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15

Es war zuviel, zuviel. Gleich Hermine von Voigt warf sich auch Hedwig Bertholdi Nacht für Nacht rastlos in ihrem Bette. Ihre unruhvollen Gedanken schwirrten um die Söhne wie flügelschlagende bange Tauben, die sie mit deckenden Schwingen, ach so gern, behütet hätten. Erst die Söhne, dann das Vaterland – durfte ihr jemand das verargen? Sie fühlte sich nicht als Heldin. Es dünkte sie Sage von jener Frau des Altertums, die jubelnd den Tod des Sohnes pries, dem es vergönnt war, sich für das Vaterland zu opfern. Nein, mochte man sie klein schelten, sie mußte die Hände ringen und beten: Nimm alles, nimm, wenn es denn sein muß, Sieg, Erfolg, Gut, Geld, nimm mein eigenes Leben, nur meine Söhne erhalte, meine Söhne!

Ob nicht viele so dachten? Hinter manch großem Wort mochte sich ein kleinlautes Herz verbergen. War es denn überhaupt klein, wenn man zuerst für die geliebten Menschen zitterte und dann erst fürs Vaterland? Es war nur menschlich.

Voll bangender Unruhe war die Mutter sonderlich stets um Heinz. Sein letzter Brief hatte sie ganz verstört. Wohl war es wie Freude in ihr aufgekeimt, wie Stolz – was war er doch für ein mutiger und tüchtiger Mensch! –: Er hatte sein zweites Flugzeug abgeschossen. Erst so kurz bei den Fliegern, kaum fertig als Kampfflieger ausgebildet, und schon zum zweitenmal Sieger geblieben!

Er selber schien völlig unbekümmert, welche Sorge er denen daheim machte. Es war Jubel in seinen Zeilen: ›Das zweite Flugzeug, hurra! Das sind die glücklichsten Stunden meines Lebens!‹ Redete er ihr das vor, um sie zu beruhigen, redete er sich selber das vor? Höchstes Glück – war es wirklich Glück oder nur befriedigter Ehrgeiz? Die Mutter schüttelte den Kopf. Noch hatte sie ihm auf diesen letzten Brief nicht geantwortet, hatte ihn an ihren Mann geschickt; der Vater würde den Sohn vielleicht besser verstehen und die beglückten Worte finden, die jener hören wollte. Aber nun mußte sie Heinz doch auch schreiben; es wurde ihr schwer. Sie hätte rufen mögen: ›Halt ein! Es fliegt keiner ungestraft zur Sonne.‹ Aber durfte sie das? Nein, sie durfte ihn mit ihren Ängsten nicht stören. Ach, es würde ihr ja auch gar nicht gelingen, ihn zurückzuhalten. Wie ein Taumel schien es über ihn gekommen, wie ein Rausch: immer höher, höher! Immer mehr, immer mehr! Wenn sie doch nur jemanden hätte, mit dem sie sich darüber aussprechen könnte, der ihre sorgende Liebe – ihre kleine und doch so große Liebe – ganz verstehen würde!

Von Annemarie glaubte die Mutter sich nicht verstanden. Die hatte etwas zu Unbekümmertes; laut gejubelt hatte sie, als sie von den Erfolgen des Schwagers hörte. Aus dem Zimmer war sie geeilt: Das mußte sie gleich drüben bei Frau Rossi verkünden. Mit einem Lächeln, das wehmütig war und ein wenig bitter, hatte Hedwig ihr nachgesehen. Vielleicht würde Annemarie doch nicht so jubeln, wenn es ihr Rudolf wäre! Dann würde sich neben die Freude auch die Besorgnis stellen und würde so groß werden, daß sie die Freude zurückdrängte.

Lili Rossi war im Garten. Der große schattende Hut, der das zarte Gesicht gegen die Sonne schützte, verbarg das Erbleichen nicht, als Annemarie ihr zuschrie: »Was sagen Sie bloß? Heinz, das zweite Flugzeug!«

Das Herz stand ihr still. Sie hatte die Laufbahn der bekannten Flieger verfolgt: Die stiegen auf, landeten wieder – stiegen auf, kämpften, siegten und landeten wieder – einmal, zweimal, viele Male. Dann aber stiegen sie wiederum auf, kämpften, kämpften, und – landeten nicht glücklich mehr.

Lili schloß die Augen, die lachende Sonne blendete sie. Er würde auch fliegen, kämpfen, siegen, wiederum fliegen, kämpfen, wiederum siegen, bis – in plötzlicher Angst drückte sie die Augen noch fester zu.

So konnte die andere auch nicht sehen, was in ihnen flackerte. Annemarie sprach lebhaft weiter, sie war angenehm erregt: Nein, daß der Heinz so schneidig war! Von Rudolf hätte sie das natürlich immer gedacht, aber von Heinz! »Sie, Lili, hätten Sie ihm das zugetraut?«

Lili nickte stumm. Sie mochte nicht weitersprechen. Sie hatte sich immer gern mit der jungen Frau Bertholdi unterhalten, deren Zuversichtlichkeit und Munterkeit wie ein frischer Windhauch war, der die dumpfe Luft eines lange geschlossenen Zimmers durchstöbert; heute war es ihr nicht angenehm. Sie blieb einsilbig.

»Liebe Zeit, Lili, Sie sind ja heute so verstimmt, huh! Da mach' ich mich fort!« Annemarie lachte und lief ins Haus zurück, so schnell sie das noch konnte.

Frau Rossi blieb wie betäubt am Zaun stehen. Es war eine große Besorgnis in ihr, aber zugleich erhob sich auch ein großer Stolz – und dieser Mann liebte sie. Ob er sie noch liebte? Oder ob er sie vergessen hatte über seinen Flügen? Nein! Sie lächelte in sich hinein: Er hatte sie nicht vergessen, wie sie ihn nicht. Und wenn der Krieg nun zu Ende sein würde, wenn er glücklich wiederkehrte? Ihr Lächeln wurde stärker: Dann, oh dann! Ein betörendes Glücksgefühl überschauerte sie, sie atmete tief: Dann war es wieder eine Lust, zu leben. Dann war die Welt wieder schön.

Der Gartenkies knirschte, Frau Bertholdi stand am Zaun.

»Gnädige Frau, ich gratuliere, welch ein Erfolg!« Lili war gar nicht erstaunt über dieses plötzliche Erscheinen. Seine Mutter! Es war ihr so natürlich, daß die jetzt kam – zu ihr kam.

Sie streckte beide Hände über den Zaun, und die andere langte nach diesen Händen und behielt sie in den ihren.

Sie sprachen von ihm. Es kam Lili nicht in den Sinn, wie merkwürdig es eigentlich war, daß Frau Bertholdi so vertraulich zu ihr sprach, sie kannten sich doch eigentlich sehr wenig. Aber es floß wie ein Strom von der einen zur andern. Und Hedwig Bertholdi wiederum wunderte sich nicht, daß sie auf einmal alles, alles wußte:

Ja, die da und ihr Heinz! In quellender Zuneigung sah sie der blonden Frau tief in die Augen. »Wenn ihm nur kein Unheil widerfährt«, flüsterte sie.

»Es widerfährt ihm keins!« Lili strahlte sie an. Das sonnige Leuchten, das auf ihrem ernsten Gesicht erschien, machte sie schöner denn je. Eine Zuversicht war plötzlich in ihr auferstanden, von der sie vor kurzem noch nichts gewußt hatte, eine Zuversicht, so stark und groß, daß sie jedes Bangen erstickte. Wie hatte sie nur zuerst sich erschrecken können! Zwei Siege – nein, fünf, zehn – noch viele, viele mehr! Ihr Held, da stieg er auf zur Sonne. Und sie mit ihm. Glück, oh, welches Glück!

Sie beugte sich über den Zaun und küßte die zarten Hände, die die ihren noch immer hielten – das war seine Mutter!

 

Es war ein rechter Regensommer, das zeitige Frühjahr hatte so viel versprochen, das weitere Jahr es nicht gehalten. An der Somme lagen sie in Schlamm und Wasser. Und hier regnete es, regnete alle Tage. Wenn nur die Kartoffeln nicht mißrieten! So viel Nässe konnten die nicht vertragen. War der Morgen auch sonnig, gegen Mittag trübte sich der Himmel wieder, es kamen heftige Güsse, die das schon gilbende Korn niederlegten, daß es an manchen Stellen aussah wie niedergestampft.

Mit besorgter Miene stand der Geheime Rechnungsrat auf seinem Land. Das hatte er nicht geglaubt, daß es so schwer wäre, Landmann zu spielen. Er hatte immer gedacht, man brauchte nur was in die Erde zu stecken, dann wüchse es todsicher. Nun hatte er so viel Saatgut hier drin, eine Menge hatte es gekostet, und nun war noch nicht einmal so viel Ertrag, daß er seiner Frau täglich ein Gericht Frühkartoffeln auf den Tisch liefern konnte. Das Gemüse stand zwar üppig, aber was fängt man mit Grünzeug an, wenn man keine Kartoffeln dazu hat? Die faulten in der Erde.

Mit einem Seufzer buddelte der alte Herr. Daß es die Söhne nun doch so schwerhatten! Und er hatte sie doch schon in einer gewissen Sicherheit gewähnt! Die Russen rückten wieder jetzt in Massen vor, in Wolhynien tobten riesige Kämpfe – ach, und an der Somme! Er traute sich seiner Frau schon gar nicht mehr unter die Augen, wenn er die Zeitung gelesen hatte. »Was steht drin?« fragte sie immer hastig und sah ihn unruhig an. Ach, seine gute Anna, die war unheimlich nervös geworden! Wenn doch der Jüngste bald schreiben würde; sie hatten lange keine ausführlichere Nachricht von ihm. Nur vor acht Tagen eine Karte mit ein paar kurzen Bleistiftzeilen: ›Noch lebe ich. Seid tausendmal gegrüßt.‹ Die Mutter hatte die Karte immer bei sich. Die lag nachts auf dem Tischchen neben ihrem Bett, und wenn sie nähte, lag sie im Nähkorb vor ihr. Er hatte schon versucht, die wegzustecken, aber da war sie so außer sich geraten und hatte so verzweifelt gesucht, daß er sie ihr schnell heimlich wieder in den Nähkorb gelegt hatte. Ja, es war schwer für die Mutter – für alle Mütter –, eine furchtbare Zeit!

Der alte Herr versuchte sich mannhaft zu recken, aber es fiel ihm schwer. Nun war er pensioniert, hatte nach einer langen Beamtenmühsal, in der er nichts geatmet hatte als den Staub beengender Büros, gehofft, sich den Rest seiner Tage sorglos an seinen Söhnen erfreuen zu können – und nun kam dies. Wenn Anna nur besser schlafen könnte! Er schlief doch wenigstens ab und zu ein paar Stunden – so viel Schlaf hatte man in seinem Alter ja auch nicht mehr nötig –, aber sie schlief gar nicht. ›Mutter, na, wie steht's denn?‹ hatte er vor acht Tagen morgens noch immer zu sagen gewagt; das sagte er jetzt nicht mehr. Es war zu schlimm an der Somme. Wenn der Himmel doch wenigstens bald ein Einsehen hätte, den Regen aufhören ließe! Dieses ewige graue Naß machte noch trübseliger. Mit seinen etwas schwachsichtig werdenden Augen blinzelte der alte Mann rundum: alles wolkenverhangen, die Ferne wie ein Sack, es fing schon wieder an zu tröpfeln. Nun trommelte es ihm auf den kahlen Schädel. Ei, da mußte er doch wohl nach Hause eilen. Aber dann besann er sich: Sein Jüngster im Schützengraben wurde noch viel nasser. Und er blieb. Der Vater ließ den Regen über sich strömen und achtete ihn nicht, er jätete dabei all das wuchernde Unkraut aus. Die Brille hatte er absetzen müssen, sie war so beschlagen, daß er gar nicht mehr durchsehen konnte. Nun holte er sie endlich wieder aus der Tasche, putzte sie und setzte sie auf – der Regen hatte plötzlich nachgelassen. Siehe da! Die Sonne stahl sich sogar hervor und versuchte zu scheinen. Ordentlich warm und wie mattes Gold. Und da – oh, wie schön!

Ein Regenbogen war auf einmal zu sehen. Seine Füße standen im weißlichen Schwaden der durchtränkten Erde, seinen Bogen aber mit den leuchtenden sieben Farben schwang er hoch in den lichtblauen Äther.

›Meinen Bogen habe ich gesetzt in die Wolken, der soll das Zeichen sein des Bundes zwischen mir und der Erde. Und wenn es kommt, daß ich Wolken über die Erde führe, so soll man meinen Bogen sehen in den Wolken. Alsdann will ich gedenken an meinen Bund zwischen mir und euch.‹

Stand nicht so in der Bibel? Ein Bund zwischen Gott und der Erde! Der Bibelfeste nickte ganz verklärt, er konnte seine Augen nicht abwenden von den leuchtenden sieben Farben – das war ja der Bogen des Friedens, der spannte sich weit über alle Welt! In Grau und Graus war er erstanden, in klarer Sonne wölbte er sich jetzt. Nach der Sintflut das Zeichen der Versöhnung. Gott hatte seine Erde noch nie vergessen, er würde ihrer auch jetzt nicht vergessen. ›Solange die Erde steht, werden nicht aufhören Sonne und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.‹ Und – Krieg und Friede.

Friede, Friede! Der Vater lächelte. Beschwingten Schrittes eilte er heim, es drängte ihn, der Mutter, die um ihre Söhne bangte, Zuversicht zu bringen.

 

Der Bauer weiß: Auf Regen folgt Sonnenschein; aber der Bogen, der den Himmel so schön ziert, ist nur ein Künder weiteren Regens. Und es regnete weiter. Es war gut, sagte sich Frau von Voigt, daß sie so viel zu tun hatte. Wer sich erst hineingrübelte in das, was noch kommen konnte – ach, kommen würde –, der war verloren. Wieviel besser war es voriges Jahr um diese Zeit noch gewesen! Dachte man daran zurück, so glaubte man sich fast in Friedenszeiten versetzt. Da war es noch nicht so ängstlich um jedes Stück Brot gegangen, da hatten die Menschen noch so lange essen können, bis sie satt waren. Das konnten sie jetzt nicht mehr. Von Woche zu Woche wurde es knapper; man glaubte jetzt täglich die Einschnürung zu fühlen, die jeden, aber auch jeden zwang, mit den bescheidensten Lebensmitteln wie mit dem kostbarsten Gut umzugehen. Ein Glück, daß die Gemeinde sich entschlossen hatte, die Versorgung ihrer Mitglieder selber in die Hand zu nehmen. Was sie einkaufte im ganzen, verkaufte sie im einzelnen ohne Preisaufschlag; so war jeder Wucher ausgeschlossen und auch jede Bevorzugung. Ob hoch, ob niedrig, ob arm, ob reich, jeder bekam nur das, was er nach seiner Ausweiskarte zu beanspruchen hatte.

Hermine von Voigt, als Tochter des Landwirts, hatte sich manches großzügiger gedacht: Täte die Gemeinde nicht gut daran, selber Schweine zu mästen, Ziegen zu füttern, womöglich Kühe zu halten, Land zu pachten, so viel Land sie nur erwerben konnte, und das zu bestellen mit aller Kraft? Und zwar so schnell als möglich? Es war keine Zeit zu verlieren. Sie sagte das auch den Herren; und sie wurde gehört. Es war nicht die Stellung ihres Mannes allein, die ihr das Recht gab, aufzutreten, man fühlte wohl: Jetzt war die Zeit der Frau. Und nur die Frau mit praktischem Blick, mit der Erfahrung, die der eigene Hausstand der Hausfrau gibt, war dem gewachsen, vor dem die Männer hilf- und ratlos standen.

Es gab der Widrigkeiten genug. Nicht die kleinste Schwierigkeit lag in dem Verkehr mit den Käufern. Was hatten die Frauen doch immer zu klagen! Nun standen sie schon wieder ein, zwei Stunden und länger und waren noch immer nicht daran, und zu Hause schrien die Kinder, und das Essen sollte gekocht werden und Gott weiß was noch geschafft, und hatte man sich dann müde und matt in der Schwüle gestanden und kam endlich an die Reihe, dann wurde man noch angelassen, wenn man sich einen Augenblick überlegte, was man denn eigentlich hatte haben wollen. Die Kassiererin war auch gleich unwirsch: Konnten sie denn nicht mehr zusammenrechnen? Zwei mal zwei machte doch vier und nicht fünf. Man war gegenseitig unzufrieden miteinander.

»Geduld, wir müssen Geduld haben!« Hermine von Voigt seufzte. Es war oft schwer, das Geduldhaben, waren die Damen, die den Verkauf übernommen hatten, doch selber manches Mal müde zum Umsinken, die Füße taten weh und wurden kalt auf dem Keller-Steinboden des Verkaufsraums, während der Kopf glühte, benommen durch die beklemmende Ausdünstung von Waren und Menschen. Aber Geduld! Es war Krieg, und dieser Krieg bedeutete: Geduld haben.

»Wir dürfen nicht ungeduldig werden, wir nicht«, sagte ermutigend Frau von Voigt. »Kinder, hört doch einmal auf mit eurem Murren. Was sollte bloß werden, wenn's euren Männern draußen auch zuviel würde?!«

»Denen is's schon längst zuviel!« rief eine Stimme keck. Die vordersten lachten dazu, die anderen murmelten zustimmend: »Die wollen ooch nich mehr!«

»Das ist nicht wahr!« Die Generalin reckte sich, sie blickte über die Köpfe weg nach der Ecke, aus der die kecke Stimme gekommen war. »Traurig genug, wenn einer nicht mehr mag – es kommt aber nur daher, weil er nicht mehr kann. Aber ihr, ihr könnt noch. Ihr habt noch nicht Jahr und Tag im Schützengraben gelegen, ihr habt noch nicht dem Trommelfeuer standgehalten. Ihr habt euch noch alle Abend in euer Bett legen können. Ihr könnt euch noch waschen und die Kleider wechseln, euch frißt das Ungeziefer nicht. Ihr seht doch alle Morgen die liebe Sonne. Was das heißen will! Und wenn euch mal was quergeht und wenn ihr hier 'n bißchen länger stehen müßt, dann wollt ihr gleich aufbegehren? Schämt euch!«

»Es geht uns auch dreckig«, sagte eine. Sie stand dicht vor Frau von Voigt und sah ihr ins Gesicht; nicht frech, ganz ruhig. Und es klang auch nicht frech: »Was glauben Sie wohl, meine Dame, was schwerer is? Im Schützengraben liegen oder hier so drinne sitzen, daß man überhaupt kein Ende von absieht? So einer weiß doch: Nu kommt gleich 'ne Granate, und denn bin ich weg, weiß selber nich wie. Aber wir –? Warten, immer warten! 's kann noch 'n halbes Jahr dauern, vielleicht auch noch ein Jahr; keiner weiß, wann Ende is.«

Es zuckte in ihrem Gesicht, ihre ruhige Stimme wurde plötzlich heftiger: »Das is zum Verzweifeln! Wozu denn Krieg? Was haben wir getan, wir Frauen, die Kinder, daß wir hungern müssen?! Mein Ältester is bei Ypern gefallen, mein Mann is noch draußen, es is mir nich so schwer, als wenn meine Kleinste abends so weint und ich se nich satt geben kann!«

Nicht satt?! Hermine von Voigt starrte das blasse Weib an, dem die dunklen graudurchschossenen Haarsträhnen finster in die Stirn hingen. Sie war nicht imstande, etwas zu erwidern.

Die Blasse bekam das Viertelpfund Haferflocken auf ein Attest für ihr krankes Kind und ging; ohne Gruß.

»Die weiß nur nich, was sich gehört, gnädige Frau«, sagte Minka Dombrowski, die jetzt an die Reihe kam. »Se meint das nich so schlimm.« Ihre einschmeichelnde Stimme war eine reine Wohltat. Und es tat auch wohl, ihr freundliches Gesicht zu sehen. Aber so hübsch wie früher war das auch nicht mehr, weniger rund und nicht mehr so blühend. Sie hatte gleich die Karten vom ganzen Haus mit – sieben Parteien –; sie holte für alle. Es war eine lange Auseinanderrechnerei, eine umständliche Abfertigung; sie mußte jedes für jeden besonders haben, und dabei schwatzte sie. Es tat ihr zu leid, daß sie die gnädige Frau so bemühen mußte. Das gnädige Damchen sollte nur nicht verdrießlich werden. Aber sie hätte es der Nachbarin auf dem Flur nicht gut abschlagen können, die hatte den kranken Vater, den konnte sie nicht allein liegen lassen. Und das Fräulein, die Lehrerin, war in der Schule. Und die junge Frau unten lag in Wochen. Und die alte Frau daneben konnte nicht stehen wegen der Gicht. Und wenn die Leute ihre kleinen Kinder schickten, so wurden die immer hintenan gedrängt und kamen überhaupt nicht mehr nach Hause.

»Na, wird's nu bald?« fragte eine ungeduldig. »Sie denken wohl ooch, Sie haben's hier alleene jepachtet. Man voran!«

Die Dombrowski wandte sich empört um: »Schubsen Se doch nich so!«

»Ich schubse ja jar nich!«

»Doch schubsen Se!«

»Sie sind ja verrickt!«

»Nee, Sie!«

»Ruhe, ich bitte um Ruhe!« Die Generalin erhob die Stimme: Das ging nicht an, daß hier gezankt wurde.

Die beiden Weiber maßen sich mit drohenden Blicken. Eine allgemeine Reizbarkeit zitterte in der Luft. So war das früher nie gewesen; da hatte man sich leicht verständigt – eine kleine Anzüglichkeit, ein derber Scherz –, es wurde gelacht, und alles war wieder gut. Jetzt schien auch hier innen kein Friede werden zu wollen.

»Aber Frau Dombrowski!« Die Generalin kannte sie von früher her als eine gutmütige, leidliche Person, aber jetzt schien auch sie nicht Vernunft annehmen zu wollen. Ihre schwarzen Augen funkelten, ihre Nasenflügel bebten, sie atmete rasch.

»Die drängelt doch so – au! Lassen Se doch – was, kneifen? Unterstehn Se sich!«

Die Gegnerin lachte höhnisch: »So'ne! Will sich mausig machen, so'ne!«

Da kreischte die Dombrowski auf. Es wäre zu Handgreiflichkeiten gekommen, hätten die Nächststehenden die beiden nicht auseinandergedrängt. Jede hatte ihre Anhängerinnen und Verteidigerinnen. Minka Dombrowski weinte. Da stand sie nun, den hübschen Kopf gesenkt, an jedem Arm einen Korb, beladen mit den Siebensachen für das ganze Haus, überströmt von Tränen. Oh, daß sie sich so behandeln lassen mußte! Und sie tat doch niemandem was zuleide, und sie hatte den Mann im Feld – ach, ihren guten Mann! – und keinen sonst, der für sie sorgte! –

Es waren trübe Gedanken, die Hermine von Voigt im Kopf herumgingen, als sie heute nach Hause kam. Sie war böse auf die Weiber, die so unverständig die Zeit nahmen, die das Leid, das an ihnen fraß, in Groll ausließen gegen die Höherstehenden und in Unverträglichkeit gegeneinander. Und doch konnte sie ihnen wiederum nicht böse sein. Warteten sie nicht schon zwei Jahre auf ihre Männer, auf ihre Söhne, die draußen waren? Warten geht auf die Nerven. Sie wußte es ja von sich selber, wie es wirkt, wenn man lange warten muß; gar nicht von jetzt, nur von ganz gewöhnlichem Warten zu reden. Erst schickt man sich in Geduld, dann gähnt man, wird abgespannt, faßt nach der Stirn, fühlt eine allgemeine Mattigkeit; eine plötzliche innere Leere stellt sich ein, man vermeint umsinken zu müssen. Und dann kommt die Unruhe. Man sieht nach der Uhr: schon wieder eine Viertelstunde! Man springt auf, man läuft auf und ab, man seufzt, man fängt an sich zu beklagen, man ärgert sich, man wird aufgebracht, man hat kein Einsehen mehr, man ist nicht mehr derselbe Mensch, der man vordem war, man hält's nicht mehr aus. Und nun dieses Warten! Und zu der inneren Not die äußere!

Immer sah sie die Frau vor sich, der die finsteren Haarsträhnen in die blasse Stirn hingen. Und so waren viele. Ein Heer von müden, vergrämten, verbitterten Gesichtern stürmte gegen sie an. Und denen wollte sie zürnen? War sie denn nicht selber ihrer Zeit so müde, oh, so entsetzlich müde? Wenn ihr Mann auch draußen immerhin in einer gewissen Sicherheit war, wenn sie auch keine Söhne dabeihatte wie nebenan der alte Geheimrat und seine Frau, um die sie zittern mußte; wenn sie auch heute an einem Tisch saß, auf dem noch ein Abendbrot stand, von dem man satt werden konnte, wenn sie auch kein kleines Kind weinen hörte vor Hunger.

Sie seufzte und stützte den Kopf in die Hand. Da war sie neulich in Berlin gewesen, stundenlang war sie umhergelaufen, schwer beladen mit Paketen, sehr müde hatte sie zuletzt noch eine Droschke gefunden, die leer daherzockelte. Der eisgraue Mann auf dem Bock schien zu schlafen trotz des Gewirrs der Straße; das Pferd schien auch zu schlafen, einen Huf setzte es vor den andern so langsam, so zögernd, als klebe der Asphalt.

»Wo woll'n Se denn hin?« Der Kutscher schien nicht sehr erbaut über einen Fahrgast.

Sie hatte den Bahnhof genannt.

»Na, dahin wird's woll noch jehn. Was, Roland?«

Das Pferd senkte betrübt den Kopf, es hielt an.

»Sind se ooch nich zu schwer?« Mit mißtrauischem Blick hatte der Alte ihre Pakete gemustert. Nun ruckte das Pferd an, sie zockelten weiter. Langsam nur ging es, sehr langsam, sie wäre wohl ebenso schnell zu Fuß weitergekommen. Plötzlich hielt der Wagen. An der Ecke, wo früher ein Droschkenhalteplatz gewesen war; aber Wagen waren jetzt keine mehr da, nur das Schild: ›Halteplatz für sechs Droschken.‹

Was war denn, warum hielten sie hier an?

»Er will nich mehr«, sagte der Alte und kletterte steifbeinig vom Bock herunter. »Steigen Se man immer aus, meine Dame, nu jeht's nich weiter. Was sagste, Roland?« Er faßte das Pferd vorn bei der Kinnkette, das Tier hatte den Kopf geschüttelt. »Sehn Se, meine Dame, wenn er so schüttelt, dann weeß ick Bescheid. Denn sagt er: ›Nee.‹ 'n jutes Tier, 'n jeduldiges Tier. Aber was zuviel is, is zuviel. Kann man denn ooch verlangen, det er rennen soll den janzen Dag die weiten Wege mit man een Pfund Hafer in'n Bauch? Kartoffelschalen soll ick verfuttern, Rüben, so allerlei – 'n Pferd is doch keen Schwein. Was, Roland?« Er klopfte sein Tier. Ohne sich zu regen, stand das da mit hängendem Kopf, mit hängender Mähne, mit hängendem Schwanz, mit hängenden Ohren, ein Bild der Trauer. Nun hatte sie erst gesehen, wie entsetzlich mager es war, man konnte die Rippen zählen.

Warum ihr nur jetzt dieses arme verelendete Tier wieder einfiel? Gut, geduldig – aber was zuviel ist, ist zuviel! –

Es litt sie nicht mehr allein in der Wohnung. Das Mädchen, das abräumte, wunderte sich, wie wenig Exzellenz gegessen hatte. Hermine von Voigt fühlte eine quälende Unruhe: Wenn das gute, geduldige Tier nun nicht mehr wollte? Jetzt galt es, Menschen zu finden, die mit weicher und doch strammer Hand die Zügel führten. Nur keinen Frieden aus der inneren Not heraus! Nur keinen Frieden machen müssen nach außen, weil die innen nicht mehr wollen! Sie seufzte schwer: Um Gottes willen, nur so einen Frieden, so einen nicht!

Sie ging zu Lili. Als sie am Haus des Rechnungsrats vorbeikam, an dieser kleinen geduckten Villa, der man es förmlich ansah, wie mühsam die Groschen zusammengespart waren, von denen sie erbaut war, sah sie die Läden geschlossen. Verreist waren die Leute nicht – war jemand krank? Totenstill lag die kleine Villa; selbst der Kanarienvogel, der sonst schmetterte, schmetterte nicht. Auch im Gärtchen, in dem an solchen Abenden wie heute der alte Herr sich eine Zigarre vergönnte, war niemand. Es wehte etwas her von dem totstillen Haus, das ihr ein Gefühl der Beklemmung verursachte. Ach, die armen Leute, die mußten in einer ständigen Angst leben: Wolhynien und die Somme! Um welchen Sohn mußten sie wohl in der größten Sorge sein?!

Bei Lili war es auch still, aber es war eine andere Stille. Es lag etwas über der jungen Frau, das die Mutter lange, lange nicht an ihr wahrgenommen hatte. Ein stilles Leuchten schien da zu sein, von innen herauszustrahlen mit einer lautlosen, aber tief erwärmenden Kraft. Die Mutter war verwundert: Solch ein Empfang war ihr lange nicht geworden. Sie war oft gekommen, zehnmal öfter hierher, als die Tochter zu ihr gekommen war, und immer hatte sie das gleiche, müde, entsagungsvolle Wesen gefunden, das sie mit tiefer Wehmut erfüllte.

Heute aber fiel ihr Lili um den Hals. Und gab ihr Küsse und schmiegte sich an sie, wie sie's als kleines Mädchen getan hatte, wenn sie so recht von Herzen froh war. Frau von Voigt fragte nicht: Was macht dich so froh? Wenn Lili ihr's erzählen wollte, würde sie es schon tun; vielleicht aber hatte sie gar nichts zu erzählen, wußte es selber nicht, wie sehr ihr Wesen verändert war. Kam jetzt endlich die Zeit, in der die gequälte Seele sich löste aus ihren Kämpfen, in der die Jugend wieder aufwachte und neben der Trauer ihr Recht fand?

Lili hatte sich ein Herz gefaßt – sie hatte an ihn geschrieben. Wenige Zeilen nur, einen Glückwunsch. Lange hatte sie überlegt: Sollte sie es tun, sollte sie es nicht tun? Seine Mutter würde ihn ja von ihr grüßen – wenn sie ihm nun selber einen Gruß schrieb, war das nicht ein zu großes Entgegenkommen? Sie hatte ihn beim Abschied gebeten, sie etwas von sich hören zu lassen, er hatte es nicht getan – war das nun nicht zuviel, daß sie nicht länger auf ein Zeichen von ihm wartete? Vergab sie sich etwas? Nein! Mit einem entschlossenen Lächeln hatte sie sich zum Schreiben niedergesetzt: Jetzt war nicht die Zeit für kleinliche Äußerlichkeiten. Wer weiß, wie lange man noch einem Mann zeigen konnte, daß man ihn liebte!

Und sie schrieb zu seinem Erfolg einen Glückwunsch: Worte, auf die ihre Tränen fielen und ihr Lächeln, daß sie betaut und besonnt waren wie blühende Rosen des Sommers.

Seitdem war sie froh, von einem tiefen, zuversichtlichen Glücksgefühl beseelt. Er würde sie ja verstehen. Und nun wartete sie auf einen Dank von ihm, der nicht ausbleiben würde, bald kommen würde – bald!

Frau Krüger wunderte sich, daß sie ihre Mieterin singen hörte. Das hatte sie gar nicht gewußt, daß die auch singen konnte. Hell klang es durch die Zimmerdecke:

»All mein' Gedanken, die ich hab,
Die sind bei dir –«

Die Krüger nickte: Das kannte sie, das war ein altes Lied, das hatte auch sie mal gesungen. Es war schon lange her. Nun war es ihr fast beleidigend, daß die da oben sang – wer mochte jetzt singen hören! Aber dann lauschte sie doch den Worten: ›All mein' Gedanken, die ich hab, die sind bei dir –.‹ Wenn der Gustav nicht bald etwas von sich hören ließ, überkam sie die Verzweiflung. Sie hatte jetzt zuweilen Stunden, in denen sie ihr fester Glaube verlassen wollte. Es waren furchtbare, grausige Stunden. Gegen die half auch das Arbeiten nicht mehr. Legte sie sich auch wie zerschlagen vor Müdigkeit ins Bett, wenn die Gedanken kamen, auf ihrem Bettrand hockten als böse Geister, sie plagten, herumzerrten, hin und her warfen, dann pochte ihr Herz zum Springen. Ihr Kopf war wüst, ihre Gedanken irr. Sie hörte allerhand, was nicht da war: ein vorsichtiges Tappen – war draußen der Gustav? Kam er leise, so leise ins Haus, um sie nicht aufzuwecken? So war er damals geschlichen, wenn er von der Hieselhahn kam!

Sie fuhr aus dem Bett, sie stürzte an die Tür: »Diebe!« Wollten sie jetzt auch hier ausräumen, wie sie schon bei vielen ausgeräumt hatten? Aber sie sollten sehen, daß auch eine einsame Frau sich nicht fürchtet. »Kommt nur mal her!« Mit drohender Miene stand sie in ihrer Stubentür. Einen Stuhl hatte sie hochgehoben mit starken Armen, den wollte sie dem ersten auf den Schädel schmettern. Nicht anrühren sollten sie ihr etwas von den Vorräten, die mußten alle, alle für Gustav bleiben. Damit er satt hatte, wenn er wiederkam.

Sie selber gönnte sich nichts. Sie spürte auch keinen Hunger. Wenn andere klagten: das Brot mache nicht satt mehr, zu wenig Kraftmehl sei drin, lauter Ersatz, hatte sie nur ein verächtliches Lächeln. Was brauchten sie sich denn den Bauch so vollzuschlagen – hatte Gustav denn wohl immer satt?

Wenn sie nur nicht so ganz allein gewesen wäre! Nach solchen Nächten, in denen die Furcht vor Dieben sie umtrieb, daß sie bis in den Keller hinunterstieg, ihre Vorräte nachzuzählen, daß sie in den Stall zu Ziege und Schwein, zu Kaninchen und Hühnern lief, in den Garten zu Obst und Gemüse – die Nacht war finster, sie tappte mit ihren Händen die Beerensträucher ab, noch war alles dran – nach solchen Ängsten fühlte sie, es taugte ihr nicht mehr, allein zu sein. Aber die Furcht vor der Finsternis ihrer Gedanken war die größeste.

Sie hatte gehört, die Hieselhahn war wieder mehr hier in die Nähe gezogen. Nun paßte sie auf: Kam die nicht mal am Haus vorbei? Aber die kam nicht. –

Wenn Gertrud jetzt zur Arbeit fort war, spielte ihr Kleiner beim alten Richter. Die Frau setzte den Blöden, wenn das Wetter nicht gar zu schlecht war, immer vor die Haustür. Da saß er denn mit seinem langen weißen Bart Stunden und Stunden auf seinem Stuhl, und die Kinder, die vorbeiliefen, zupften ihn am Bart. Er war ein Kinderspott. »Haste Hunger?« fragten sie ihn. Dann nickte er. Sie hielten ihm einen Stein hin: »Willste?« Dann griff er zu, biß hinein, spuckte und stammelte: »'ne Stulle, Mutter, 'ne Stulle!«

Das sah der Kleine mit an, und in seinen großen blauen Augen dämmerte schon etwas wie Verständnis. Er spielte, machte Häufchen von Erde, die er mit seinen kleinen Fingerchen zusammenkratzte, oder er saß auch ganz still vor den Füßen des Alten und streichelte sein hölzernes Pferdchen.

So sah ihn die Krüger. Sie war nicht ganz zufällig hier vorübergegangen; nun blieb sie stehen.

»Ist das der Hieselhahn ihr Junge?« fragte sie den Alten. Der gab keine Antwort, starr sah er an ihr vorbei. Was fragte sie den alten Simpel denn noch, sie wußte es ja, daß das der Kleine war: Gustavs Augen, so schön, so blau! Sie bückte sich zu dem Kind und hob mit ihrer großen Hand sein kleines Gesicht. Lange sah sie hinein. Dann seufzte sie und ging fort. Aber sie kam wieder, schon am nächsten Tag. Nicht immer traute sie sich nahe heran, blieb oft in einiger Entfernung stehen und beobachtete das Kind. Wenn es lachte, lächelte auch sie; sie war ganz entzückt. Es war merkwürdig, seitdem hatte die Krüger nicht so böse Nächte mehr. Wie Beruhigung war es auf sie herabgeflossen: Sah sie denn da nicht schon etwas vom Gustav? Wenn sie doch sein Kind nur immer bei sich haben könnte, was gäbe sie darum! Aber sie, die sonst so Energische, war jetzt scheu vor der Hieselhahn. Das Mädchen war ihr nur einmal begegnet, aber sie waren aneinander vorbeigegangen ohne Gruß. Die Mutter hätte gern gegrüßt, sie lauerte nur darauf, aber die andere tat, als kenne sie sie nicht. Und die hatte sie doch erkannt, die wollte nur nicht. Dabei tat der Krüger das Herz weh: Wie sah die aus – schmal, blaß, schier verhungert. Der ging's schlecht!

 

Wem ging es jetzt nicht schlecht? Selbst Minka Dombrowski hatte nicht mehr das unbekümmerte Lachen. Sie war immer noch ganz zufrieden, aus dem Haus da draußen fort zu sein – es war ja auch viel mehr Leben hier mitten im Ort, sie brauchte auch nicht mehr so weit zu laufen, wenn sie schwatzen wollte –, aber es war doch hart, daß sie selber nun gar keine Kartoffeln gebaut hatte, kein Gemüse, gar nichts. Jetzt ging ihr das weiße Kleid, in das sie sich voriges Jahr mit Gewalt zwängen mußte, bequem zu. Aber sie zog es nicht an. Wozu auch? Es hatte nicht Zweck, sich anzuputzen: Sie hatte keinen, und sie wollte auch keinen mehr. Sie hatte genug von dazumal. Wenn sie daran zurückdachte, bekam sie das Schaudern immer noch. Ihr Mann ließ nichts von sich hören. Sie schämte sich schon vor den anderen Frauen; wenn die fragten, mußte sie lügen. Ach, war das gräßlich! Es war alles gräßlich. Die Kinder waren immer hungrig, das Geld flog nur so, sie würde sich doch entschließen müssen, wieder zu arbeiten. Aber was? Wasch- und Reinemachestellen? Puh, das mochte sie nicht. Munitionsfabrik? Man verdiente da wohl viel; sie kannte welche, die hatten früher nicht ein ganzes Hemd gehabt, jetzt raschelten sie sonntags mit seidenen Unterröcken, hatten Blusen mit Spitzen an und echte Reiher auf den Hüten. Das könnte ihr schon gefallen. Aber schwer war's in so einer Fabrik, und gefährlich sollte es auch sein, und das mochte sie nicht: ihr Leben, ihr teures Leben! Für das bangte sie; und für ihre Schönheit. Sie bekamen alle bald fahle Haut. Da könnte es ihr schon besser passen, als Kutscherin auf dem Bock zu sitzen; man thronte hoch oben und schwippte mit der Peitsche, hatte den weiten Mantel des Postkutschers an und seine Mütze schief auf der Frisur. Das stand gut. Aber dazu mußte man das Fahren erst erlernen und das Mit-Pferden-umgehen. Auch das Amt einer Schaffnerin auf dem Bahnhof hätte ihr wohl angestanden; Türen auf- und zumachen, ›Platz nehmen‹ schreien, ›Aussteigen‹ und ›Abfahrt‹; das war kein mühseliges Geschäft, und wenn sie sich in den Hosen dachte, die nur bis zum Knie reichten, wurde sie rot vor Vergnügen. Sie konnte ihre Beine wohl sehen lassen – Staatsbeine! Aber als sie sich meldete, waren alle Stellen besetzt; es kamen erst die daran, deren Männer oder Väter früher diesen Posten bekleidet hatten. Mit kritischem Blick musterte sie das vorhandene Beinwerk; auf ihr gutmütiges Gesicht kam dabei ein belustigtes Lächeln: krumm und schief, zu dick oder zu dünn – ja, ihr reichte keine das Wasser!

Nun wartete sie vorerst ab und tat nichts. Aber zufriedener wurde sie dabei nicht, im Gegenteil, immer weniger vergnügt. Wenn sie ihr bißchen Haushalt besorgt hatte, die Kinder in der Schule waren oder auf der Straße spielten, wurde ihr's ganz beklommen. Der Schweiß brach ihr aus. Was wohl ihr Stanislaus machen mochte? Man hörte jetzt so viel von der Schlacht an der Somme; die war über alle Maßen schrecklich. Sie sah ihren Mann dabei mit rollenden Augen, den Mund wütend verzerrt, in der erhobenen Hand blinkte das Messer; er sah aus wie ein Wilder. So, so hatte er auch vor ihr gestanden. Es grauste sie, aber es grauste sie nicht vor ihm, sondern für ihn. Oder ob er jetzt gegen die Rumänen focht? Und wenn er nicht fiel, wenn es Friede wurde und er wiederkam – was dann?! Eine furchtbare Angst beschlich sie, sie war verzagter Stimmung.

In solcher Stimmung kam sie eines Sonntags zur Hieselhahn. Sie hatten sich wenig mehr gesehen, nun fand die Dombrowski das Fräulein recht mager, förmlich gealtert. Sie hatte der anderen die Ohren vollklagen wollen, nun fand sie, daß die eigentlich noch mehr zu klagen hätte.

Aber Gertrud klagte nicht, dessen hätte sie sich geschämt. Sie kniff die blassen Lippen zusammen, daß ihr nur nichts entschlüpfte, nicht daß sie Hunger litt, nicht daß sie hereingefallen war mit der neuen Wohnung.

Die Richter hielt nichts von dem, was sie versprochen hatte. Wenn das Kind weinte, ließ sie es weinen, sie kümmerte sich nicht einmal um ihren alten Mann. Wo er saß, da ließ sie ihn sitzen. Die Frau war des Lebens müde geworden in diesem Krieg – alle Söhne weg, wer weiß, ob einer von ihnen je wiederkam?! Sie war verdrossen und teilnahmslos.

Da hatte Gertrud es draußen in der entlegenen Behausung trotz alledem noch besser gehabt. Mit einer Art von Freude begrüßte sie Minka Dombrowski. Auch sie fand, daß die andere gealtert war.

Von der Kirche läutete es zu einem Begräbnis, man hörte Musik; wieder wurde ein Soldat beerdigt, schon nahte der Zug. ›Jesus, meine Zuversicht‹ tönte voraus. Minka stürzte ans Fenster: Wie hübsch man das alles hier sehen konnte! Sie hing mit halbem Leib überm Fensterbrett. »Feine Kerle dabei!« Aber als sie sich dann wieder zurückwandte, sah Gertrud Tränen in den blitzenden Beerenaugen.

Stumm saßen sie dann beieinander; der Zug der Soldaten, die den toten Kameraden geleiteten, war vorüber, aber auf dem Bahndamm ratterten und rasselten und sausten endlose Züge – Fernzüge, Nahzüge – das Leben ging weiter. Dazwischen deutlich die Klänge: ›Ich hatt' einen Kameraden‹ – Lokomotivenpfiff, Dampfgeschnaube –, ›Wie sie so sanft ruhn‹ – nun ein flotter Marsch. Sie kamen schon wieder vom Begräbnis zurück.

»Ich könnte das nich immer so mit anhören«, sagte die Dombrowski. »Oh Jesus!« Sie schauderte. »'s is schon schlimm genug, daß man später mal selber sterben muß. Und nu immer den Kirchhof so vor der Nase – nee, Fräulein!«

»Mir macht es nichts aus.« Gertrud lächelte traurig. »Ich habe früher beim alten Kirchhof gewohnt – meine glücklichste Zeit –, nun hier beim neuen.« Sie seufzte tief. Das war das einzige, was sie über sich selber sagte. Sie ließ die Dombrowski von sich reden.

Und die redete; es erleichterte sie. Das Fräulein hörte sich geduldig alles mit an. Zum Schluß redete Gertrud ernstlich zu: Wenn die Dombrowski arbeiten würde, so würde sie sich sicher viel besser fühlen, das Zuhausesitzen und Nachdenken, das taugte ihr nicht.

Na, denn würde sie sich schon mal umsehn nach was! Minka Dombrowski versprach es lachend; sie war nun schon ganz getröstet, umarmte Gertrud und ging lachend fort.

Wie schon einmal, damals, als jene losgezogen war im weißen Kleid, sah Gertrud ihr nach, fast neiderfüllt: Wer doch auch so sein könnte!

Die Straße des letzten Ganges, den Kirchhofsweg, tänzelte die Dombrowski hinunter, sie wiegte sich in den Hüften. Das bißchen Aussprache hatte ihr wohlgetan, schon war sie wieder die schöne Minka. Ihre Wangen blühten rot, ihre Augen glänzten. Ein Mann, der an ihr vorbeiging, drehte sich um. Sie sich auch. Sie sah es, dem gefiel sie, das machte ihr Spaß und hob sie vor sich selber. Ehe die Straße eine Biegung machte, blieb sie stehen und winkte nach Gertrud zurück. Ein leichtsinnig-fröhliches Lächeln spielte um ihre Lippen. Sie schrie, daß es weithin hallte: »Auf Wiedersehn!«


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