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9

Bei Bertholdis traf ein Brief von Frau von Loßberg ein. Sie bat, man solle es Annemarie schonend mitteilen, daß der älteste Bruder, der schon vor längerer Zeit auf den Balkan abkommandiert war, in Mazedonien am Vardar vom Typhus befallen worden sei. Er hatte zwar schon selber aus dem Lazarett in Sofia geschrieben, aber seine Schrift war so zittrig, wie verlöschend, daß man die früher so kräftige Hand gar nicht wiedererkennen konnte. Frau von Loßberg schrieb ganz ruhig. Dieser Älteste war der Stolz ihres Mannes gewesen, ein tüchtiger Offizier mit glänzenden Aussichten. Es würde schon wieder besser mit ihm werden, im großen bulgarischen Lazarett war er gut aufgehoben, die Königin selber hatte dem deutschen Offizier Blumen geschickt und Wein. Aber die Kämpfe in Mazedonien würde er wohl nicht mit zu Ende führen helfen, und das schmerzte die Mutter für den Sohn.

Annemarie weinte, als Frau Bertholdi ihr den Brief mitteilte: ihr lieber, guter, schöner Jörg! Aber dann tröstete sie sich bald wieder: Es ging ihm ja schon besser. Ihre Gedanken waren mit anderem beschäftigt und ihr Herz auch.

Was sich anfänglich wie ein Spiel angelassen hatte, schien rasch Ernst werden zu wollen. Fünf Tage war Rudolf Bertholdi erst hier, und schon glaubten die beiden zu wissen, daß sie sich angehören müßten, angehören fürs Leben. Noch hatte er nicht zu ihr gesprochen, aber seine Blicke, die sich an sie hängten, sagten es ihr deutlich. Sie wartete nur darauf, ihm an den Hals zu fliegen. Sie war ohne Nachdenken, ohne Besinnung, alles fieberte an ihr. Mit Entsetzen ging sie abends zu Bett: Wieder ein Tag vorbei! Er hatte nur vierzehn Tage Urlaub. Ein heißer Blutstrom durchschoß sie, mit dem ganzen Leichtsinn ihrer achtzehn Jahre schob sie alle anderen Gedanken von sich, es gab für sie keine Bedenken, sie dachte überhaupt nicht nach. Ein rosenroter Schimmer übergoß ihr die Tage: So würde es bleiben, ewig, ewig.

Wenn Rudolf Bertholdi noch nicht zu dem Mädchen gesprochen hatte, das ihn das schönste und beste auf Erden dünkte, so war es nur ein kleiner Rest von Besinnung noch, der ihn zurückhielt: Er war noch so jung. Die Emilie nahm ihm diesen letzten Rest. Er sah sie weinen.

Emilie weinte schon all die Tage. Sie bemühte sich zwar, ihre Tränen vor der Herrschaft zu verbergen, zumal vor Herrn Bertholdi, aber als dieser wieder abgereist war, tat sie sich nicht mehr den gleichen Zwang an, die gnädige Frau wußte ja schon um ihren Kummer. Und die jungen Herren würden nichts davon bemerken, die hatten beide ihre Augen woanders. Aber Rudolf fragte. Das Mädchen war schon ein paar Jahre im Hause, es hatte ihm oft geholfen, einen dummen Knabenstreich zu verbergen; früher hatte sie immer lachend ihre weißen Zähne gezeigt, nun fiel ihm ihre Veränderung doch auf. Emilie schämte sich – die volle Wahrheit konnte sie doch einem so jungen Menschen nicht sagen. So erzählte sie ihm denn, wie sehr sie sich gräme, daß sie ihren Schatz nicht geheiratet hätte, ehe der in den Krieg zog. Nun hatte sie Tag und Nacht keine Ruhe und die ewige Sehnsucht nach ihm. Ach, die Sehnsucht! Und dabei füllten sich ihre Augen wieder mit Tränen.

Mitleidig sah der junge Mann sie an: Das hübsche Gesicht war schmal geworden, lange nicht mehr so rund und frisch. Und dann nickte er verständnisvoll. Ja, das war dumm von ihr gewesen, sehr töricht. Wenn man sich so liebhat, heiratet man sich eben. Sinnend sah er einen Augenblick vor sich nieder, über sein noch fast knabenhaftes Gesicht mit dem sprossenden Flaum jagten allerlei Empfindungen; dann richtete er sich auf mit einem Ruck wie in einem fest gefaßten Entschluß. Mit beiden Händen zog er den Uniformrock stramm, und dann ging er raschen Schrittes aus dem Zimmer – wo war Annemarie? –

Die Mutter saß allein in ihrem Zimmer, ein wehmütiger Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. Nun waren die Söhne da, ihre beiden Jungen – wie hatte sie sich gefreut! Und nun war es doch nicht so, wie sie es sich gedacht hatte. Sie zog die Stirn kraus, ihre Augen blickten finster: Annemarie hatte sich zwischen sie und ihren Jüngsten gedrängt. Er hatte nur Augen für das Mädchen. War Annemarie nicht im Zimmer, wurde er unruhig, brach das Gespräch ab, ging ihr nach. Hatte er denn so wenig Liebe für seine Mutter, daß er das fremde Mädchen, das er erst so wenige Tage kannte, ihr vorzog? Heiß wallte es in ihr auf. Heut war sie nicht sanftmütig, heut war sie zornig: Es war unzart, unbescheiden von Annemarie. Nie hätte sie das von der erwartet. Wenn Rudolf wieder fort war, würde sie ernst mit ihr darüber sprechen.

Hedwig Bertholdi fühlte nicht, daß sie ungerecht war. Es bäumte sich in ihr auf gegen das Mädchen, das sie vordem doch so verwöhnt hatte. Wenn Annemarie dem Sohn nicht entgegengekommen wäre, würde der gar nicht so sein. Aber war es nicht natürlich, daß ein junger Mensch den Kopf verliert, wenn man ihm solche Augen macht? Als er in den Krieg zog, war er noch das reine Kind gewesen, er hatte vordem kaum Gelegenheit gehabt, sich mit Mädchen zu beschäftigen – dieses hier war ja auch die reine Kinderei, Gott sei Dank! Es war gut, daß das Zusammensein der beiden nicht mehr allzu lange dauerte.

An was die Mutter sonst mit Schrecken gedacht hatte, dem sah sie jetzt mit einer gewissen Beruhigung entgegen: dem Ende des Urlaubs. Dann hatte auch die Sache ein Ende. Und sie beschloß, sich in Geduld zu schicken.

Mit dem Bestreben, den Sohn ihre Enttäuschung nicht merken zu lassen, lächelte sie ihm entgegen, als er jetzt zu ihr ins Zimmer trat. »Nun, mein Junge, kommst du auch mal ein bißchen zu mir?« Sie wollte ihn neben sich ziehen, auf den weichen Diwan.

Er aber setzte sich ihr gegenüber. Sein Gesicht glühte, es strahlte etwas aus seinen Augen, das sie stutzig machte.

»Nun?« Sie sah ihn erwartungsvoll an. Er hatte zum Sprechen angesetzt und dann doch wieder geschwiegen. Es wurde ihr unbehaglich. »Was willst du denn?« fragte sie ein wenig gereizt. War sie denn zum Fürchten, daß er sich nicht mit der Sprache heraustraute?

»Was ich will? Ja, ich will etwas!« Er neigte sein glühendes Gesicht gegen sie, seine Augen suchten bittend die ihren: »Mutter, Annemarie und ich lieben uns. Wir haben uns eben ausgesprochen – sie will mich, ich will sie. Ich will sie hereinrufen.« Er wollte zur Tür eilen.

Sie sprang auf und hielt ihn zurück: »Nein, nein, laß!« Und dann fuhr es ihr heraus, herb gegen ihren Willen: »Kein Wunder, daß ein junger Mensch sich verliebt, wenn man ihm so entgegenkommt! Mein Sohn, du wirst dich noch oft verlieben. Das geht vorüber – ein Jugendtraum – eine Kinderei!«

»Nein, das ist es nicht!« Seine Röte stieg, er wollte auffahren, aber er bezwang sich. »Wir sind alt genug, um zu wissen, was wir wollen«, sagte er mit erzwungener Kühle. »Ich möchte dich bitten, das Wort ›Kinderei‹ nicht zu gebrauchen, Mutter. Ich bin auch nicht verliebt, wenn du es auch so nennst. Es ist ein ganz anderes, ein großes Gefühl, das mich erfüllt. Das uns beide erfüllt. Uns ewig erfüllen wird. Wir sind uns darüber völlig klar. Und da ich jetzt bald wieder fort muß, möchten wir uns kriegstrauen lassen.«

Kriegstrauen, kriegstrauen –! Ein paar Tage nur sich kennen und sich dann gleich trauen lassen?! Die Mutter starrte den Sohn an.

Er sah in ihren Augen mehr als grenzenloses Erstaunen: ein förmliches Entsetzen. »Es ist eine Überraschung für dich, nicht wahr? Aber, Mutter –« er faßte sie um, wie er sie als Knabe umfangen hatte, wenn er ihr etwas abschmeicheln wollte –, »du brauchst darüber doch nicht so – so nun, so verwundert zu sein. Manche brauchen Wochen, Monate, um sich kennenzulernen, wir liebten uns eben auf den ersten Blick. Und das ist das Richtige, das einzig Wahre. Die große Liebe. Keine andere kommt ihr gleich. Sieh mich doch nicht so an, steh doch nicht so da – was ist dir denn?!« Er sagte es besorgt, aber mehr noch verletzt: Sie hatte ja ein Gesicht, so blaß und so, als würde ihr etwas Schreckliches verkündet. Nun könnte sie sich doch schon von ihrer Überraschung erholt haben. Aber sie sagte noch immer nichts. »Du sagst ja nichts – Mutter!« Er war ungeduldig. Daß sie überrascht war, wollte er wohl glauben, über ihn selber war es ja gekommen wie ein Sturzbach. »So sag doch endlich etwas!«

»Was soll ich sagen – dazu sagen?! Das ist ja so unmöglich, so, so –!« Sie rang nach einem Ausdruck, sie wollte ihn nicht verletzen, aber nun fuhr es ihr doch heraus: »So lächerlich! Kannst du denn denken, wir würden zu solcher Torheit unsere Einwilligung geben?«

»Torheit?« Gereizt fuhr er auf. »Du nennst Torheit, was das einzig Vernünftige ist. Ihr versteht das aber eben nicht mehr.«

»Mein Gott, Rudolf, du bist ja so jung, viel zu jung, wie kannst du daran denken, zu heiraten! Was bist du denn, was hast du denn? Du kannst ja noch nicht einmal für dich selber sorgen.«

Er sah sie ganz erstaunt an. » Ihr seid doch da, ihr werdet schon sorgen – selbstverständlich.«

So – selbstverständlich?! Ein bitteres Gefühl stieg in ihr auf: Gefragt werden die Eltern nicht. Aber dafür sind sie gut, sorgen dürfen sie, für alles aufkommen. »Du irrst«, sagte sie ruhig. Sie war plötzlich ganz kalt, gegen ihre sonstige Art, ihre weiche Stimme wurde hart. »Solche Torheit werde ich nie unterstützen. Schreibe an deinen Vater, frage ihn, er wird dir dasselbe sagen. Ich gebe es nicht zu.«

»Gib du es zu oder gib es nicht zu!« Sein Fuß trat hart auf. »Annemarie wird meine Frau, und zwar jetzt – gleich! Sagt, was ihr wollt, ich lasse mich trauen!« Er stürzte rasch aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.

Oh Gott, wenn ihr Mann doch hier wäre! Der würde diesen Menschen, der noch ein Knabe war, schon zur Vernunft bringen. Sie war zu schwach dazu. Immer hatte sie Rudolf verwöhnt, ihn umsorgt, ihn geliebt über alle Maßen – das war nun der Dank?! Die Mutter stand wie vernichtet. Was sollte sie tun, wie sich widersetzen? Oh, daß doch ihr Mann bei ihr wäre, ihr Mann! Sie fühlte plötzlich eine heiße Sehnsucht.

›Ich lasse mich trauen‹, hatte der Junge gesagt. Eine Kriegstrauung – als ob das so gar nichts wäre. Wußte er denn nicht, daß nach diesen paar Tagen des Rausches noch ein Leben kam, ein ganz anderes? Jetzt war alles aus den Fugen, dann aber war die Ordnung aller Dinge wieder da. Konnte, würde Annemarie dann noch die Rechte für ihn sein? Hübsch, lustig, ein vergnügter Kamerad, aber wohl keine Frau von bleibendem innerem Wert. Jetzt erst glaubte sie das Mädchen wirklich zu kennen. Das Mädchen, das gern zugriff, weil es nichts anderes zu erwarten hatte. Kein Vermögen, nichts gelernt; wenn das bißchen Jugend vorbei war, besaß es nichts. Und würde die Offizierstochter für einen Mann von geistigem Streben taugen? Dort war so vieles nur auf den äußeren Schein gestellt. Wenn der Krieg vorbei war, der augenblicklich die Unterschiede verwischte, würde das zutage treten. Da war so vieles, was sie Rudolf sagen könnte, wenn er sie hören wollte. Ihre Füße waren schwach geworden, sie mußte sich auf den Diwan setzen. Sie saß eine Weile, den Kopf in beide Hände gestützt. Dann stand sie auf, sie wollte ihn suchen, gleich noch einmal mit ihm sprechen.

Aber Emilie sagte, der junge Herr sei mit Fräulein Annemarie spazierengegangen.

Die Mutter stieg hinauf in sein Zimmer: Das war so wie immer, nur er war anders. In trübem Sinnen verloren stand sie. Dann erst bemerkte sie, daß im Nebenzimmer ihr Sohn Heinz am Fenster stand. Er hatte die Arme über der Brust verschränkt und sah hinüber zum Haus der Witwe Krüger, das jetzt am Ende des Gartens hinter dem kahlen Birnbaum deutlich zu sehen war. Es lag still, wie verwunschen.

»An was denkst du denn, mein Sohn?« Sie berührte seine Schulter. Er hatte ihren Eintritt nicht bemerkt, ihre Frage wohl gar nicht verstanden. Er schreckte zusammen. »Was willst du denn?« fragte er unwirsch.

Da zog sie sich wieder zurück. Es war ihr plötzlich, als sei sie wieder einsam geworden, aber viel einsamer, als da die beiden fort waren im Kriege.

Sie konnte es nicht über sich gewinnen, zum Abendessen hinunterzugehen. Emilie mußte sie mit Kopfschmerzen entschuldigen. Sie legte sich zu Bett, aber von unten herauf schallte volles, fröhliches, tönendes Lachen. Das waren Rudolf und Annemarie – die konnten heiter sein?!

 

Hedwig Bertholdi fand keinen Schlaf diese Nacht. Um Mitternacht stand sie auf, zog sich notdürftig an und schrieb an ihren Mann. Ihre Hand zitterte; aber er würde ja auch diese gekritzelten Zeilen lesen können. Noch nie hatte sie so an ihn geschrieben. Noch nie hatte sie so stark gefühlt, daß sie zueinandergehörten, wie in dieser Stunde des inneren Zwiespalts. Würde er es auch eine Kinderei, eine Torheit, einen hellen Wahnsinn nennen, wie sie es nannte? Wenn er das nicht tat, dann wollte sie sich fügen; aber sie wußte, er würde mit ihr einer Meinung sein.

Der Brief wurde lang. Über dem Schreiben wurde sie ruhiger; sie beschloß, am kommenden Tag noch einmal mit Rudolf zu sprechen. Ihre Gründe würde er ja anerkennen müssen, einsehen, daß es nur eine Liebe, die zärtlich für sein Lebensglück sorgte, war, die sie einem so übereilten Schritt nicht zustimmen ließ. ›Ihr versteht das eben nicht mehr – ihr nicht mehr‹, das hörte sie in einemfort. Nein, so alt war sie denn doch nicht, daß sie nicht mehr wüßte, was Liebe ist! Ein mädchenhaftes Rot stieg in ihre Wangen. Aber das war keine Liebe, die diese beiden zusammenführte, das war nichts als eine aufflammende Leidenschaft, aus der flammenden Zeit geboren. Hunderten und Tausenden ging es so, sie verwechselten die laute Erregtheit der Sinne, durch Kampf und Furchtbarkeit und all die Ansprüche an Mannhaftigkeit geschürt, mit der stilleren Regung des Herzens.

Es hatte ihr einen tiefen Eindruck gemacht, daß sie vor kurzem eine Dame in der Bahn gesehen hatte, eine junge schöne Frau in langwallendem Kreppschleier, mit dem schwarzen weißgesäumten Schnebbenhut auf dem gewellten Haar. Vielleicht zwanzig Jahre, und schon glänzten an ihrem Ringfinger zwei Trauringe. Die Witwentracht machte sie noch schöner, und sie schien das zu wissen. Ihr Blick glänzte, ihre Lippe lachte. Sie unterhielt sich lebhaft mit einem anderen Feldgrauen, einem noch jungen Offizier, der nur für sie Augen hatte. Die würde nicht lange Witwe bleiben, das war ihr gleich klargeworden. Und an diese mußte sie jetzt wieder denken, mit einer fast quälenden Beharrlichkeit. In ihren durch die schlaflose Nacht überreizten Gedanken verschob sich das Bild der schönen jungen Witwe – das schwarze gewellte Haar wurde braun. Nun war es Annemaries strahlender Blick, ihr volltönendes Lachen.

Es wurde Morgen, ehe Hedwig die Augen schloß. Aber bald war sie wieder auf. Die Unruhe, mit ihrem Sohn zu sprechen, ihn von seiner Torheit zu überzeugen, trieb sie.

Beim Frühstück war Annemarie bleich und stiller als sonst; sie schien befangen. Rudolf verwandte keinen Blick von dem Mädchen, die Mutter begrüßte er gezwungen. Sein Trotz schien geschwunden, aber auch seine Heiterkeit; er war niedergeschlagen, und die Mutter merkte ihm an, wie es in ihm brannte, nochmals mit ihr zu sprechen. Nun tat er ihr leid: der arme, dumme Junge! »Komm doch nachher einmal zu mir«, sagte sie.

Kaum war sie aufgestanden und im Wintergarten bei ihren Blumen, da war er auch schon hinter ihr. »Du wünschest?« Seine Augen blickten unsicher.

»Rudolf, ich möchte noch einmal mit dir sprechen. Es ist jetzt wirklich keine Zeit, in der sich die Nächsten böse sein sollten. Ich habe deinen Wunsch überlegt, die ganze Nacht – ich habe an Vater geschrieben. Es ist uns unmöglich, einzuwilligen, nimm doch Vernunft an! Du bist noch zu jung, um dich jetzt schon fürs Leben zu binden.«

»Aber vielleicht für den Tod.« Er blickte finster. Und dann fuhr er rasch fort: »Glaubst du vielleicht, daß ich nicht fallen könnte? Das ist sehr möglich, wahrscheinlich sogar. Wer so viele Kameraden hat fallen sehn – rechts, links, vor, hinter –, der weiß genau, wie nah ihm der Tod ist.«

Sie wollte etwas dagegen sagen, aber sie brachte nichts heraus. Das Herz stand ihr still: Wenn er nun wirklich fiele, nicht wiederkehrte? Plötzlich war die Krüger, die arme Krüger vor ihr. Was gäbe die jetzt dafür, könnte sie auslöschen, was zwischen ihr und ihrem Sohne stand! Hatte sie die nicht erst neulich über dem Zaun gesehen und war erschrocken gewesen, wie die Frau sich verändert hatte? Die starke Gestalt zusammengefallen, das fleischige Gesicht gelb und ausgetrocknet wie das einer Mumie. ›Man soll einem, der in den Krieg geht, die letzte Bitte nicht abschlagen‹, sagte die Emilie. Hatte das einfache Mädchen nicht eine große Weisheit ausgesprochen? Wenn sie daran dächte, Rudolf käme nicht wieder – nein, dann lieber –! Sie holte tief Luft, sie faßte nach des Sohnes Hand. »Warte doch wenigstens, wartet noch, bis der Krieg vorbei ist. Er kann nicht mehr lange dauern. Und ihr seid ja beide noch jung!«

»Gerade weil Krieg ist, darum will ich nicht warten.« Ungeduldig riß er seine Hand aus der ihren. »Mit diesem ewigen Warten! Ich habe keine Zeit mehr dazu.« Die Zornader schwoll ihm, er wurde schon wieder heiß und rot, wie er gestern gewesen war.

Sie strich besänftigend über seinen Uniformärmel. »Rudolf, mein Kind, ich liebe dich doch!«

Er lachte kurz auf: »Das merkt man!« Sein Hohn tat ihr weh, aber sanft wiederholte sie: »Ich liebe dich, darum will ich dein Glück.«

»Ich verstehe dich nicht – du verstehst mich nicht.« Er teilte mit der Hand die Luft, als sei da ein tiefer Schnitt. Mit kalten Augen maß er sie: »Wir haben verschiedene Ansichten von Glück. Du stehst da« – er wies in weite Ferne –, »ich hier.«

Es durchzuckte sie plötzlich: Ja, sie verstanden sich nicht mehr. Ein lähmender Schmerz befiel sie: Das war ihr Kind, ihr früherer Rudolf nicht mehr. Ein Fremder war es, der da vor ihr stand mit trotziger Stirn, die Zähne so fest aufeinander gesetzt, daß das Kinn kantig erschien, fast brutal. Es war nicht allein die Verliebtheit, die ihn so veränderte – der Krieg, der Krieg! Der hatte ihn gewandelt. Dies Ganz-auf-sich-selber-gestellt-sein, dies Nach-nichts-mehr-fragen im rücksichtslosen Draufgehen mit roher Kraft. Ach, so mußte es ja wohl sein, sonst könnten nicht Siege erfochten werden. Sie durfte ihm daraus keinen Vorwurf machen.

Er hatte sich zur Tür umgewandt, noch zögerte er: Wollte sie vielleicht doch noch einlenken?

Sie sah ihn an mit Augen der Liebe und des Schmerzes: Da stand er, ein Knabe und ein Mann! All die Wünsche, die sie für ihn gehegt hatte, all die Hoffnungen, die sie auf ihn, gerade auf diesen Sohn gesetzt hatte, auf seine vielfachen Begabungen, auf seine Studien, sah sie zunichte werden. Wie konnte er etwas erreichen, wenn er sich jetzt schon fesselte? Ach, Hoffnungen! Es ging ihr wie Tausenden und Abertausenden von Müttern. Glücklich die, die noch nicht alle Hoffnungen begraben mußten!

Da waren sie, ein ungezählter Chor klagender, trauernder, geschlagener Mütter. Sie rauften die Haare, sie schlugen die Brüste, ihre Wehgeheul stieg auf zum Himmel, gleich stark, gleich furchtbar wie zu Zeiten der Hekuba.

Und allen voran die Krüger mit ihrem klein gewordenen, vergrämten Gesicht. Die hob wie beschwörend die Hände gegen sie: ›Dann ist es am schlimmsten, wenn man böse voneinander gegangen ist.‹

Nein, nein! Hedwig hätte laut aufschreien mögen: Nur das nicht! Nie glaubte sie heißer geliebt zu haben, gerade ihn und gerade jetzt. Sie streckte die Hände nach ihm aus, ihre Stimme zitterte: »Mein Sohn! Wir haben schon einmal miteinander gerungen – du wolltest in den Krieg, ich wollte dich nicht lassen –, ich will nicht wieder mit dir ringen!«

»Es würde dir auch nichts nützen, jetzt ebensowenig wie damals. Und wenn du's auch wieder so nennst, wie du es gestern genannt hast: Torheit, Kinderei – nenne es auch meinetwegen Wahnsinn –, ich kann nicht sein ohne Annemarie. Ich muß, ich muß. Ich will mein Glück.«

»Dann« – ihre Lippen zuckten, aber ihre zitternde Stimme war fester geworden – »dann in Gottes Namen. Ich werde dir nichts mehr in den Weg legen. Mit deinem Vater mußt du es selber ausmachen. Ich –« Sie stockte, sie konnte nicht weitersprechen.

»Mutter!« Er faßte sie bei beiden Händen, in jugendlichem Ungestüm riß er sie an sich. »Ach, ich wußte es ja, du bist doch meine gute Mutter.« Er streichelte ihr die ganz kalten Wangen. »Und Annemarie meinte, du möchtest sie nicht mehr. Du hast sie doch lieb, nicht wahr, Mutter – schon mir zuliebe?«

Sie nickte stumm. Ihr Kopf war gegen seine Schulter gesunken, er konnte ihr Gesicht nicht sehen. Sah nicht, wie es in ihm arbeitete und zuckte. Er schob sie von sich. »Mutter, jetzt hol' ich dir aber meine Annemarie!« Er stürmte zur Tür, sie hielt ihn nicht mehr zurück.

Sie stand wie eine Geistesabwesende und starrte vor sich hin: Opfer – ein Opfer – das war ein großes Opfer. Aber andere Mütter hatten noch unendlich viel größere gebracht. Jetzt war die Zeit zum Opferbringen.

Langsam fuhr sie sich mit der kalten Hand über das kalte Gesicht, über die wirr gewordenen Haare. Sie zwang sich ein Lächeln auf.


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