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Einige waren vors Rathaus gezogen: Heringe, Heringe! Warum hatte der Bürgermeister nicht genug Heringe angeschafft?! Mit Stöcken und Schirmen war gefuchtelt worden, halbwüchsige Bengels hatten gepfiffen – Männer waren ja kaum dabei – die Weiber hatten, was sie gerade in der Hand trugen, in die Luft gereckt: Körbe, Muffen, Markttaschen. Es waren auch Rufe erklungen, drohende, verwünschende Rufe; aber sie waren vereinzelt geblieben.
Gott sei Dank! Hermine von Voigt sagte es sich mit einem Aufatmen. Das deutsche Volk war doch immer noch ein Volk, das von Glauben und Treue nicht abließ, wenn es auch einmal murrte. Murren – lieber Gott – das mußte man verstehen und verzeihen! In anderen Ländern würden sie toben.
Als ihr im Verkaufsraum die Masse der Unzufriedenen wie eine Welle entgegengeschäumt war, da war ihr zum erstenmal eine Ahnung gekommen von der Gewalt des Volkes. Wenn das erst anstürmt, aufgepeitscht, die Schranken niederreißt, dann hilft kein ›Ich bitte‹ mehr und kein befehlendes ›Zurück!‹ Und die Braven draußen? In jedem Brief rühmte ihr Mann den Geist der Truppen. Wenn die Weiber nur nicht klagen wollten in ihren Briefen! Das verdarb den Männern draußen die Laune und nahm ihnen den Mut. Verdenken konnte man es ohnehin keinem, daß er den Krieg satt hatte, diesen Krieg.
Schwere Gedanken, ein drohendes Heer, stürmten auf die einsame Frau ein. Sie fühlte es in sich aufsteigen wie heißes Gebet: daß sie doch alle, alle bedenken möchten, um was es sich handelte! Was war dem Volk Deutschland? War es ihm nur der Boden, auf dem es wohnte, der Acker, der es bisher ernährt hatte? War es ihm nicht die Quelle alles Daseins, nicht die tiefste Liebe seines Herzens, nicht die Mutter, deren Leben zu erhalten, das treue Kind sich selber zum Opfer bringt?
Die erregte Frau hob die Arme auf. Die sonst Beherrschte war heute nur Gefühl. Vom Himmel hätte sie etwas herunterreißen mögen: das, was jetzt allen nottat. Ratlos sah sie umher: ach, ein Ende, ein Ende! Aber wie?! Noch war kein Ende zu sehen. Angst erhob sich in ihr und durchrüttelte sie: Ein Jammer, ein nicht zu ertragendes Leid, wenn man nicht durchhalten würde! Wenn um ein paar Hände voll Schreier – Unzufriedene gibt es zu jeder Zeit, wird es ewig geben – Deutschland fallen müßte. Nein, das könnte sie nicht überleben!
Die sonst so Ruhige durchmaß mit großen Schritten das Zimmer, es peitschte sie hin und her. Leidenschaftliche Gefühle durchtobten sie. Aber stärker als all die lauten Stimmen, als Zweifel, Zorn, Angst und Anklage, tönte die zarte Stimme des Mitleids. Das flüsterte ihr in die Ohren: ›Hast du die vergrämten, blassen Gesichter gesehen? Diese Frauen, die dürftige Kinder zu Hause haben? Diese Leute, die nicht lernten, sich zu beherrschen wie du, deren manche nicht die Bildung besitzen, nicht den geschulten Verstand, um alles auch richtig aufzunehmen und zu verstehen. Diese Menschen, deren höchster Ehrgeiz es ist, sich einmal ein Dasein zu erringen, ohne tägliche Not, am Sonntag einen Spaziergang zu machen und zu guter Letzt im eigenen Bette zu sterben?‹
Hermine von Voigt schreckte zusammen: Gellte da nicht ein Schrei? Ja, das war der Schrei, der selbst den Schlachtenlärm übertönt! Immer lauter, immer gewaltiger wurde er, er schwoll an zur Donnerstimme des Orkans: dieser Schrei der ganzen Welt, die dem Untergang entgegengeht.
Untergang – Untergang –?! Ihre Gedanken jagten, sie wurde die Unruhe nicht mehr los. Sie war gepeinigt, ihr Ohr überreizt. In der Stille ihres Zimmers selbst glaubte sie etwas zu hören. Sie trat ans Fenster.
Aber ruhig lag die Straße unterm trüben Dezemberhimmel, lautlos fielen Schneeflocken wie weicher Flaum. Ein paar alte Frauen kehrten, ein paar Kinder fingen mit ausgestreckten Händen die Flocken auf. Das sah so friedlich aus, so zum Stillsitzen behaglich, zum Einschlafen ruhig. Aber über sie wollte keine Ruhe kommen. Vor ihre Augen traten die Gesichter, die sie ganz genau kannte, sah sie die doch fast täglich, wußte: das ist die, die den Mann draußen hat – die den Sohn – die hat fünf unmündige Kinder – jene sieben – die hier ist bescheiden – die da unbescheiden. Heute dünkten ihr die bekannten Gesichter noch blasser, noch niedergedrückter, noch erbärmlicher als sonst. Klang da nicht Weinen?
›Wieder ein Winter und noch kein Ende, der dritte Winter schon, den wir verbringen müssen mit Zittern und Zagen! Wiederum ein Weihnachten vor der Tür in trostloser Einsamkeit, ein Weihnachten, an dem unseren Kindern kein Lichterbaum brennt! Wir haben gehofft, Tage und Wochen und Monate – wir haben geweint, Tage und Wochen und Monate – was nun, was nun?!‹
Ein Beben kam über die Frau: oh, die Armen, die Armen! Wer konnte ihnen helfen, sie all ihren Kummer vergessen machen? Den Frauen ihre Männer, den Kindern ihre Väter wiedergeben? Ach, Tote werden nicht mehr lebendig. Was an Blut geflossen ist, wäscht kein Regen mehr fort. Aber können Tränen nicht linder fließen, kann nicht, kommt die rechte Sonne, auch auf verödeter Flur noch eine Blume erblühen?
Mit suchenden Augen sah die Unruhvolle hinauf zum trüben Dezemberhimmel. Etwas ganz Großes, ganz Unerwartetes mußte kommen, etwas noch nicht Geahntes – ein Wunder! Dann, dann konnte es besser werden. ›Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!‹ Die Zeit dazu wäre da.
Daß man doch jeden Tag so auf die Zeitung wartete mit Ungeduld! Die Generalin sah nach der Uhr: Noch war die Abendzeitung nicht da. Als ob so ein Stück Papier das bringen könnte, wonach die Seele verlangt! Man atmete freilich für Augenblicke freier, wenn man las, wie die Rumänen, am Argesul geschlagen, sich fluchtähnlich zurückgezogen hatten, wie es unaufhaltsam weiterging: Sinaia, Bukarest, Ploesti genommen. Das waren große Augenblicke. Aber doch nur Augenblicke. Der Krieg ging weiter, das Leid blieb dasselbe; es verschärfte sich noch mit jedem Tag, denn nicht mehr wurde es mit Geduld getragen. Wer hatte noch Geduld?! Fühlte sie denn nicht selber eine fieberhafte Unruhe in sich? Sie durfte andre nicht mehr schelten.
Der Generalin kam der Gedanke, noch nach Berlin zu fahren. Sie hatte plötzlich das Verlangen aus der Stille hier, die sie sonst liebte, herauszukommen. Diese Stille war heute fürchterlich, quälte sie, kam ihr vor wie Todesschweigen. Zu tun hatte sie nichts in der Stadt, sie konnte sich aber zu tun machen, etwas besorgen, und wäre es nur, um einmal durch belebtere Straßen zu gehen, um im Gedränge gezwungen zu sein, auf Äußeres zu achten und nicht immer nach innen zu lauschen. Sie entschloß sich rasch. Sie hatte eine wahre Gier, zu vergessen, durch irgend etwas abgezogen zu werden von peinigenden Gedanken.
Als sie in den Zug stieg, fand sie sich plötzlich im selben Abteil mit ihrem Nachbarn. Es war der Geheimrat. Sie erkannte ihn im halben Lichte kaum. Der sonst so Geordnete, peinlich Saubere sah so zerstört aus. Den Überzieher hatte er schief zugeknöpft, das Halstuch hing ihm mit langen Enden. Er schien die Generalin nicht zu sehen. Dicht saß er neben seiner Frau; die hatte sich ganz in die Ecke gedrückt, er blickte sie unverwandt von der Seite an.
Ach, die armen Leute, die hatten Sorgen! Frau von Voigt wußte: Die Söhne hatten die schweren Tage der heftigen Kämpfe in Wolhynien und der ersten Offensive an der Somme glücklich überstanden, aber der Ältere war dann aus Rußland nach Rumänien gekommen, und da ging es so rasch immer voran, daß eine Nachricht ihn wohl nicht erreichte und die Eltern nichts von ihm hörten. Der Jüngere hatte am 14. November zuletzt geschrieben; am Pierre-Vast-Walde wurde damals gekämpft – schwer –, es konnte sein, daß er dabeigewesen. Hoffentlich hatten sie jetzt etwas gehört?! Zu fragen traute sich die Generalin nicht. Es schwebte etwas um diese beiden Leute, das sie beunruhigte – oder lag es vielleicht nur an ihrer eigenen Stimmung? Noch überlegte sie – grüßen mußte sie doch wenigstens –, da erkannte der alte Herr sie.
Der Geheimrat fuhr mechanisch nach dem Hut, und dann sah er sie an, so seltsam trüb und geistesabwesend, daß es sie mit banger Ahnung durchzuckte.
Die Frau nahm gar keine Notiz von ihr; den altmodischen Kapottehut wie immer ein wenig zu weit vorgerückt auf dem angeglätteten Scheitel, starrte sie vor sich hin. Reglos saß sie. Aber die Hände hielt sie nicht ruhig im Schoß, unablässig zupfte die Rechte an den Fingern der Linken: »Eins – zwei – drei.« Murmelnd zählte die Geheimrätin. Und wieder: »Eins – zwei – drei.«
»Laß doch, Mutterchen«, sagte der Mann. Und dann bittend: »Liebe Anna!« Er legte seine Hand auf ihre Hände, hielt so die unruhigen Finger fest.
Was hatte die arme Frau nur? Die sah ja ganz verwirrt aus! Die Generalin fühlte ein plötzliches Entsetzen.
Der Geheimrat beugte sich zu ihr hinüber, er flüsterte ihr zu: »Wir hatten schlechte Nachrichten heute morgen – sie sind wohl beide tot.«
»Um Gottes willen!«
Der Vater nickte, es arbeitete zuckend in seinem Gesicht. »Der Hauptmann schreibt mir's. Unser Wilhelm wird vermißt. Pierre-Vast-Wald – seit 15. November. Mein anderer ist am Argesul gefallen. Das kam zu gleicher Zeit. Es war zuviel für Anna.«
»Eins – zwei – drei«, murmelte die Geheimrätin.
»Drei Söhne! Vor einem Jahr den ältesten; jetzt zwei. Meine arme Anna!« Traurig schüttelte der Greis den Kopf.
Frau von Voigt griff nach seiner Hand, sie hätte laut herausweinen mögen: Das ist zuviel! Zuviel! Sie biß sich auf die Lippen. Sagen konnte sie nichts, sie drückte nur diese arme Hand. Sie saßen sich stumm und bleich gegenüber, bis der Zug in Berlin einlief.
»Wohin wollen Sie? Kann ich Ihnen mit irgend etwas behilflich sein?«
»Wir wollen nach der Auskunftsstelle in der Kriegsakademie. Meine Söhne waren Offiziere – vielleicht daß dort doch Näheres bekannt ist. Sie wollte nicht ohne mich bleiben, durchaus mit mir gehen. Komm, liebe Anna!« Er faßte seine Frau unter den Arm. Die stand wie eine ganz Hilf- und Willenlose. Langsam schlorrend setzte sie die Füße.
Am Potsdamer Platz war ein großes Gedränge. Sie waren plötzlich in einer sich stauenden, aufgeregten Menschenmenge. Die Zeitungsverkäufer schrien und schwenkten ihre von der Druckerschwärze noch nicht getrockneten Extrablätter: »Friedensangebot der Mittelmächte!«
Was – was?! Hermine von Voigt glaubte zu träumen. Was schrien die Menschen: ›Deutschlands Friedensangebot?‹
Um sie her ein staunendes Atem-anhalten, dann leise, wie beginnende Flut, ein Murmeln, von Mann zu Mann, von Frau zu Frau. Ein Sich-anstarren, ein Stumm-mit-den-Augen-fragen: War's wirklich wahr, nicht bloß eine Sensationsnachricht? Nein, nein, da stand es ja zu lesen, amtlich beglaubigt, mit klaren Worten, aller Welt zur Kenntnis: ›Deutschland macht ein Friedensangebot.‹
Stand es so schlecht mit Deutschland, daß es Frieden machen mußte, um jeden Preis? Um Gottes willen! Die Generalin riß dem heisergeschrienen Zeitungsverkäufer das Blatt aus der Hand, ihre Blicke jagten über die Zeilen. Sie hatte den Arm der Geheimrätin fahrenlassen, mit beiden Händen hielt sie die Zeitung, die zitterte und knitterte, sie konnte die nicht ruhig halten. Sie wußte nicht, daß sie ganz laut las. Um sie drängten sich Menschen.
Heute vormittag zwölf Uhr war in Berlin, Wien, Sofia und Konstantinopel den Vertretern der neutralen Schutzmächte die Note zur Übermittlung an die kriegführenden Mächte der Gegenpartei überreicht worden:
Getragen von dem Bewußtsein ihrer militärischen und wirtschaftlichen Kraft und bereit, den ihnen aufgezwungenen Kampf nötigenfalls bis zum äußersten fortzusetzen, zugleich aber von dem Wunsche beseelt, weiteres Blutvergießen zu verhüten, schlagen die vier Verbündeten vor, alsbald in Friedensverhandlungen einzutreten.
Schlief sie und träumte einen glücklichen Traum? Hermine von Voigt faßte sich nach der Stirn, die Buchstaben tanzten ihr plötzlich vor den Augen, Himmel und Erde, der weite Platz und all die Menschen drehten sich um sie. Sie hatte das Gefühl einer gewaltigen Erschütterung und zugleich einer unbeschreiblichen Erlösung: Das war nicht der Notschrei eines Gemarterten, eines am Sieg Verzweifelnden, das war der vollbewußte, wohl überlegte Entschluß eines in seiner Kraft gefestigten, klar denkenden, trotz aller Widrigkeiten unaufhaltsam dem endlichen Siege Zuschreitenden.
Es war zu plötzlich gekommen. Aus der tiefsten Niedergeschlagenheit zu der höchsten Ermutigung – wer konnte so rasch mit?! Fassungslos starrte Hermine von Voigt auf die tanzenden Buchstaben. Und den Menschen um sie her ging es wie ihr; kein lauter Jubel, noch wagte sich keiner zu freuen. Nur wie ein Aufseufzen ging es durch die Menge, wie ein befreiendes Atemholen.
Was würden die Frauen sagen, all die armen Frauen, die Hunderte, die Tausende und Abertausende, die Mütter, die Gattinnen, die Bräute, die Schwestern, die Töchter? Hermine von Voigt überkam es auf einmal mit einer schier überwältigenden Hoffnungsseligkeit: Wäre es möglich, Friede? Oh, dann würde ein Lächeln die Gesichter erhellen, diese armen verdüsterten, betränten Gesichter!
»Nun gibt es Frieden«, sagte ganz laut jemand neben ihr. Der alte Geheimrat sprach es. Er legte seinen Arm um die Schulter seiner teilnahmlos, mit starrem Blick dastehenden Frau. »Anna, hörst du? Liebe Anna, unser Kaiser macht Frieden!«
»Frieden«, stammelte die Arme nach. Es waren nur die Laute, der Sinn noch nicht erfaßt. Dann aber, als sei ihr plötzlich mit diesem einen Wort die Besinnung zurückgekehrt, belebte sich ihr starrer Blick. Sie fragte: »Frieden?« Und dann stürzten ihr plötzlich die Tränen aus den Augen: »Meine Söhne! Oh, meine Söhne!«
Beide Hände um den Arm des Mannes faltend, hob die Mutter ihr leidverstörtes Antlitz auf zum Himmel. Und wiederholte: »Frieden!«