in den Armen des Stukkateurs!
Blitzschnell hatte sich Ida bei dem Schrei umgedreht, den Liebhaber stieß sie von sich. Er sprang davon, schwang sich über den Plankenzaun; sie aber konnte nicht entwischen, ihr Mann hielt sie fest.
»Du – du!« Lietzow keuchte. Also darum war sie immer so grob zu ihm? Er schüttelte sie gewaltig, mit plötzlich erwachter Kraft.
Einen Ausweg suchend, irrten ihre Augen verängstigt umher, da traf ihr Blick auf Hulda.
Wie festgezaubert stand das Mädchen, ein seltsames Lächeln hob seine Mundwinkel.
Die Frau entsetzte sich: da stand sie, die Schlange, die Schleicherin – was würde die nun noch alles verraten?! Eine flammende Röte schlug Ida zu Kopf, starr, gebannt hing ihr Blick an der Stieftochter: o weh, die wußte alles!
Aber auch Hulda befiel eisiger Schreck, sie zitterte: wie sah die da, die da sie an?! Huh, die böse Stiefmutter! – –
Und nun hatte sich Hulda den ganzen Nachmittag nicht mehr nach Hause getraut. Als es Abend war, spähte sie durch den Ladenspalt hinein ins Schenkstubenfenster. Wenn der Vater allein drinnen war, dann klopfte sie an. Er würde ihr dankbar sein – sie durfte ihr dann nichts tun, er würde seine Tochter schützen.
Der Vater war drinnen, auch keine Gäste, aber – Huldas Augen wurden stier vor Verwunderung und vor Entsetzen, ihr Herz setzte den Schlag aus – sie war bei ihm. Seite an Seite mit ihm auf der Bank, ganz einig. Und er legte den Arm um sie und patschte sie auf den Nacken.
Da war das Mädchen mit einem Seufzer, der zitternd in der Nacht verklang, langsam zurückgetreten. –
Es pfiff seinen Teckeln.
Ob sie in Berlin unter die Räder gekommen war? Sie war doch so gewohnt an die Straße. Und klug war sie auch. Die kriegte keiner mit, wenn sie nicht wollte! Das war des Vaters Hoffnung; er hoffte noch immer. Die Blätter fingen an zu fallen. Wenn es draußen nun kalt wurde, ungemütlich und regennaß, dann würde sie schon wieder heimkommen!
Die Rumtreiberin! Der Wartende ballte die Fäuste: Dresche sollte sie dann aber kriegen, Dresche! Doch dann fiel die Hoffnungslosigkeit seines Harrens über ihn her wie Verzweiflung. Dann stemmte er beide Ellenbogen auf, preßte den Kopf zwischen die Hände, und weinte laut.
Das Berlin, das Berlin – wo sollte sie denn anders hin sein? – das hatte seine Hulda verschluckt. Oder hatte das weite Feld zwischen Dorf und Stadt sie genommen? Er wußte es nicht. Aber wie er Berlin abgesucht hatte, so suchte er jetzt auch das Feld ab.
Alle Tage wanderte er hinaus, planlos, ziellos über die Brache, deren Grasbüschel gelb geworden waren vom glühenden Hauch des Sommers und von den Reifnächten des Herbstes, fahl und saftlos wie dürrer Strandhafer. Er wanderte, wanderte immer hin und her, obgleich seine Knie einknickten und seine geschwollenen Füße ihn schmerzten. Wie ein Irrlicht schwebte eine dunkle Ahnung ihm vor, er näherte sich der Stadt; da mußte sie drinnen sein! In dem Riesenberlin war es ja am leichtesten, sich zu verstecken. Aber dann streifte er wieder weiter davon ab, jenen Nebeln zu, in denen das Riesenfeld verdämmerte. Vielleicht war sie auch da?! Er wurde todesmüde.
Und wenn er dann nach Hause kam, saß er da, als wäre es nicht mehr sein eigenes Haus; er kümmerte sich um nichts mehr, er nahm nicht mehr teil an irgendetwas, er überließ seiner Frau alles. Und mochte sie auch sonst machen, was sie wollte! Brütend, beide Arme aufgestützt, saß er in der Schenkstube und trank.
Und ihm gegenüber trank noch ein anderer. Paul Längnick hatte sich im Ausschank von Karl Lietzow jetzt als Stammgast angefunden; er ging ja nicht mehr zu Kiekebusch. Alle Abend, wenn es dämmerte, erschien er; dann setzte er sich zu Karl an den Tisch. Mochten andere Gäste da sein, mochten sie nicht da sein, ihn kümmerte kein Gast.
Ohne Wort, ohne Blick, saßen sich die beiden gegenüber. Der eine stemmte die Arme auf und stierte vor sich hin, der andere stemmte die Arme auf und stierte vor sich hin; nur wenn der eine einmal aufseufzte, seufzte der andere nach. Zu sagen hatten sie sich nichts.
Jeden Abend Glock zehn kam Rieke Längnick und holte den Sohn ab. Ob es regnete, ob es stürmte, ob die Nacht dunkel war oder die Sterne leuchteten, sie holte ihn ab. Dann führte sie ihn an der Hand die Linden entlang; sie stützte seinen unsicheren Tritt mit immer noch starkem Arm. Er kam nicht ins Stolpern, wenn sie ihn hielt. Sie wachte über ihm, daß er sich nichts tat.
Tag und Nacht wachte sie so. Doktor Schmidt hatte ihr vorgeschlagen, wenn sie den Sohn denn durchaus nicht fortgeben wollte, einen Wärter ins Haus zu nehmen. Aber das wollte sie auch nicht. Sie hatte keinen Wärter nötig, er war ja jetzt ruhig. Nur die Kinder hatte sie fortgegeben, die blonden Kinder, die ihrer Mutter glichen; deren Anblick regte ihn jedesmal auf. Er hatte sie sogar eines Tages beim Essen bedroht mit Messer und Gabel.
Die Mutter blieb ganz allein mit dem Sohne, all ihre Zeit gehörte ihm, und nur, wenn er beim Dämmern in den Ausschank stolperte, dann ging sie über den Hof ins Hinterhaus. Dann saß sie eine Weile auf der Alteisenkiste und bedachte ihr Werk.
Rieke Längnick hatte gealtert, ihr Haar war schlohweiß geworden. Aber ihre Gestalt war ungebrochen. Mit harten Augen sah sie ihre Gefangene an, unbeugsamer Wille sprach aus diesem Blick: die da, die rührte sich jetzt nie und nimmermehr! Die war jetzt wirklich auf ewig tot!
Und die einsame Frau trug den weißen Kopf hoch, sie atmete ruhig, wenn sie den öden Raum dann wieder verschloß: es war doch am besten so!
Der Winter meldete sich. Heute nacht hatte es zum ersten Mal gefroren, übers schutzlose Feld schnob der Wind unbarmherzig.
Mit einem fast irren Ausdruck blickten die verdunsenen Augen aus Karl Lietzows zerstörtem Gesicht: die Hulda kam nicht, sie kam nicht! Lange hatte er gegen den Wind angekämpft, nun stand er still auf dem Feld; er konnte nicht mehr weiter. Er hatte gerufen, er hatte geflucht, er hatte geweint, er hatte jede Vertiefung durchstöbert; bis zu den Akazien der Hasenheide hin war er geraten, und dann bis an die neuen Häuser von Schöneberg. Er hatte das Riesenfeld gequert in der Länge und Breite. Überall Spuren. An den Rändern Papier, Lumpen, zerrissene Stiefel, zerbrochenes Geschirr, Kohlstrünke; allerlei Schutt, verkohlte Überreste von Feuerstellen, die anzeigten, wo Leute genächtigt hatten.
Jetzt, am hellen Morgen, gingen keine Gestalten hier, aber nachts, nachts, dann wankten sie herum, die aus Gräbern, aus Grüften Erstandenen, und trieben hier ihren Spuk. Ob die Hulda auch so ein Nachtgespenst wurde?! Der Vater wimmerte auf, und dann horchte er: dort, am Franzosenpfuhl, unten in der Senkung regte sich etwas!
Aus dem Gestrüpp der ruppigen Zwergkiefern kroch eine Gestalt hervor. Der Rixdorfer schob seinen Kopf vorsichtig über den Rand der Sandwehe. »Nanu?«
Mißtrauisch lugte er, dann wagte er sich näher: das war keiner von den Blauen, die jetzt immerfort die Gegend hier unsicher machten! Er tippte dem in sich Zusammengesunkenen, der schon wieder auf nichts mehr achtete, behutsam auf den unbedeckten Kopf. »Wat weimerste denn so erbärmlich? Nanu, wat 's denn los? Hier wird nich geweimert, hier wird immer jelacht. Jelacht!« Er schlug eine mißtönende Lache auf. »Lustig, Männeken! Det is allens nich halb so schlimm, wie man sich det denkt. Wenn man erst keen Dach mehr überm Koppe hat und de Blauen hinter einem her sind, denn is allens andere bloß'n Spaß. Haste Motten in'n Kopp? Da, trink man!« Er streckte die noch halbvolle Schnapsflasche dem anderen hin: »Trink man, trink, denn kriegste Kurasche!«
Mit Gier griff der Unglückliche nach der brüderlich ihm gebotenen Flasche. Der Rixdorfer erkannte Karl Lietzow nicht mehr, und dieser auch nicht mehr den alten Strolch. Aber sie tranken aus einer Flasche.
Der Schnaps war stark, gegessen hatte Karl heute noch nichts, der Fusel verfehlte seine Wirkung nicht. Als er die Flasche absetzte, fühlte er sich warm werden und viel wohler.
Der Alte trank den Rest aus, er schüttete ihn hinunter, ohne zu schlucken, und dann machte er: »Brrr!« Er schüttelte sich vor Behagen, ein Grinsen überzog sein verschmutztes Runengesicht. »Wenn man det nich hätte, wat, Bruderherz?«
Karl Lietzow nickte, er fühlte keinen Ekel vor dem Verkommenen. Nach der schmutzigen Hand greifend, drückte er sie: »Danke dir, Bruder!«
Der Alte betrachtete ihn neugierig: das war doch keiner von der gewohnten Sorte? Die Schnapsnase stimmte, aber die Kleidung war nicht danach! »Na«, sagte er, »wat suchst du denn hier?«
»Meine Tochter!« Weiter sagte Karl Lietzow nichts, mit einem Stöhnen vergrub er das Gesicht in beide Hände.
Nanu, ging es schon wieder los?! Der Rixdorfer schüttelte den Kopf: dem hier schien ja ordentlich was in die Krone gefahren zu sein. Auf keine Frage hörte er mehr!
Eine Weile noch blieb der Vagabund mitleidig stehen, aber als der andere sich nicht rührte, immer so das Gesicht in den Händen behielt, wandte er sich ab. Ganz hinten, jetzt noch weitab, sah er eine Gestalt wandeln, und er lugte scharf. Dafür taugte das Auge des alten Strolches immer noch, sein Blick wurde gierig: Ha, da war ein Herr – feingekleidet – man sah's am Gang, an der Haltung! Er witterte es förmlich. Murmelnd setzte er sich in Trab: »Der hat Pinkepinke!«
Schnell zog er das Gesicht in die gewohnte Grimasse: »Meine Eltern sind dot, meine Frau liegt in de Wochen. Ha'm Se nich en Sechser übrig, lieber Herr, vor'n armen Mann?«
Karl Lietzow blieb allein. Einen einzigen Blick warf er noch rundum – leer, alles leer! Sie war fort, und sie kam niemals wieder!
Er rutschte in die Sandkuhle hinab unter die ruppigen Kiefern.
Der Rixdorfer kam nach einer Weile zurück, sehr mißgestimmt. Der feine Herr war ein kräftiger Mann gewesen, einen Stoß vor die Brust hatte der ihm gegeben und ihm mit der Polizei gedroht. Ach! Der alte Vagabund seufzte: er konnte gegen das alles jetzt nicht mehr an, er war schwach geworden und nicht mehr flink auf den Beinen. Ja, es war nichts mehr los auf dem Tempelhofer Feld, die goldene Zeit war vorbei!
Unzufrieden knurrend näherte er sich seinem gewohnten Versteck, am Franzosenpfuhl war noch immer der ungestörteste Platz. Da sah er den Mann von vorhin hängen. An der größten der Kiefern. Aber auch die war noch nicht hoch genug gewesen, er hatte die Füße heraufziehen müssen, um richtig zu baumeln.
»Na also!« Mit Ruhe betrachtete der Achtzigjährige den Toten. Es wollte ihn fast wie Neid überkommen – der hatte nun Ruhe. Der brauchte nun keinen Versteck mehr im Feld zu suchen und keinen Schluck mehr in der Flasche!
Lüsternen Auges betrachtete der Obdachlose den, der es nun gut hatte. Der Mann hing an seinen Hosenträgern. Wenn man ihn nun vorsichtig abschnitte? Die Strippen wären noch mal dazu zu gebrauchen! Aber: »Nee, nee«, brummte der Greis und wandte sich ab. »Laß 'n man hängen. Meine Zeit kommt nun ooch bald!«
Müde streckte er sich platt hin, da, wo er gerade stand.
Nichts war mehr von ihm zu bemerken. Eins war sein Gewand mit dem Schmutzgrau des Feldes, sein Körper schmiegte sich dem Boden dicht an; sein weißes Haar vermengte sich mit den gebleichten Gräsern, sein Schnarchen verklang im Sausen des Windes.
*
Ida Lietzow hatte sich weiter nicht groß darum, daß ihr Mann so geendet hatte. Traurig war's ja, und sie mochte in der ersten Zeit keinen Augenblick allein bleiben; sie hatte immer Angst, die Tür ginge auf und er käme wieder herein. Aber sie war denn doch zu froh, um ein Hehl daraus zu machen, daß sie sich nun wie erlöst fühlte. Nach dem Testament, das Karl bei seiner zweiten Verheiratung gemacht hatte, war sie die alleinige Erbin, denn das Kind war ja nicht mehr. Gottfried hatte Einspruch erheben wollen: die Kleine konnte doch noch wiederkommen. Nun ja, die gesetzliche Frist würde abgewartet werden, aber dann – dann!
Hoch aufatmend packte Ida Körbe und Kisten zu ihrer Übersiedelung nach Berlin. Sie wartete kaum ab, bis der neue Wirt zuzog, der Ausschank hatte gleich einen Liebhaber gefunden. Den Laden ließ man eingehen, Berlin war zu nahe, die Leute kauften lieber dort alles ein. Was Karl Lietzow noch an Land besessen hatte, gab die Witwe in Auftrag zu verkaufen, um jeden Preis. Mochte Gottfried Lietzow auch protestieren im Interesse der Tochter – ach was, die kam ja nicht wieder! Nur zu Gelde gemacht, was zu Geld zu machen war, und dann fort! Der Boden brannte ihr unter den Füßen.
Der Tod des Bruders hatte Gottfried sehr mitgenommen. Wahrhaftig, da konnte einem Tempelhof verleidet werden! Auch er sprach vom Fortziehen. Ein schwerer Winter lastete über dem verschneiten Dorf und machte die Tage traurig.
Mit der alten Badekow ging es auch nicht mehr zum besten. Sie saß in ihrem Stuhl, man sah sie nicht mehr auf der Straße. Einmal noch war sie in Berlin gewesen bei ihrer Tochter Marianne.
Bei Doktor Hirsekorns ging es gut, sehr gut; ein Kind sollte ihnen zum Frühjahr geboren werden. Aber die Leiden fochten Marianne nicht an, sie fühlte nur die Freuden. Emsig war sie beschäftigt, Hemdchen und Jäckchen zu nähen, Wickelbänder zu stricken und Steckkissen auszulanguettieren.
»Ob ick det Hirsekörnchen noch wer' zu sehen kriegen?« fragte die Mutter lächelnd, als sie bei ihrem letzten Besuch die Tochter in diesen Vorbereitungen fand. Nun, wenn sie es denn auch nicht mehr zu sehen kriegen sollte, Hanne Badekow fand sich auch darein. Sie war jetzt nicht mehr so hitzig auf etwas. Auf nichts mehr. Nur ihren alten König hätte sie gern noch einmal gesehen.
Friedrich und Marianne wechselten einen Blick: wie komisch von der Mutter! Aber natürlich, wenn sie das gern wollte! Es rührte den Berliner, als er die Freude der alten Frau sah. Er stellte ihr seinen Doktorwagen zur Verfügung, ging selber einmal zu Fuß auf die Praxis, und Marianne fuhr die Mutter unter die Linden.
Zur bestimmten Stunde stand der Kaiser immer am Eckfenster seines Palais. Es hatten sich, so wie alle Tage, auch heute viele Leute angesammelt, Fremde und Einheimische; eine ganze Schar Kinder stand vorne an. Noch waren sie zu früh gekommen. Erst um ein Uhr zeigte der Kaiser sich, guckte dann über den kleinen Fenstervorsetzer, in den ein englisches Tüllgardinchen eingespannt war, weg und grüßte die Menge.
Die Badekow bestand darauf, den Wagen zu verlassen: so konnte sie ja nicht genug sehen. Es wehte ein scharfer Nordost, die breiten Linden schnob er herunter und durchpustete bis ins innerste Mark, aber fast ärgerlich wies die Alte Mariannes Pelzkragen zurück: sie fror doch nicht! Da hatte sie bei ganz anderem Wetter auf dem Markt gesessen, und ein Abgesandter aus der Hofküche war gekommen und hatte, als der Kaiser noch nicht mal König, sondern erst Prinzregent gewesen war, bei ihr schon Gemüse und frische Eier, die allerersten Spargel und den frühen Salat gekauft, und sie hatte ihm nie zu viel abgefordert!
Das alles erzählte die Badekow. Ihre Bäckchen glühten wie Rosen, ihre Augen glänzten. Als sei ein Hauch ihrer rüstigen Jugend wieder über sie gekommen, so sah sie aus. Und sie war geschwätzig geworden, sie konnte kein Ende finden.
Die Umstehenden amüsierten sich, nickten der alten Frau zu und lächelten; ein ganzer Kreis hatte sich um sie gebildet. Aber Marianne lächelte nicht, sie hätte eher weinen mögen. Nicht, daß ihr die laute Erzählung der Mutter ärgerlich war; eine bange Rührung scheuchte das Lächeln von ihrem Gesicht.
In der vordersten Reihe stand die Bauersfrau, als der Kaiser sich pünktlich zur Minute zeigte. Sie hatte ihr Schnupftuch gezogen. Sie winkte, er winkte – er nickte, sie nickte. »Er hat mir, mir janz besonders jejrüßt«, sagte sie nachher stolz zu dem Schwiegersohn.
Den ganzen Tag hielt die große Erregung noch an, aber am Abend fiel Hanne Badekow ab. »Nu habe ick det Letzte jesehen aus die alte Zeit«, sagte sie wehmütig.
Sie sagte nichts von »Abschied«, aber die, die sie lieb hatten, ahnten ihn.
»Laß dir scheiden, ick bitte dir«, sagte Mutter Badekow schwach zu ihrer Auguste.
Noch immer wollte Auguste nichts davon wissen, sie blieb bei ihrer Weigerung. Und sie hatte doch schon so viel Ärger deswegen gehabt. Johann und Gottfried waren nicht bloß hinter ihre Korrespondenz, sondern auch hinter die Rendezvous gekommen, die sie sich mit ihrem Manne gab.
Paschke hatte erklärt, Tempelhof würde er nicht betreten, und selbst nicht einmal aufs Tempelhofer Feld hatte er kommen wollen, so hatte Auguste sich mit ihm treffen müssen bald unterm Kreuzbergdenkmal, bald auf einer Bank des Belle-Alliance-Platzes, bald unter den Kolonnaden am Tor, bald in einer der neuangebauten Straßen, die auf den früheren Äckern an den Sandbergen sich jetzt hinzogen.
Fürchterliche Szenen hatten stattgefunden; Johann und Gottfried hatten förmlich getobt, Auguste wurde heruntergeputzt, als wäre sie noch ein unmündiges Kind: man mußte sie bewachen, einsperren, wenn sie so verrückt war. Aber Auguste war nicht einzuschüchtern, sie blieb fest dabei: nein, sie ließ sich nicht scheiden. In der Liebe ihres Julius vergaß sie, was ihrer zu Hause an Unannehmlichkeiten wartete.
Nie war er früher so zärtlich, so innig zu ihr gewesen. Wenn er auch arm war, jetzt ganz arm – in seiner augenblicklichen Stellung verdiente er sehr wenig – sein Gemüt war so reich. Ach, daß er sich so herumdrücken mußte! Mit welcher Sehnsucht gedachte er des einstigen gemütlichen Heims!
Auguste brachte ihm alles, was sie augenblicklich besaß. Die Mutter hatte ihr ein Taschengeld ausgesetzt, sie verwendete nichts davon für sich. Ihr Julius hatte sich zwar zuerst geweigert, auch nur einen einzigen Pfennig davon anzunehmen – »Wo denkst du hin, nie, nie!« – aber welche Wonne war es ihr doch, ihm geben zu können. Sie bat ihn unter Tränen, sie drängte ihm das Geld auf.
Mit hochroten Wangen kam sie jedes Mal von ihrem Manne zurück, ihre Augen hatten zwar geweint, aber sie leuchteten doch. Heimlich war sie zu ihm gegangen, heimlich wollte sie von ihm zurückkehren, aber wie sie's auch anstellte, jedes Mal traf sie, gerade wenn sie ins Haus schlüpfen wollte, entweder mit Johann zusammen, oder Gottfried kam ihr in den Weg. Ihr Haar war verwirrt, ihr Mund gerötet von Küssen.
Das ging nicht länger so. Die Mutter wurde zusehends schwächer, wer weiß, eines Tages –! Sie getrauten sich nicht, es auszusprechen – möchte die gute Frau noch recht lange leben! – aber mit so einer alten Frau konnte es mal rasch aus sein. Und der Paschke, der lauerte ja nur auf Augustes Erbschaft. Und Auguste war so dumm. Es war höchste Zeit, der Sache mußte vorher ein Ende gemacht werden!
Lange hatte Gottfried und Johann hin und her überlegt, bis Grete ihnen auf die beste Idee verhalf: man mußte zusehen, daß, da Auguste ja nicht dazu zu bringen sein würde, von Paschke die Scheidung ausging. Wenn man ihm Geld bot, ein gutes Stück Geld – es würde doch immer noch nicht so hoch zu stehen kommen, wie eine verlorene Erbschaft – dann ging er sicher darauf ein, selbst auf Scheidung zu klagen.
»Donnerwetter noch mal!« Gottfried stieß einen kurzen Pfiff aus. Johann sah Grete bewundernd an: ja, seine Frau war klug!
»Jott sei Dank, meine is nich so klug!« Gottfried bekam einen bösen Blick von der Schwägerin, aber er trug seine harmlos-gutmütigste Miene zur Schau. Das war eine Idee, eine Idee! So eine Idee konnte nur ein Frauenzimmer haben! Er stieß seinen Schwager an: »Also los, denn fahr man morjen rein!«
»Ich?!« Johann war nicht erpicht darauf. »Nee, fahr du!«
»I wo wer' ick! Deine Frau hat es ausjeheckt!«
Johann kratzte sich den Kopf: »Ja, aber –«
»Na, denn fahr doch keiner«, sagte Grete geärgert. »So lange werdet ihr machen, bis Mutter tot is und Aujuste mit dem Jelde zu Paschke abjeht. Ich sehe es schon!«
Nein, das wollten sie denn doch nicht; auf keinen Fall. Sie einigten sich, beide zusammen zu fahren. – – –
Der Schnee lag dick auf der Welt; es war ein langer Winter, der für ungeduldige Herzen schwer zu ertragen war. Auguste hatte ihren Mann schon seit ein paar Wochen nicht gesehen, bei der letzten Zusammenkunft hatte er kein neues Rendezvous mit ihr ausgemacht. »Wer weiß, wie sich alles ändert!« hatte er gesagt, und hatte so unternehmend, so gewissermaßen fröhlich dabei ausgesehen, daß sie sich mit seltsamen Hoffnungen trug.
Er mußte doch irgendwelche Aussichten haben?! »Wer weiß, wie sich alles ändert« – ach Gott, am Ende hatten sie ein Einsehen und gaben es dann zu, daß sie wieder mit Julius Paschke zusammenzog. Gaben vor allen Dingen auch das nötige Geld her; sie würde es ja bei Heller und Pfennig zurückerstatten, sowie sie erst ihr Erbteil in Händen hatte. Allzu lange würde das ja nicht mehr dauern!
Auguste wischte sich über die Augen und seufzte. Ach, war es nicht herzlos von ihr, daß sie so etwas denken konnte? Aber sie hatte ihren Julius doch zu sehr lieb. Er war doch ihr Mann, und ihr Wunsch, bei ihm zu sein, nur natürlich – und doch! Wie ein Vorwurf brannte es in ihrer Seele: die Mutter, die alte Mutter war immer so gut gewesen – ach, es war traurig, daß sie zu ihrem Glück erst kommen konnte durch deren Tod!
Es trieb sie plötzlich zur Mutter hinunter: wie ging es ihr heute? Es war am Morgen, sie hatte die alte Frau noch nicht gesehen.
Die Badekow lag jetzt immer länger im Bett, und wenn sie aufstand, mußte ihr eine der Töchter zur Hand sein, es wollte nicht mehr so recht gehen mit dem Haarmachen, und wenn ihr etwas hinfiel und sie sich danach bücken mußte, ging ihr der Atem aus.
Als Auguste eintrat mit verweinten Augen, war Mieke gerade dabei, der Mutter die Strümpfe anzuziehen. Gott, was hatte die Mutter für dicke Füße! Die waren doch nicht etwa so geschwollen? Auguste bekam einen großen Schreck. Sie nahm sich vor, es drüben bei Johanns zu sagen, vielleicht daß Hirsekorn auch bald einmal herauskommen konnte! Da klopfte es.
Der Briefträger reichte Auguste einen Brief herein: »An Ihnen!« Er reckte den Hals: »Na, wie steht's, Frau Badekow, immer noch flink uf de Beene?«
Er hatte Lust, ein Schwätzchen anzufangen, aber Auguste machte ihm rasch die Türe vor der Nase zu; sie hatte Paschkes Handschrift erkannt.
Nun war alles andere vergessen.
Er schrieb, er schrieb hierher?! Welche Unvorsichtigkeit! Aber er konnte sich das jetzt vielleicht kühn herausnehmen – »wer weiß, wie alles sich ändert« – er hatte eine bessere Stelle, er konnte ihr wieder so viel bieten, daß die anderen nichts mehr dagegen haben konnten. O, wäre das schön, wäre das schön! O Gott, wie glücklich wäre sie, könnte sie wieder bei ihm sein!
Klopfenden Herzens eilte sie die Treppe hinan, sie stürzte auf ihre Stube, sie preßte den Brief ihres Mannes fest an die Brust, sie lachte und weinte, mit bebenden Fingern zerriß sie hastig den Briefumschlag:
»Das ist im Leben häßlich eingerichtet,
daß bei den Rosen gleich die Dornen stehn.
Und was das arme Herz auch sehnt und dichtet,
zum Schlusse kommt das Voneinandergehn.
In deinen Augen hab ich einst gelesen,
es blitzte drin von Liebe und Glück ein Schein.
Behüt dich Gott, es wär so schön gewesen,
behüt dich Gott, es hat nicht sollen sein!
Teure Auguste!
Ich gebe Dich frei! Du sollst einem Unglücklichen nicht Dein junges Leben weihen. Ich habe die Scheidungsklage eingereicht, weil Du mich böswillig verlassen hast. So bringe ich das größte Opfer meines Lebens aus reiner Liebe zu Dir.
Wenn Du diese Zeilen erhältst, bin ich bereits in Amerika. Ich komme hier doch nicht voran. Weihe meinem Andenken eine Träne und dann vergiß
»An dem is 'n Pastor oder 'n Parlamentsredner verloren gegangen«, sagte Gottfried, als sein Schwager Johann ihm Paschkes Brief zu lesen gab. »'ne Salbe hat der Kerl, 'ne Salbe! Na, Jott sei Dank, wir sind 'n los!«
»Hat uns aber 'n schönes Stück Jeld jekostet«, brummte Johann. Er war verdrießlich und nervös erregt. Mit der Mutter stand es nicht gut, mit Auguste stand es auch nicht gut, – kenne einer die Frauenzimmer aus! Erst war es doch der Mutter einziger Wunsch gewesen, Auguste geschieden zu sehen – »Det möchte ick noch erleben«, und nun ihr Wunsch erfüllt war, saß sie da, hielt Auguste im Arm, und sie weinten beide in einem fort.
»Ach, Julius, Julius!« jammerte Auguste. Sie hatte erst gar nicht fassen können, was er schrieb. Nach Amerika – er war fort nach Amerika! Und sie sollte nun nicht mehr seine Frau sein?! Eine geschiedene Frau – eine Frau ohne Mann, ohne Kind – ach, wie schrecklich!
»Ob man es ihr nich lieber sagt, was der Paschke für'n Halunke is, daß er sich hat abfinden lassen mit fufzehntausend Mark?« sagte Johann. Es arbeitete in seinem Gesicht, er konnte es gar nicht mit ansehen, wie unglücklich seine Schwester war.
»Nee, nee, beileibe nich«, wehrte Gottfried. »Laß se lieber so weinen. ›Behüt dich Jott, es wär zu schön jewesen, behüt dich Jott, es hat nich sollen sein‹ – det sind immer noch süße Tränen. Nu pflanzt se Verjißmeinnicht auf dem Jrabe ihrer Liebe un bejießt se – laß se man dabei!« – –
»Weine dir man aus, Justeken«, sagte die Badekow zu ihrer Tochter. »Weine dir jetzt man ordentlich aus, denn kannste nachher wieder lachen!«
»Ich lache nie mehr!«
»O je, noch manchmal!« Die alte Frau lächelte wehmütig. »Wenn de vielleicht ooch nich jrade mehr laut lachst!«
Sie streichelte der Tochter die heiße Wange, und dann legte sie ihr die kühle Hand, die gar kein Gewicht mehr hatte, auf den zuckenden Scheitel: »Meinen Segen haste, Aujuste!«