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Nun war es Herbst. Zum dritten Male Herbst. Gut, daß man nicht gewußt hatte, als der Krieg anfing, daß er so lange dauern würde. Und doch, wie die Zeit raste! Wenn Hedwig Bertholdi jetzt zurückdachte an voriges Jahr, wollte es sie bedünken, als sei es gestern gewesen. Da hatte sie Annemarie gerade erst ins Haus genommen; und nun war die bereits lange ihres Sohnes Frau und sah der Geburt eines Kindes entgegen. Ein Knabe? Ein Mädchen? Die junge Mutter, die fast mit Neugier, ohne jede Angst dem großen Ereignis entgegensah, wünschte sich brennend einen Jungen. Der junge Vater schrieb: ›Wäre es doch ein Mädchen, dann brauchte es wenigstens nicht in den Krieg.‹
Rudolf hatte genug vom Krieg, das las die Mutter aus jedem Brief. Wenn er auch nie klagte, Leutnant geworden war, selber eine Kompagnie führte, es hatte ihn doch zu mächtig gepackt, daß am letzten Großkampftag fast sämtliche Offiziere des Regimentes gefallen oder verwundet worden waren. Er war von Verdun an die Somme gekommen. Seine Nerven waren nicht mehr die des flammenden Knaben, als der er in den Krieg gezogen, auch nicht die des verliebten Jünglings mehr, die Mutter fühlte es: Sie waren die eines müden Mannes. Nun hoffte er bald Urlaub zu erhalten; wenn sein Kind geboren war, sein erstes Kind, dann würde er wohl kommen.
Hedwig Bertholdi hatte das Sich-ängstigen aufgegeben, sie kämpfte tapfer dagegen an; ganz verlieren wird es eine Mutter ja nie. Aber sie hatte gelernt, hart gegen sich zu sein. Sie mußte es sein. Ihr Mann fern, beide Söhne in steter Todesgefahr, alle Sorgen des Haushaltes allein zu tragen – sie mußte dasein und bereit, des Sohnes Kind zu empfangen, die Frau, die er liebte, zu pflegen.
Annemarie war kerngesund. Alle die kleinen Sachen lagen schon bereit, sie freute sich daran mit einem fröhlichen Lachen. Das hatte noch nichts von seinem vollen, tönenden Klang verloren. Hedwig dachte jetzt oft an die Zeit, in der sie ihr erstes Kind erwartet hatte. Wie anders war sie gewesen! Die Zeit war anders geworden – Gott sei Dank, daß auch die jungen Mütter anders geworden waren! Vieles, was ihr an Annemarie nicht gefiel, übersah sie jetzt, vergaß es. War diese echt-rheinische Sorglosigkeit, die sie, die Norddeutsche, nicht begriff, nicht doch etwas Wundervolles? War dieses fröhliche Herz, das nicht erwägte, was kommen könnte, das Heute unbefangen genoß und nicht fragte: was bringt dir das Morgen?, nicht ein großes Glück?
Die junge Frau saß im Wintergarten, dessen Schiebefenster schon geschlossen waren gegen die herbstliche Kühle, und las einen Brief ihres Mannes. Die Schwiegermutter schob ihr ein Bänkchen unter die Füße; die Schwiegertochter nahm es als selbstverständlich, sie ließ sich gern verwöhnen. Den Kopf auf den vollen Arm gestützt, las sie und lächelte dabei. Plötzlich blickte sie auf. »Da hätte Heinz aber schön zu Unglück kommen können – na, es hat ja noch gutgegangen!«
»Was – was?« Hedwig zitterte. »Lies!« drängte sie.
»Heinz hat zwanzig Treffer in den Apparat bekommen im Luftkampf bei Bapaume. Ein Kamerad, der von dort kam, hat es Rudolf erzählt. Es ist ihm aber noch gelungen, herunter zu kommen und in unserer Linie zu landen. Sein Fokker ist freilich hin. Nun fliegt er aber bereits wieder. Nein, der Heinz! Er ist wahrhaftig schon eine Art von Berühmtheit geworden!« Die junge Frau sagte es, stolz auf den Schwager. »Das fünfte Flugzeug schon! Paß mal auf, Mama, er wird noch ein zweiter Bölcke!«
Die Mutter legte die Hand über die Augen, schwarz drehte es sich plötzlich vor ihrem Blick. Wie aus weiter Ferne drang die Stimme Annemaries an ihr Ohr: »Aber, Mama, du brauchst doch nicht nachträglich noch so zu erschrecken. Du hörst ja, er ist sicher gelandet.« Die warme Hand der Schwiegertochter legte sich auf ihre eiskalte.
Sie schüttelte die Hand ab. »Laß nur! Es ist schon wieder gut.« Sie stand auf und verließ den Wintergarten. Sie mußte allein sein, allein mit sich und ihrer Angst. Wie lange war es her, daß Bölcke, der Unüberwindliche, zu Tode gestürzt war? Erst wenige Tage. Noch trauerte Deutschland um ihn. Sie hatte den berühmtesten aller Flieger nie gesehen, nicht gekannt, hatte gar keine persönliche Beziehung zu ihm, aber sie war seinen Flügen gefolgt mit schier mütterlicher Hingabe. Nahm ihr Sohn, ihr Heinz, nun denselben Weg, ging er dem gleichen Schicksal entgegen? Sie hatte geglaubt, schon stark zu sein, nun fühlte sie, wie schwach sie noch war. Tastend griff ihre Hand um sich: zwanzig Treffer – mit Not und Mühe gelandet – seine Maschine zertrümmert – und nun flog er doch wieder! Sie preßte die Hände gegen die Schläfen, es hämmerte in ihrem Kopf. Es trieb sie aus den Zimmern, es trieb sie durch den Garten. Jenseits des Zaunes stand die blonde Frau.
Als ob die es geahnt hätte. Mit großen Augen sah Lili herüber, Blutwelle auf Blutwelle jagte über ihr zartes Gesicht. »Haben Sie Nachricht bekommen?«
»Mein Sohn Rudolf schrieb eben«, sagte mühsam die Mutter. »Ich bin sehr beunruhigt über Heinz.«
»Ich weiß.« Eine neue Blutwelle stieg in Lilis Gesicht. »Ich habe auch Nachricht heute«, sagte sie leise, »einen Brief – von ihm selber. Es ist ihm nichts geschehen. Wie durch ein Wunder.« Und nun wurde ihre Stimme kräftig, sie sah seiner Mutter voll ins Gesicht: »Es wird ihm auch nichts geschehen. Seien Sie ruhig, gnädige Frau. Ich bin auch ganz ruhig. Um meinen verstorbenen Mann habe ich mich immer geängstigt – um diesen nicht. Ich bin zu stolz auf ihn!« Sie reckte sich in ihrer ganzen Schlankheit. Nie war sie Hedwig als besonders groß erschienen, nun mußte sie aufsehen zu ihr. Es war etwas Königliches in ihrer Haltung, etwas Freies, Befreites, das auch andere befreite. Die Mutter fühlte, wie die Angst von ihr wich. Sie streckte beide Hände über den Zaun und zog die junge Frau näher. Die folgte willig. Das schöne blonde Gesicht war dicht bei Hedwig, sie küßte es innig.
In der Villa Bertholdi ging man heute auf Zehen. Die beiden Frauen und die beiden Dienstmädchen hatten nie viel Lärm gemacht, aber heute war es besonders still. Die alte Köchin stand mit verstörtem Gesicht am Küchenherd und kochte Kamillentee: Es hatte die Emilie auf einmal so überkommen, daß sie die hatte zu Bett bringen müssen. Dann war die Köchin zu Frau Bertholdi gelaufen: »Gnädige Frau, mit der Emilie – oh Gott, gnädige Frau – ich glaube wahrhaftig, da – da is was los!« Sie hatte sich gar nicht getraut, es auszusprechen; nun es heraus war, war sie über sich selber entsetzt. Was würde die gnädige Frau dazu sagen?
Hedwig wurde nur rot und dann blaß. Blitzschnell schoß es ihr durch den Kopf: Längst hättest du das doch ahnen können. Wenn sie der verzweifelten Tränen gedachte, die das Mädchen damals vergossen hatte, als es ihr von der unerfüllten Bitte des Geliebten erzählte, schien es ihr jetzt fast wie selbstverständlich. Auf Urlaub war der Bräutigam gekommen, kurz danach. Und er mußte sich wohl mit Emilie rasch ausgesöhnt haben, denn die war bald wieder fröhlich, wieder ganz die alte Heitere, und trällerte oben auf ihrer Kammer. Jetzt hatte sie freilich längst recht blaß ausgesehen. Hedwig schüttelte den Kopf: Wo hatte sie nur ihre Augen gehabt? Des Mädchens Gesicht war so in die Breite gegangen, gar nicht mehr hübsch; neulich hatte jemand scherzend gesagt: ›Der sieht man wahrhaftig die Knappheit nicht an.‹
Hedwig stieg hinauf zu der Mansarde; die Knie zitterten ihr nun doch ein wenig. Sie fand das Zimmerchen so peinlich sauber, so in Ordnung, wie Emilie es immer zu halten pflegte. Heute morgen noch hatte sie gründlich geräumt, man hatte sie klopfen und wirtschaften hören. Auf der mit blühweißer Decke geschmückten Kommode standen in Reih und Glied die Photographien des Vaters, der verstorbenen Mutter, der beiden Brüder in Uniform und der jüngeren Geschwister. Über dem Bett hing das Bild des Bräutigams, lebensgroß; Emilie hatte es sich nach einem kleinen vergrößern lassen.
Emilie lag dumpf ächzend im Bett. Die Knie hochgezogen, von Schauern geschüttelt, die Zähne aufeinandergebissen. Sie wollte nicht schreien. Sie nahm die Eingetretene kaum wahr.
Frau Bertholdi setzte sich neben das Bett. »Emilie«, sagte sie sanft, »was fehlt Ihnen denn?«
Mit seltsam glasigen Augen sah die Gefragte sie an. Sie versuchte zu lächeln.
»Soll ich den Arzt holen lassen?«
Jetzt schüttelte sie den Kopf verneinend.
»Vielleicht besser jemanden anderes?« sagte die Herrin mit Betonung. »Die Frau Weiß vielleicht? Sprechen Sie doch!«
Das Mädchen schüttelte nicht ›ja‹ und nicht ›nein‹. Es zog nur die Augenbrauen hoch. Der Ausdruck peinvoller Qual war auf dem todblassen Gesicht.
»Emilie, armes Mädchen!« Ein großes Mitleid erhob sich plötzlich in Hedwig. Wie tapfer die ihre Schmerzen zu verbergen suchte! Aber es ging nicht, das Lächeln wurde jetzt zur wilden Grimasse, mit beiden Händen nach ihrem Leibe fassend, bäumte die Gemarterte sich plötzlich auf.
Als Frau Bertholdi von oben herunterkam, um nach Beistand zu schicken, gab es für sie keinen Zweifel mehr. Sie fand auch Annemarie im Bett; die hatte sich eben niedergelegt. Aber sie lachte die Schwiegermutter aus, als diese besorgt zu ihr trat; nein, es war gar nichts, sie hatte sich gestern abend wohl etwas erkältet, es war kühl gewesen, oder am Ende hatte sie zuviel gegessen.
Als die Weiß erschien, war sie gleich ohne Anmeldung zum Schlafzimmer der jungen Frau marschiert – die alte Dore hatte den Kopf verloren, sie gar nicht unterrichtet –, nun war sie höchst erstaunt, die junge Frau noch ganz vergnügt zu finden: »Was, noch so munter?«
Frau Bertholdi winkte sie hinaus.
Nun war die Weiß sehr enttäuscht. »Was, bloß das Mädchen? Na, ich sage schon. Das hätt' ich wissen sollen, denn hätt' ich mich auch nich so aus der Puste gerannt.«
»Es ist ein sehr ordentliches Mädchen«, sagte Hedwig ernst. Es war ihr auf einmal, als müsse sie Emilie verteidigen. »Ich wünsche, daß alles genauso sorgsam geschieht wie im andern Falle.«
»Nee, so 'ne Dame! So 'ne liebe Dame! So was is mit der Laterne zu suchen. Wenn das erst die Mädchens wissen, wird bald 'n Gerenne sein um die Stelle hier!« Die Weiß nahm's gemütlich.
Das Lachen der Frau war Hedwig unangenehm; sie trieb zur Eile. Ein paarmal schon war sie wieder oben gewesen, das Befinden Emiliens flößte ihr Sorge ein. Die Wehen hatten nachgelassen, aber die schlaffe Hand, nach deren Puls sie fühlte, war glühend heiß, die Lippen waren wie verdorrt. Ob sie nicht doch nach einem Arzt schickte? Mehrere waren im Felde, mehrere im Lazarett tätig, aber einer hier im Ort würde doch wohl jetzt zu Hause sein.
Noch überlegte sie, da kam auch die Frau schon von oben wieder herunter. Jetzt lachte sie nicht mehr. »Wer weiß, was die angegeben hat! Gott, ich sage, die Mädchens! Wir wollen man lieber nach 'm Arzt schicken, gnädige Frau!«
Als am nächsten Morgen der erste Sohn von Rudolf Bertholdi kräftig die Welt anschrie, war auch bei der Emilie ein Junge angekommen. Aber bei ihr war's nicht so leicht gegangen. Am Abend hatte man sie noch weggeschafft in ein Krankenhaus, der Arzt hatte ein bedenkliches Gesicht gemacht. Dann war das Kind da, ein gesundes Kind, aber das Mädchen hatte viel leiden müssen. »Noch nicht außer Gefahr«, sagte die Stationsschwester, die sich Frau Bertholdi hatte ans Telephon rufen lassen.
Es war merkwürdig, und Hedwig wunderte sich selber darüber, wieviel ihre Gedanken zu Emilie wanderten. Als ob sie hier zu Hause nicht genug zu denken hätte! Da war doch ihres Rudolfs junge Frau, da ihres Rudolfs Kind! Die waren ja so gut versorgt, die Wochenpflegerin war ausgezeichnet und Annemarie so wohl, so strahlend. Es ging alles ganz glatt – aber die andere, die andere?! Emilie war ihr ein treues Mädchen gewesen, hatte vom siebzehnten Jahre an bei ihr gedient, immer hatte sie die Freundliche, allzeit Heitere gern gehabt, daß ihr deren Geschick so nahegehen würde, das hätte sie dennoch nicht für möglich gehalten. Nun war es ihr, als müßte sie sich um Emilie ganz besonders kümmern; die hatte keine Mutter mehr. Und was würde deren Vater sagen? Man mußte es ihm doch mitteilen; keine leichte Aufgabe. Er würde toben, er war ein strenger Mann. Hedwig legte sich zurecht, was sie dann erwidern würde. Ihm dasselbe wie der alten Köchin. Die hatte sie geärgert mit ihrem Schmälen: »Nee, so was, nee, die Emilie, für so wenig anständig hätt' ich die denn doch nich gehalten.« Wer durfte hier sagen: anständig und nicht anständig? Es war Krieg! Immer wieder hörte Hedwig die Worte des Mädchens: ›Man soll einem, der in den Krieg zieht, nicht die letzte Bitte abschlagen.‹ Leichtsinnig war Emilie nicht, Hedwig glaubte zu wissen, wie die mit sich gekämpft hatte; aber als der Bräutigam dann auf Urlaub gekommen war – ach, so ein paar kurze Tage nur! – wer konnte ihr einen Vorwurf machen?! Am Ende hatte sie ja selber am schwersten daran zu tragen, zu tragen gehabt schon all die Zeit. Mußte man nicht die Willenskraft bewundern, mit der das Mädchen seinen Zustand verborgen hatte? Nie hatte es sich vor einer Arbeit gescheut. Und wie war Annemarie geschont worden!
Ein lebhaftes Mitleid erhob sich in der Herrin.
Hedwig Bertholdi hatte eine paar schlaflose Nächte. Wenn sie denken sollte, daß Emilie sterben müßte! Noch immer lauteten die Nachrichten nicht gut. War es nicht seltsam, wie rasch sich jetzt Ansichten änderten, wie man sich selber änderte? Man brach plötzlich mit allem Hergebrachten. Draußen ging eine Welt in Trümmer, hier drinnen auch – als müßte alles neu werden.
Wie betäubt ging Hedwig Bertholdi heute zum Krankenhaus. Emilie hatte so sehr bitten lassen.
Eben war ein Brief von Heinz gekommen; er schrieb nichts davon, aber in der Zeitung hatte sie heute morgen gelesen, und mit einem Erschrecken hatte sie's gelesen, das ihr das Blut in die Wangen trieb: ›Leutnant Bertholdi das sechste und siebente Flugzeug abgeschossen.‹
Oh Heinz, Heinz! Die Mutter streckte die Hände aus, sie hätte ihn halten mögen, herabziehen von der schwindelnden Bahn; zu Lili Rossi war sie gleich hinübergeeilt – auch die hatte es gelesen. Aber sie begrüßte die Mutter mit einem so strahlenden Ausdruck von Stolz und Freude, daß Hedwig sich nichts von Kleinmut zu sagen getraute. –
Es war ein weiter Weg, den Hedwig zum Krankenhaus zu machen hatte. Aus den Feldern rechts und links der Chaussee stieg ein verwelktes Duften auf. Es war ihr weh ums Herz: ihr Heinz, ihr Heinz! An ihn mußte sie immerfort denken. Und dazwischen auch an die Emilie: Wie würde sie die finden? Ihre Gedanken wirrten hin und her. Oh, wie man immer aus einem ins andere gerissen wurde! Man konnte nicht eines zu Ende denken. Aber es war gut so; sonst müßte man ja verzagen in solcher Zeit.
Frau Bertholdi fühlte eine leise Verlegenheit: Wie sollte sie dem Mädchen gegenübertreten, durfte sie denn so zeigen, wie wenig hart sie den Fehltritt beurteilte? Ein paar ernste Worte würde sie doch sprechen müssen; nicht streng, aber ernst.
Emilie selber half ihr über das erste Wiedersehen weg. Sie war noch unendlich elend. Hätte Frau Bertholdi nicht gewußt, das ist die Emilie, sie hätte sie nicht erkannt. Wie ein altes, abgehärmtes Frauchen lag die junge Person in den Kissen, dunkle, verwirrte Haare, die man noch nicht hatte kämmen dürfen, um ein spitz gewordenes Gesichtchen; zu schwach noch, um sich aufzurichten, zu schwach noch, um zu sprechen.
»Dabei geht's heute schon ganz famos, nun sind wir über den Berg«, sagte die pflegende Schwester.
Seltsam ergriffen, beugte sich Hedwig Bertholdi über das Bett: »Wie geht's, Emilie?« Die schweren Lider hoben sich von den matten Augen. Das Mädchen machte einen Versuch, sich aufzurichten; es gelang nicht; so zeigte es nur mit den Blicken nach der Seite des Bettes. Da lag in dem verhängten Waschkorb das Kind. »Ein Junge«, sagte Emilie schwach. Und dann lächelte sie.
Frau Bertholdi besah sich das Kind, es schlief; die Schwester ging weg auf Zehen. Sie setzte sich neben das Bett. »Sie haben mich gern sehen wollen, Emilie, ich bin gern gekommen – was haben Sie denn für einen Wunsch?« Frau Bertholdi sprach ganz mild, es schien ihr plötzlich unmöglich, etwas zu sagen, was an Vorwurf grenzte. Wie sah die arme Emilie aus! Sie mußte unmenschlich gelitten haben.
Hedwig merkte ihr eine Unruhe an. »Was ist denn, Emilie?« Die wollte gewiß, daß es ihrem Vater beigebracht wurde, hatte Angst davor. »Soll ich es Ihrem Vater schreiben?«
Emilie lächelte.
»Sie haben wohl Sorge deswegen?«
Emilie schüttelte verneinend.
»An Ihren Bräutigam schreiben, nicht wahr?«
Emilie nickte, sie lächelte stärker.
Aber da war noch immer etwas, das sie beunruhigte. Die Scham war es wohl, die das Mädchen bedrückte. Die wachsgelbe Hand suchte tastend auf der Bettdecke. »Emilie, was ist denn?« Da fühlte Hedwig Bertholdi ihre Hand von der eisig-kalten der Schwachen umklammert, sie empfand einen leisen Druck.
»Hab Ihnen – viel Last – gemacht – danke – gnädige Fr…« Die müde Zunge stolperte über das ›Gnädige Frau‹, das wollte nicht heraus.
Unwillkürlich beugte sich Hedwig näher, dieser Dank rührte sie. Was hatte sie denn groß für das Mädchen getan? Lieber Gott, wenig genug. Wie wenig Güte braucht man doch eigentlich nur zu säen, um Dank zu ernten! Sie strich dem Mädchen das von der Anstrengung feucht gewordene Haar aus der Stirn.
»Gnäd – ge –!«
»Nun, was denn, mein Kind?«
Des Mädchens Blicke schwammen. Hedwig Bertholdi las aus diesen matten Augen manches heraus: Bitte, Flehen und zugleich etwas wie Mutterstolz. Das war ja auch eine Mutter – Hedwig wurde weich – eine Mutter, wie sie selber eine war, wie tausend andre waren – eine, die litt – eine, die hoffte – eine, die bangte – eine, die stolz war! Und hier war auch ein Kind, ein Sohn, wiederum ein neues Blatt am Baum des Vaterlandes!
Sie trat zu dem Korb, betrachtete das kleine Gesichtchen und nickte wehmütig: Möchte dieser kleine Sohn einst genießen, was die großen Söhne jetzt erkämpften, und nur im Frieden seinen Stein herzutragen zum Bau des neuen, des glücklicheren Deutschlands! Ach ja – im Frieden! In der Hoffnung gesegneten Friedens durchflutete es sie ganz warm. Lächelnd trat sie vom Körbchen des Kindes ans Bett der Mutter.
Emilie lag still, die Hände ineinander gefaltet. Nun suchten ihre Augen die der Herrin; ihre Blicke tauchten ineinander. Langsam fingen ein paar Tränen an, dem Mädchen zu rinnen.
»Mußt nicht weinen, mein Kind«, sagte Hedwig Bertholdi; es war ihr gar nicht verwunderlich, daß sie ›du‹ zu Emilie sagte, sie bemerkte es selber nicht. »Mußt nicht weinen, es wird alles gut!«
»Alles gut«, stammelte die Kranke nach. Und dann suchte sie, nach der Hand der Herrin zu greifen: »Gnäd – ge – gnäd – ge Fr –!« Mehr brachte sie nicht heraus.
Wollte die bitten? Wollte die danken? Hedwig neigte sich näher und näher. In einem Impuls von Mütterlichkeit, einer Mütterlichkeit, die alle umfängt – waren sie sich denn nicht alle gleich? Mütter, nur Mütter! – und hingerissen von einem Gefühl, das alle Schranken umstößt, die die Welt aufrichtet, ganz hingenommen von der starken Empfindung, gemischt aus Mitleid, Rührung und Menschenliebe, sagte sie: »Laß jetzt das ›gnädige Frau‹ – und küßte die Magd.
Als Hedwig Bertholdi durch die Felder nach Hause ging, war ihr lange nicht mehr so schwer zumut wie auf dem Hinweg. Die herbstlichen Felder dufteten ihr nicht mehr nach Sterben, sie dufteten nach Leben. Mußte ihr Heinz denn stürzen? Mußten sie denn alle hingehen wie nach ehernem Gesetz? Es starben die einen, die anderen wurden geboren – tagtäglich neue. Sie dachte an die zwei kleinen Knaben, an ihres Rudolfs und an der Emilie Kind. Und ihr Heinz, der würde fliegen und siegen und glücklich landen! Jetzt glaubte sie auf einmal ganz fest daran. Zu Hause fand sie Annemarie glückstrahlend; die hatte sich ihren Knaben geben lassen und hielt ihn an der Brust. Sie sang ihn ein, mit ihrer selbst bei diesem leisen Summen vollen Stimme. Es war das alte Soldatenlied:
»Musketier sein lust'ge Brüder,
Haben guten Mut …
Fidera, fidera, fiderallalla.«
»Großmutter«, rief sie lachend, als Frau Bertholdi zu ihr trat, »Großmutter, sieben Söhne möcht' ich haben. Lauter schöne, gesunde, muntere Jungens, sieben Söhne für den Kaiser – was meinst du dazu?«
Es war gut, daß Kinder geboren wurden. Wo sollte sonst wohl Ersatz herkommen für die vielen Leben, die Deutschland verlieren mußte? An den Baum fast jeder Familie griff der Krieg mit seiner Faust und riß ein Blatt ab. Eine unendliche Bangigkeit lastete auf der Welt. Dazu der graue herbstliche Himmel, der nur um Mittag Sonne scheinen ließ.
In den Stuben keine mollige Wärme. Wenn jetzt schon mit Feuerung gespart werden sollte, wie würde es dann erst im Winter werden, wenn der Frost knackt? Es wollte keine rechte Zuversicht mehr aufkommen und auch kein Vertrauen zu denen, die zu regieren hatten.
Die Kartoffelernte war schlecht gewesen, der nasse November hatte auch diese Hoffnung zerstört. Die Kartoffeln, die nicht schon beim Ausbuddeln kranke Stellen zeigten, faulten im Keller. Wenn man nun nicht Kartoffeln genug hatte, was sollte man dann essen?!
Die Dombrowski hatte beim Kartoffelausmachen geholfen; ungern zwar hatte sie sich zu der Arbeit angeschickt, aber die Sorge ums tägliche Brot hatte sie dazu getrieben. Die Kinder schlangen wie die jungen Wölfe, sie selber hatte auch immer mehr Appetit, als Vorrat im Schranke war. Nun ruhten Spaten und Hacke wieder; sie hatte das alte Arbeitsgerät ihres Mannes mitgebracht in die neue Wohnung, und nun fiel es ihr ein, sie könnte es ja machen wie der Stanislaus. Streckenarbeiter, das war noch nicht das Schlechteste, der Wochenlohn jetzt doppelt so hoch, und wenn dann mal etwas zu kriegen war, konnte man es sich wenigstens kaufen. Und besser war's immerhin als in der Munitionsfabrik, man hatte wenigstens gute Luft, den Himmel frei über sich, und man sah, wie die Züge vorbeisausten.
Unter den Sachen ihres Mannes kramte sie seine Mütze vor; wenn sie denn nicht Schaffnerin spielen sollte, eine Dienstmütze wenigstens hatte sie doch auch. Sie probierte vorm Spiegel: Wenn sie die so aufs eine Ohr schob, sah sie noch immer zum Verlieben aus. Ihr Spiegelbild lachte sie an.
Es waren nicht genug Hände da, um alle Arbeit zu bewältigen, überall fehlten Kräfte, besonders im Bahnbetrieb. Die jüngeren Beamten waren sämtlich eingezogen, was vor einem halben Jahr für unabkömmlich gegolten hatte, mußte jetzt auch hinaus; wer nur eine Flinte schleppen konnte und einen Tornister auf dem Buckel. Reklamationen wurden nicht mehr berücksichtigt. Nur ein paar alte Knacker waren noch da, aber die waren langsam und griesgrämig: ihre Söhne im Feld, zum Teil tot, verwundet – und zu essen hatte man auch nicht satt.
Als die Dombrowski sich meldete zur Arbeit auf der Strecke, erhellte sich das Gesicht des Inspektors: eine stramme Person. Zu anderen Zeiten hätte er sie wohl in die bräunliche Wange gekniffen, jetzt hatte er nur ein befriedigtes Kopfnicken. Sie wurde einem Trupp von Frauen zugeteilt, die ein früherer Weichensteller beaufsichtigte. Der war ein alter Bekannter ihres Mannes, fragte sie gleich nach Dombrowski. Puh, das fing schlecht an! Es fuhr ihr ordentlich in die Knochen. War es nicht scheußlich? Nun wollte sie vor den Gedanken fliehen, und nun waren die gleich wieder hinter ihr her. Ob sie wohl jemals Ruhe vor denen kriegte? Sie lachte, als der Mann sie fragte; oh, es ging Dombrowski ganz gut.
Wo war er denn? I, wenn sie das wüßte! Schreiben durften sie es ja nicht, die armen Kerle. Sie log sich heraus. Aber den ganzen Tag war sie verstimmt deswegen: Kam ihr der Dombrowski schon wieder in die Quere!
Sonst wäre es ganz nett gewesen und nach ihrem Gefallen. Zu überarbeiten brauchte man sich gerade nicht. Alle paar Augenblicke kam ein Zug. Dann pfiff der Aufseher, der aufzupassen und auf die Signale zu achten hatte. Dann hieß es: schnell aufs Nebengeleise. Da stand man denn, die Hände auf den Stiel der Hacke gestützt, das Kinn daraufgelegt, und sah mit offenem Mund dem vorbeirasenden Zuge nach. Was da alles vorbeijagte: Truppen, Kanonen, Pferde, Geschütze aller Art, Flugapparate, Maschinen, Fässer, Bretter, Kupfer, Eisen, Schienen, ganze Gerüste, Kartoffeln, Stroh, Heu – alles zur Front; Kohlen und Kohlrüben – Kohlrüben für hier. Die lernte man nun essen. Kohlrüben, Kohlrüben, Kohlrüben. Kartoffeln waren zu knapp. Die übrigen Weiber, die mit der Dombrowski auf der Strecke arbeiteten, beklagten sich oft darüber; aber Minka lachte: Das focht sie eigentlich am wenigsten an, wenn sie nichts weiter zu beklagen hätte!
Ein paar polnische Mädel von der Grenze waren unter den Arbeiterinnen, die sagten, sie seien so weit hergekommen, um viel zu verdienen, hätten sie aber gewußt, wie hungrig es hier sei, kein Mensch hätte sie hergebracht.
Mit der Stasia und der Kasia schloß Minka bald Freundschaft, und nun erfuhr sie, nicht der Verdienst war's, der die beiden hergelockt: zwei preußische Soldaten waren es, die einquartiert gelegen hatten in ihres Vaters Bauernhaus. »Waren sehr schöne Soldat, liebe Soldat!« sagte die schwarze Kasia, und die Augen der noch schwärzeren Stasia glänzten. Die hofften sie nun hier wiederzufinden: »wenn sich Krieg zu End ist.« Ihre Hoffnung hinderte sie aber nicht, auch nach anderen Soldaten zu sehen. Und Minka sah mit!
Wozu nutzte das, sich Vorwürfe zu machen und den Kopf hängen zu lassen?! Sie begriff sich jetzt manchmal selber nicht, warum sie sich einmal so hatte schrecken lassen. Ach, der Stanislaus würde schon wieder gut werden, wenn er wiederkam! Wer weiß, ob er wiederkam? An diesen Zweifel hängte sich eine Hoffnung; eine ganz leise, deren sie sich selber nicht recht bewußt war. Es war ihr nur so, als wäre es vielleicht besser, er käme nicht; für sie und für ihn. Manchmal preßte es ihr freilich ein Tränchen aus, wenn sie dachte: ›Du siehst ihn nicht mehr.‹ Aber nur manchmal.
Die Stasia und die Kasia und die Minka steckten die Köpfe zusammen, sie hatten immer etwas zu bereden; mit den beiden hatte die Dombrowski doch mehr Gemeinsames als mit der Hieselhahn. Die sah sie gar nicht mehr. Sonntags fuhren die drei zusammen nach Berlin. Dann waren sie montags so müde, daß ihnen die Augen fast zufielen bei der Arbeit. Der Aufseher schimpfte mit den Mädels: Hatte das keine Knochen im Leib? Bei der Dombrowski traute er sich nicht so, die hatte ein doppeltgeschliffenes Mundwerk.
Aber nach solchen Sonntagen konnte es doch oft sein, daß die Dombrowski, wie in tiefe Gedanken versunken, auf ihrer Hacke lehnte und schier schwermütig einem Zug nachsah, der an ihr vorübersauste. Soldaten drin, Soldaten, lauter Soldaten. Die sangen:
»Im Feld des Morgens früh,
Wenn noch die Nebel sanken,
Die Halme fallen und wanken,
Da denkt die junge Mähderin
An ihren Schatz mit frohem Sinn,
Im Feld des Morgens früh.«
Sie konnte an keinen denken mit frohem Sinn, und das reute sie. Es war doch eigentlich gar nichts, daß sie bloß mit den Mädels ausging, im ›Kaffee Vaterland‹ saß oder in einem Kino. War das wohl ein Leben? Die Soldaten, die vorüberfuhren, winkten, schrien ihr zu: Scherze, Liebesworte, begehrliche Redensarten; dann fuhr sie auf, riß das rote Tüchelchen, mit dem sie sich die kecke Mütze fest aufs Haar gebunden hatte, ab und winkte ihnen. Lachend, ungestüm. Winkte, daß Haare und Röcke flogen, sah den nickenden Köpfen, den ausgestreckten Armen nach, als wollten ihr die Augen aus dem Kopfe springen.
Es kamen noch ein paar goldene Herbsttage. Heute am Montag war die Dombrowski ausnahmsweise vergnügt; sonst war sie gerade dann immer verdrossen; aber der gestrige Sonntag, der war es wert gewesen, daß sie nach Berlin gefahren war. Einen so schönen Sonntag hatte sie lange nicht verlebt. Ob der hübsche Unteroffizier, der sich im Kaffee zu ihnen an den Tisch gesetzt hatte, wohl heute an sie dachte? Sicherlich! Ein Glücksgefühl durchschoß sie plötzlich: Sie war doch noch die schöne Minka. Wo sie wohnte? hatte er sie leise gefragt – und Augen dabei gemacht, Augen! Sie hatte es ihm gesagt, ganz genau. Oh, er würde kommen, er hatte es ja versprochen, und dann – und dann –
»Paß auf!« schrie die Kasia, packte sie am Arm und riß sie aufs Nebengeleis. Sie hatte das Warnungssignal des Aufsehers gar nicht gehört.
In langer Reihe standen die Weiber nun und ließen den Zug passieren. Es war ein Güterzug. Wie im Traum sah die Frau die hochbefrachteten Wagen – ein unendlich langer Zug – schwarz, schwer, rauchig, schnaubend stampfte er. Nun traten sie wieder aufs Geleise zurück; sie zerkleinerten Schotter.
Was kümmerte es die Dombrowski, daß der Aufseher jetzt auf sie losfuhr: Konnte sie nicht besser aufpassen? Er war wütend vor lauter Schrecken: Stand das Weib da und duselte! Er hatte laut genug gepfiffen; hatte sie denn keine Ohren mehr, keine Augen? Oh ja, die hatte sie. Ganz träumerisch lächelte sie den Aufseher an: Augen hatte er gemacht, Augen – und kommen wollte er, kommen – wann er wohl kam? Ob morgen, ob vielleicht heute schon?!
Schon wieder ein Zug. War das ein Gefahre! Es gingen heute wieder große Truppentransporte an die Front. Es flog an den Weibern vorüber, donnernd, sausend, winkend, singend, juchzend; lauter brausendes Getöse. Und mitten im Brausen und Vorübersausen – war das nicht, war das nicht –?! Minka starrte und staunte: ihr Unteroffizier!
Da fuhr er hin. Er fuhr fort, konnte nicht kommen! War er's denn, war er's denn wirklich? Nein, er war's nicht! Doch, doch, er war's! Sie sprang in die Höhe, sie schrie gellend auf – er sah nach ihr hin – eine flüchtige Sekunde, ein Augenblitz, eine winkende Hand, ein wildes Begehren, ein lähmendes Bedauern …
»Zurück!«
Von entgegengesetzter Seite rast noch ein Zug heran. Sie sind alle auf die rettende Böschung gesprungen. Nur Minka nicht. Und Räder rasseln wieder, und rasseln weiter und begraben unter sich.
Tag und Nacht hörte auch Gertrud Hieselhahn die Transporte bei sich vorbeirasen. Ihr Ohr war schon geübt; sie konnte ganz genau unterscheiden, ob Menschen verladen waren oder nur lebloses Material. Es versetzte sie in eine krankhafte Unruhe, wenn sie wußte: Da werden wieder soundso viele hinausgefahren, um zu verbluten. Man hörte an der Arbeitsstätte zuviel erzählen von den Schrecknissen der Front – jede wußte etwas anderes, Fürchterliches – und hier im Lande, war es hier nicht auch fürchterlich? War es wohl eine Art, daß die einen sich eingeschleppt hatten wie die Hamster? Denen sollte man einmal die Nester ausräumen. Nun kamen sie auch noch und holten auf ihre Karten und bekamen genausoviel wie die, die gar nichts im Vorrat hatten. Eine schreiende Ungerechtigkeit!
Bei dem Lebensmittelverkauf der Gemeinde war es ein paarmal schon erregt zugegangen. Frau Richter, die für Gertrud das Wenige mitbrachte, erzählte zwar nichts, ihr war es schon zuviel, den Mund aufzumachen; aber sie warf am heutigen Abend Gertruds Lebensmittelkarte vor sie hin: »Da, Fräulein, holen Se sich's man jetzt alleene, ich bin müde und alt. Ich leg mer hin, ich mag nu nich mehr. Zum Verrecken zuviel, zum Leben zuwenig!«
Der Blöde jammerte: »'ne Stulle, Mutter, 'ne Stulle!«
Der kleine Knabe bettelte auch, er wollte gern etwas essen, und Gertrud selber empfand einen quälenden Hunger. Aber schlimmer als das Hungergefühl war die Schwäche, die sie beschlich. Die hatte sie schon seit Tagen empfunden, sich aber immer dagegen gewehrt: Nur nicht nachgeben! Sie hatte sich auch immer wieder zusammengerafft, die Augen, die ihr oftmals bei der geisttötenden Eintönigkeit ihrer Arbeit zuzufallen drohten, immer wieder aufgerissen, Verzagtheit und Mutlosigkeit immer wieder abgeschüttelt. Nun war dies zuviel. Dies einfache Hinwerfen der Karte, dieses gleichgültige: ›Ich mag nich mehr!‹ der Frau, löste verwandte Gefühle in ihr selber.
Sie brach in Tränen aus. Auch sie mochte nicht mehr. Wozu sich noch quälen? Von früh bis spät dieses Hungern und Frieren, dieses Darben an Leib und Seele – wozu, wozu? Wozu all der furchtbare Kampf?
Es gab ja doch keinen Sieg. Verloren, verloren! Sie hörte nicht das Lallen des armen Alten mehr, nicht das bittende Stimmchen ihres Kindes. Mit starren Augen sah sie ins Leere, während Träne auf Träne ihr in den Schoß tropfte.
In dieser Nacht raste ein furchtbarer Sturm. Es war, als empöre sich die ganze Natur, wolle den Himmel herab auf die Erde reißen. Wehe den Booten, die auf dem Meere waren! Den Luftschiffen, die nach England fuhren! Mit einer Art von wollüstigem Grimm hörte Gertrud das Toben. Wie die Ziegel vom Dach prasselten, wie es oben am Bahndamm in den Telegraphendrähten sauste! Es stöhnte, kreischte, pfiff, krachte, heulte, jammerte, alles, was nicht fest war, stürzte, Bäume entwurzelten – mochte die Welt untergehen, ihr sollte es recht sein! Dann brauchte sie nie mehr aufzustehen.
Und doch mußte Gertrud aufstehen; die Händchen ihres Kleinen, die ihr streichelnd übers Gesicht fuhren, weckten sie aus einem kurzen Morgenschlaf. Eben hatte sie von Frau Krüger geträumt, von seiner Mutter. Unwillig schüttelte sie den Traum ab. Das fehlte auch noch, wie kam sie denn auf die? Zwischen sie und ihn hatte die sich gedrängt, sie sollte sich nicht auch noch in ihren Traum drängen. Gertrud war böse auf sich selber: Warum kehrten ihre Gedanken doch immer wieder zu jener zurück? Die Krüger litt gewiß noch nicht Not. Gustav hatte ihr oft erzählt, was seine Mutter alles besaß in Garten und Keller. Und die würde sicher zu denen gehören, die sich vorgesorgt hatten. Da hätte der Kleine nicht zu weinen gebraucht vor Hunger. Aufgefordert hatte die Krüger sie ja – sie könnte jetzt ruhig hingehen – vielleicht würde die sich sogar freuen – der Junge war jetzt so lieb, so niedlich, und er sah Gustav so ähnlich. Aber nein!
Den Gedanken, der sie in ihrer Verzagtheit beschlichen hatte wie eine Versuchung, stieß Gertrud von sich. War sie schon so heruntergekommen, so gesunken durch ihre Armseligkeit? Durch die mangelhafte Ernährung so schwach geworden am Willen wie am Leib, daß sie auch nur einen Augenblick daran denken konnte, an jene Tür zu klopfen? Wie eine Bettlerin. Nein, sie war keine Bettlerin. Stolz richtete sie sich auf. Zu ihr müßte jene kommen, sie hundert-, tausendmal bitten, dann vielleicht. Aber auch dann nur ›vielleicht‹. Sie entzog sich den streichelnden Händen ihres Kindes, gebot ihm so streng, ruhig zu sein, daß sein Schmeicheln erschrocken verstummte.
In einem finsteren Brüten kleidete sie sich an. Als sie vorm Spiegel ihre Zöpfe aufsteckte, war sie betroffen über das eigene Aussehen. Als hätte sie keinen Tropfen Blut mehr in sich; und die Augen ganz glanzlos. Eier, Milch! Die täten ihr not. Aber es gab nur für die kleinen Kinder noch Milch. Es mußte eben so gehen. Sie biß sich auf die blutleeren Lippen. Wenn nur nicht immer die weite Entfernung zur Arbeitsstelle wäre! Es half nichts, sie würde wohl daran denken müssen, nächsten Monat hier zu kündigen, nach Berlin hineinzuziehen. Dann hatte sie wenigstens nicht die lange Fahrt. Was hielt sie denn auch hier? Eine Blutwelle schoß in das durchsichtige Blaß ihrer Haut: Erinnerungen? Ja, die waren mächtig. Sie fühlte ihr Herz sich zusammenkrampfen. All die heimlichen Wege, die sie an glücklichen Abenden gegangen war, würde sie dann nicht mehr gehen. Es war vielleicht gut so, gerade gut, dann war endlich Schluß gemacht. Daß sie so hier am Orte hing! Das hatte sie bis jetzt gar nicht gewußt.
Plötzlich schwach werdend, setzte sie sich nieder am Tisch und legte den Kopf auf die Arme; wieder wie gestern abend mußte sie weinen. Ach ja, lieber würde sie doch hier bleiben. Es war auch soviel besser für das Kind, das wuchs dann wenigstens in Luft und Sonne auf und nicht im Häusermeer. Wenn sie doch hier am Ort Beschäftigung finden könnte, die sie und den Kleinen ernährte! Daß auch hier keine Munitionsfabrik war! Sie hatte einmal mit der Dombrowski darüber gesprochen, die grauste sich davor. ›Puh, das war ja gefährlich, da konnte man ja sein Leben einbüßen!‹ Ihr machten deren Bedenken nichts aus: Munition – man wurde gut bezahlt, und man tat mit eigenen Kräften auch etwas dazu, daß der Krieg eher aufhörte. Dieser furchtbare Krieg!
Heut konnte Gertrud nicht nach der Stadt zur Arbeit fahren, mit erschrockenen Augen hatte sie in ihren leeren Schrank gesehen: Nicht ein Krümchen war mehr darin. Die Richter lag noch zu Bett: Die wollte also wirklich nicht mehr? So mußte sie selber zur Gemeinde gehen, sich etwas holen. Der Alte saß stumpfsinnig auf dem Stuhl vor seiner Tür, dahin schlorrte er von selber. Das böse Wetter hatte nachgelassen, eine noch schier warme Sonne war vorgekrochen, Gertrud ließ das Kind bei dem Alten zurück; sie würde ja bald wiederkommen.
Aber nun stand sie und stand. Vor ihr schon eine lange Reihe von Menschen, hinter ihr ebenso viele. Es gab heute Eier, Heringe, Grieß, allerlei, darum das Gedränge. Und doch war niemand zufrieden.
»Det bißchen! Dafor so lange stehn!« machte eine geringschätzig, die eben, ihr Körbchen gefüllt, sich zum Abgehen durchdrängte.
»Sind ooch wieder Maden in'n Jrieß?« fragte jemand.
»Na, denn ha'm wer ja ooch jleich Fleisch, bei die fleischlosen Zeiten«, sagte eine höhnische Stimme.
Es waren nur wenige, die darüber lachten; bloß ein paar Halbwüchsige fanden es witzig, stießen sich an und kicherten. In dumpfem Schweigen wartete die Menge.
Frau von Voigt war voll beschäftigt, sie teilte aus, gab auch hier und da ein freundliches Wort. Aber ihre Hände waren unruhig; der feste klare Blick ihrer Augen hatte heute etwas Unstetes. Es waren nur wenig Heringe da; und die Leute waren ganz wild danach. Wenn diese Tonne zu Ende war, gab es keine mehr. Man mußte ihnen etwas anderes zum Ersatz dafür verabfolgen. Aber was? Nichts anderes würde das für sie ausgleichen. Sie überlegte. Merkwürdig, daß sie heute ein so unsicheres Gefühl hatte!
Die Leute drängten gegen die trennende Schranke.
»Bitte, zurücktreten! Immer der Reihe nach!«
Aber da war kein Hören. Als ob sich das Gerücht schon verbreitet hätte, es sind nicht genug Heringe da, so drängte jetzt jeder nach vorn.
Gertrud wollte nicht drängen, aber sie mußte, ohne den eigenen Willen; von hinten wurde sie gestoßen, gedrückt, immer weiter vor, sie wurde gepreßt, daß ihr der Atem ausging, sie steckte mittendrin in einem Knäuel. Angstschweiß brach ihr aus. Wenn sie sich doch hätte setzen können, nur einen Augenblick! Es begann ihr schwindelig zu werden, die Köpfe vor ihr wurden zu erdrückenden Riesenhäuptern – heraus, wieder heraus! Sie wollte gern weg, zurücktreten, aber sie war eingekeilt in der furchtbaren Masse. Angstvoll riß sie die Augen auf. Da neigte sich ein Gesicht gegen sie, ein gütiges Gesicht – wo hatte sie das doch schon gesehen?!
»Ist Ihnen nicht wohl?«
»Platz, lassen Sie die hier doch mal raus – 'n Momang – die wird's ja schlecht!«
Der furchtbare Druck lockerte sich etwas, eine Gasse tat sich auf vor Gertrud. Luft, mehr Luft. Das fühlte sie noch.
Als sie wieder zu sich kam, saß sie auf einem Stuhl am geöffneten Fenster. Noch konnte sie nicht klar sehen, noch nicht recht denken, aber sie hörte wieder: »Hunger hat se!« Nun fühlte sie auf einmal das krampfige Hungergefühl, die entsetzliche Leere. Gestern abend nichts gegessen, heute morgen nichts gegessen. Es war nichts zu essen dagewesen. Ihre Lippen waren weiß wie Schnee. Ja, Hunger hatten sie alle. Ein dumpfes Murmeln erhob sich.
Die feinen Damen, die hatten's gut, die nahmen sich hier im geheimen, was sie brauchten: Eier, Grieß, Heringe und wer weiß was noch. Darum verkauften sie ja auch hier bloß. Die standen nicht stundenlang wie ein armes Weib, dem es auf den Nägeln brennt. »Und jetzt soll doch einer so viel Recht haben wie der andere – endlich mal!«
»Das hat er auch!« Die Augen der Generalin blitzten. »Wir nehmen uns nichts im geheimen. Das ist ja alles Unsinn, was ihr da redet. Wir haben's jetzt auch knapp. Aber wir sind vernünftig. Wir machen uns klar, daß es nicht anders sein kann. Unsere Braven draußen, sollen die hungern? Da hungere ich lieber. Für die muß zuerst gesorgt werden!«
Das Murren schwieg. Keine sagte mehr ein Wort. Aber Hermine von Voigt glaubte doch zu hören: Hunger, Hunger! Wie ein Schrei stieg es zum Himmel auf. Sollte die ganze Welt verhungern? Gab es denn nirgendwo einen Fleck Erde mehr, wo des Lebens Fülle floß?
Sie fühlte eine steigende Angst. Und auch sie hatte plötzlich im Magen ein seltsames Gefühl; ihr wurde ganz schwach. Die auf sie zueilenden Gesichter erschienen ihr mit einemmal drohend … ein gutes Tier, ein geduldiges Tier – aber wenn es nun nicht mehr will?!
»Heringe, wir wollen ooch Heringe! Die ersten haben welche jekriegt, wir wollen ooch welche!«
Heringe, Heringe – du lieber Gott! Es überkam Hermine von Voigt, daß sie hätte laut weinen mögen. Wer hatte sonst ein paar Heringe – armselige Fische – groß geachtet?! In ihrer Stimme bebte Mitleid: »Wenn ich sie euch geben könnte, ich gäbe sie euch ja so gern!«
»Quatsch!« Es klang grob. »Das können Sie jut sagen, Sie haben satt.«
Ans Fenster wurde gepocht. Draußen standen auch noch welche. Sie wollten herein. »Heringe, Heringe! Wir wollen Heringe!«
Unmündige Kinder, unerzogene Kinder! Sie schreien und toben, wenn man ihnen nicht den Willen tun kann. Die Generalin raffte sich auf; das war ja längst nicht so schlimm, wie es Lärm machte. Ihre Stimme klang hell: »Was fällt euch denn ein? Wenn's euch nicht ansteht, so schließen wir hier den Verkauf. Ich bitte jetzt den Raum zu verlassen. Ob wieder aufgemacht wird, das wird sich finden. Das hängt ganz allein von euch ab, wie ihr euch benehmt. Für heute ist Schluß.«
Einige fingen an zu bitten: »Ach, wir stehen doch schon so lange. Wir haben ja kein Wort gesagt.«
»Dann tretet heran. Eine nach der andern.«
Unter den ersten, die an die Schranke traten, war Gertrud Hieselhahn.
Es blieben nun noch eine ganze Menge: Was sollte man denn machen? Woanders war's auch nicht besser, stehen und warten mußte man überall. Und man zahlte hier wenigstens nicht so unverschämte Preise.
Als Gertrud die Ausweiskarte hinhielt, sah Frau von Voigt ihr teilnehmend in das blasse Gesicht: Das war ja die, die vorhin ohnmächtig geworden war. »Geht's Ihnen nun besser?«
Gertrud nickte: »Danke.« Sie war noch schwach, sie konnte kaum stehen, aber eine lebhafte Empfindung, die sie durchpulste, jagte ihr wieder das Blut wärmer durch den Körper. Es war doch zu blödsinnig von den Leuten, hier aufzubegehren! Sie taten sich selber den größten Tort an. Auch sie kam sich töricht und dumm vor: Hatte sie denn vor kurzem nicht ganz ähnlich gedacht? Beschämt senkte sie den Kopf: Was nützte es jetzt, aufzubegehren? Sie seufzte tief: »Stillhalten, das müssen wir!«
Frau von Voigt lächelte: Das war doch eine, die Einsicht hatte! Es tat ihr wohl. Und nun glaubte sie dies feine Gesicht, dessen ernste Züge so deutlich von Erschöpfung und Entbehrung redeten, wiederzuerkennen. »Haben wir uns nicht schon einmal gesprochen in der Eisenbahn?«
Gertrud wurde rot. Es stieg ihr plötzlich ein Gedanke zu Kopf; er machte sie schwindeln. Heiß wallte es ihr zum Herzen: Die, ja die hatte ihr damals so freundlich sich angeboten! Längst hätte sie einmal zu ihr hingehen können, sie war nicht gegangen. Aber wenn sie nun – nun –?! In einer hoffnungsvollen Aufwallung griff sie nach der Hand der Dame; sie fühlte den teilnahmsvollen Blick. Es ging wie Verständnis, wie Beruhigung, wie Trost von ihm aus.
Gertruds matte Augen erwiderten den Blick der Generalin, ihr müdes Herz schlug plötzlich belebter. So ging es nicht weiter; so ohne Vertrauen nicht. So feindselig, nur jeder für sich. Man mußte Vertrauen haben, der eine zum andern! Ihr war es, als könnte sie der Frau alles erzählen. Und als würde die ihr helfen.
Und sie selber kam nicht wie eine Bettlerin – oh nein, sie empfand es ganz klar jetzt: Die war nicht nur die vornehme Dame und sie die aus dem Volke, die war eine Frau, und sie war eine Frau, und sie mußten jetzt zusammengehen, sie beide. Es gab so viel Leid in diesen Tagen, wie konnte man es tragen? Nur wenn man es gemeinsam trug. Gemeinsame Sorge, gemeinsame Arbeit. Der Friede mußte erst drinnen kommen, dann kam er auch draußen.